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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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öybel über die Gründung des Reiches

Bestandteil des konstitutionellen Staatsrechtes. Wir leben jedoch nicht in
England und haben nicht nach allgemeinen Theorien, sondern nach bestimmten
Preußischen Gesetzen zu verfahren. Nach unsrer Verfassungsurkunde werden
sämtliche Einnahmen und Ausgaben auf deu Etat gebracht, der alljährlich
durch ein Etatsgesetz festgestellt wird. Wie jedes andre Gesetz, kommt auch
dieses durch übereinstimmende Genehmigung der Krone und der beiden Häuser
des Landtages zustande. Vor erfolgter Zustimmung dieser drei Faktoren hat
der Beschluß eines Hauses nur den Wert einer Meinungsäußerung, aber keine
bindende Kraft. Obgleich das Herrenhaus auf die Formirung des Etats
weniger Einfluß hat als die beiden andern Faktoren, ist doch sein schließliches
Votum über den Gesamtetat von gleichem Gewicht wie das des Abgeordneten¬
hauses. Denn nach ausdrücklicher Vorschrift der Verfassung haben die Mit¬
glieder beider Häuser gleichmäßig den Charakter von Vertretern des ganzen
Volkes. Kommt um das Etatsgesetz nicht rechtzeitig zustande, so läßt sich
nach strengem Rechte nicht annehmen, daß das vorjährige Gesetz sortgelte.
Es kann überhaupt im neuen Jahre gar keine Einnahme noch Ausgabe statt¬
finden, gleichviel ob die einzelnen Posten vom Abgeordnetenhaus angenommen
oder abgelehnt worden sind. Da aber der Staat ohne Ausgaben keinen Tag
leben kann, während er doch fortleben soll, so muß jemand die erforderlichen
Ausgaben leisten, und das kann nur die Negierung sein, ganz abgesehen von
der Verfassung, die ihr sür einen dringenden Notstand ein proviforisches Ber-
vrdnungsrecht beilegt. Ohne Zweifel sind alle Teile, also auch die Negierung
verpflichtet, das Mögliche zu rascher Beendigung des Notstandes, zu baldigster
Erlangung eines durch die drei Faktoren festgestellten Etatsgesetzes zu thun.
Die Regierung wird also für diesen Zweck während der budgetloseu Zwischen¬
zeit die früheren Beschlüsse des einen wie des andern Hauses möglichst be¬
achten, jedoch ohne ihnen eine bindende Kraft, die noch nicht vorhanden ist,
oder einen stärkern Anspruch auf Berücksichtigung als den Bedürfnissen der
Landeswohlfahrt zuzuerkennen." Das Urteil Sybel hierüber lautet: "Ver¬
gleicht man diese Sätze mit den betreffenden Vorschriften der Verfassung, so
wird man nicht behaupten können, daß hier eine Umdeutung der letztern, uach
der Art des Herrn von Westphalen unter Friedrich Wilhelm dem Vierten, statt¬
finde. Es ist im Gegenteil der positive Wortlaut des Gesetzes, der dem ent¬
gegengehalten wird, was wir andern damals den Geist des Gesetzes nannten.
!Eine lobenswerte Erinnerung an frühere Berirrung und Verblendung, die
uns der Verpflichtung überhebt, auf sie zurückzuweisen, und ein Bekenntnis,
das vielen von der damaligen Partei Sybels unmöglich erscheinen würde, weil
sie es für Pflicht und Ehre des Politikers halten, in der Doktrin, der er sich
einmal zugewandt hat, "unentwegt," d. h. befangen, halsstarrig zu verharren
und niemals, sei es durch innere Überlegung und Prüfung oder durch Er¬
fahrung von außen her eines Bessern belehrt, ehrlich anzuerkennen, daß


öybel über die Gründung des Reiches

Bestandteil des konstitutionellen Staatsrechtes. Wir leben jedoch nicht in
England und haben nicht nach allgemeinen Theorien, sondern nach bestimmten
Preußischen Gesetzen zu verfahren. Nach unsrer Verfassungsurkunde werden
sämtliche Einnahmen und Ausgaben auf deu Etat gebracht, der alljährlich
durch ein Etatsgesetz festgestellt wird. Wie jedes andre Gesetz, kommt auch
dieses durch übereinstimmende Genehmigung der Krone und der beiden Häuser
des Landtages zustande. Vor erfolgter Zustimmung dieser drei Faktoren hat
der Beschluß eines Hauses nur den Wert einer Meinungsäußerung, aber keine
bindende Kraft. Obgleich das Herrenhaus auf die Formirung des Etats
weniger Einfluß hat als die beiden andern Faktoren, ist doch sein schließliches
Votum über den Gesamtetat von gleichem Gewicht wie das des Abgeordneten¬
hauses. Denn nach ausdrücklicher Vorschrift der Verfassung haben die Mit¬
glieder beider Häuser gleichmäßig den Charakter von Vertretern des ganzen
Volkes. Kommt um das Etatsgesetz nicht rechtzeitig zustande, so läßt sich
nach strengem Rechte nicht annehmen, daß das vorjährige Gesetz sortgelte.
Es kann überhaupt im neuen Jahre gar keine Einnahme noch Ausgabe statt¬
finden, gleichviel ob die einzelnen Posten vom Abgeordnetenhaus angenommen
oder abgelehnt worden sind. Da aber der Staat ohne Ausgaben keinen Tag
leben kann, während er doch fortleben soll, so muß jemand die erforderlichen
Ausgaben leisten, und das kann nur die Negierung sein, ganz abgesehen von
der Verfassung, die ihr sür einen dringenden Notstand ein proviforisches Ber-
vrdnungsrecht beilegt. Ohne Zweifel sind alle Teile, also auch die Negierung
verpflichtet, das Mögliche zu rascher Beendigung des Notstandes, zu baldigster
Erlangung eines durch die drei Faktoren festgestellten Etatsgesetzes zu thun.
Die Regierung wird also für diesen Zweck während der budgetloseu Zwischen¬
zeit die früheren Beschlüsse des einen wie des andern Hauses möglichst be¬
achten, jedoch ohne ihnen eine bindende Kraft, die noch nicht vorhanden ist,
oder einen stärkern Anspruch auf Berücksichtigung als den Bedürfnissen der
Landeswohlfahrt zuzuerkennen." Das Urteil Sybel hierüber lautet: „Ver¬
gleicht man diese Sätze mit den betreffenden Vorschriften der Verfassung, so
wird man nicht behaupten können, daß hier eine Umdeutung der letztern, uach
der Art des Herrn von Westphalen unter Friedrich Wilhelm dem Vierten, statt¬
finde. Es ist im Gegenteil der positive Wortlaut des Gesetzes, der dem ent¬
gegengehalten wird, was wir andern damals den Geist des Gesetzes nannten.
!Eine lobenswerte Erinnerung an frühere Berirrung und Verblendung, die
uns der Verpflichtung überhebt, auf sie zurückzuweisen, und ein Bekenntnis,
das vielen von der damaligen Partei Sybels unmöglich erscheinen würde, weil
sie es für Pflicht und Ehre des Politikers halten, in der Doktrin, der er sich
einmal zugewandt hat, „unentwegt," d. h. befangen, halsstarrig zu verharren
und niemals, sei es durch innere Überlegung und Prüfung oder durch Er¬
fahrung von außen her eines Bessern belehrt, ehrlich anzuerkennen, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/279>, abgerufen am 03.07.2024.