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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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aus den Rheinlanden. Bei dieser Einwanderung Vollzug sich früher die An-
fchmieguug an die Sitten der neuen Nachbarn und ursprünglichen Stammes¬
genossen so rasch und so leicht, daß schon die zweite Geschlechtsfolge in Art
und Wesen, in Mundart und Gesinnung von den Dorfgenvssen nicht mehr zu
unterscheiden war, während einerseits die Nachkommen der unter Ludwig XIV.
und XV. ins Land gebrachten Kolonen aus der Freigrafschaft Burgund, aus
der Champagne, Auvergne, aus Bar und der Puardie durch Mundart und
Absonderung von den Nachbarn hente noch sich etwas auszeichnen, wie sich
der Lothringer und der "Messin" unterscheiden und mit einander nicht ver
wechselt werden wollen. Der Enkel eines eingewanderten Rheinfranken ähnelt
heute so gut einem Bitscher oder einem Saargemünder, als seinem mutter-
seitigcn Vetter, der seinen väterlichen Stammbaum auf das westliche und süd¬
liche Fraukreich zurückführt. Seit 1870 bewahrt aber der deutsche Ein¬
wanderer seine Nationalität fester. Der Lothringer besitzt von Haus aus keine
bedeutende nationale Widerstandsfähigkeit; es liegt ganz in den Händen der
deutschen Negierung, der Gefahr der Verwülschnng deutscher Einwanderer durch
die nachdrücklichste Handhabung der Bestimmungen über den deutschen Sprach¬
unterricht und die Unterrichtssprache in den Schulen, wie über die amtliche
und gerichtliche Geschäftssprache vorzubeugen. So glauben Nur denn mit
Bestimmtheit annehmen zu können, daß Lothringen zur Verdeutschung auf dem
Wege der Einwanderung weit eher bestimmt und geeignet sei, als Elsaß durch
Bekehrung der höhern Stände von einem nationalen Wahne oder der untern
Stände von der Gewöhnung, die Wanderpfade der Voreltern gegen Westen zu
verfolgen, gewonnen werden wird.

Nicht ohne Absicht haben Nur vielleicht etwas über Gebühr auf die ge¬
schichtliche Gestaltung der Vesitzverhältnisse in Lothringen zurückgegriffen. Wir
wollen darauf hinweisen, wie es seinerzeit dem französischen Königtum gelungen
ist, Lothringen und die Bistümer, die durch die französische Handels- und
Zollpolitik jeuer Zeit auf deu Verkehr mit Deutschland, Holland und die
Schweiz angewiesen waren, im ganzen durch den Nachdruck des Staatsge-
dnnkens, im einzelnen aber durch die Zuwendung von Lehen und durch die
-"esiedeluug des Lundes mit Einwanderern, durch die Eröffnung der Stifte,
Kapitel und Klöster für die Standesgenossen aus Frankreich für das nationale
Leben zu gewinnen. Frankreich hatte bei der Lösung dieser Aufgabe einen
großen Vorteil voraus, die Willkür des absoluten Regiments und alle
Machtmittel des Lehenrechtes. Diese Wege sind uns verschlossen; wir
wüssen aber doch untersuchen, ob es nicht möglich wäre, ohne die Grenzen
des Rechtsstaates zu verlassen in zeitgemäßer Weise für die deutsche Sache
Mtig zu sein.

Es ist vor einiger Zeit ans archivalischen Quellen in Wien ein Brief
veröffentlicht worden, den der ehemalige Kronprinz Ludwig von Baiern an


aus den Rheinlanden. Bei dieser Einwanderung Vollzug sich früher die An-
fchmieguug an die Sitten der neuen Nachbarn und ursprünglichen Stammes¬
genossen so rasch und so leicht, daß schon die zweite Geschlechtsfolge in Art
und Wesen, in Mundart und Gesinnung von den Dorfgenvssen nicht mehr zu
unterscheiden war, während einerseits die Nachkommen der unter Ludwig XIV.
und XV. ins Land gebrachten Kolonen aus der Freigrafschaft Burgund, aus
der Champagne, Auvergne, aus Bar und der Puardie durch Mundart und
Absonderung von den Nachbarn hente noch sich etwas auszeichnen, wie sich
der Lothringer und der „Messin" unterscheiden und mit einander nicht ver
wechselt werden wollen. Der Enkel eines eingewanderten Rheinfranken ähnelt
heute so gut einem Bitscher oder einem Saargemünder, als seinem mutter-
seitigcn Vetter, der seinen väterlichen Stammbaum auf das westliche und süd¬
liche Fraukreich zurückführt. Seit 1870 bewahrt aber der deutsche Ein¬
wanderer seine Nationalität fester. Der Lothringer besitzt von Haus aus keine
bedeutende nationale Widerstandsfähigkeit; es liegt ganz in den Händen der
deutschen Negierung, der Gefahr der Verwülschnng deutscher Einwanderer durch
die nachdrücklichste Handhabung der Bestimmungen über den deutschen Sprach¬
unterricht und die Unterrichtssprache in den Schulen, wie über die amtliche
und gerichtliche Geschäftssprache vorzubeugen. So glauben Nur denn mit
Bestimmtheit annehmen zu können, daß Lothringen zur Verdeutschung auf dem
Wege der Einwanderung weit eher bestimmt und geeignet sei, als Elsaß durch
Bekehrung der höhern Stände von einem nationalen Wahne oder der untern
Stände von der Gewöhnung, die Wanderpfade der Voreltern gegen Westen zu
verfolgen, gewonnen werden wird.

Nicht ohne Absicht haben Nur vielleicht etwas über Gebühr auf die ge¬
schichtliche Gestaltung der Vesitzverhältnisse in Lothringen zurückgegriffen. Wir
wollen darauf hinweisen, wie es seinerzeit dem französischen Königtum gelungen
ist, Lothringen und die Bistümer, die durch die französische Handels- und
Zollpolitik jeuer Zeit auf deu Verkehr mit Deutschland, Holland und die
Schweiz angewiesen waren, im ganzen durch den Nachdruck des Staatsge-
dnnkens, im einzelnen aber durch die Zuwendung von Lehen und durch die
-»esiedeluug des Lundes mit Einwanderern, durch die Eröffnung der Stifte,
Kapitel und Klöster für die Standesgenossen aus Frankreich für das nationale
Leben zu gewinnen. Frankreich hatte bei der Lösung dieser Aufgabe einen
großen Vorteil voraus, die Willkür des absoluten Regiments und alle
Machtmittel des Lehenrechtes. Diese Wege sind uns verschlossen; wir
wüssen aber doch untersuchen, ob es nicht möglich wäre, ohne die Grenzen
des Rechtsstaates zu verlassen in zeitgemäßer Weise für die deutsche Sache
Mtig zu sein.

Es ist vor einiger Zeit ans archivalischen Quellen in Wien ein Brief
veröffentlicht worden, den der ehemalige Kronprinz Ludwig von Baiern an


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[0223] aus den Rheinlanden. Bei dieser Einwanderung Vollzug sich früher die An- fchmieguug an die Sitten der neuen Nachbarn und ursprünglichen Stammes¬ genossen so rasch und so leicht, daß schon die zweite Geschlechtsfolge in Art und Wesen, in Mundart und Gesinnung von den Dorfgenvssen nicht mehr zu unterscheiden war, während einerseits die Nachkommen der unter Ludwig XIV. und XV. ins Land gebrachten Kolonen aus der Freigrafschaft Burgund, aus der Champagne, Auvergne, aus Bar und der Puardie durch Mundart und Absonderung von den Nachbarn hente noch sich etwas auszeichnen, wie sich der Lothringer und der „Messin" unterscheiden und mit einander nicht ver wechselt werden wollen. Der Enkel eines eingewanderten Rheinfranken ähnelt heute so gut einem Bitscher oder einem Saargemünder, als seinem mutter- seitigcn Vetter, der seinen väterlichen Stammbaum auf das westliche und süd¬ liche Fraukreich zurückführt. Seit 1870 bewahrt aber der deutsche Ein¬ wanderer seine Nationalität fester. Der Lothringer besitzt von Haus aus keine bedeutende nationale Widerstandsfähigkeit; es liegt ganz in den Händen der deutschen Negierung, der Gefahr der Verwülschnng deutscher Einwanderer durch die nachdrücklichste Handhabung der Bestimmungen über den deutschen Sprach¬ unterricht und die Unterrichtssprache in den Schulen, wie über die amtliche und gerichtliche Geschäftssprache vorzubeugen. So glauben Nur denn mit Bestimmtheit annehmen zu können, daß Lothringen zur Verdeutschung auf dem Wege der Einwanderung weit eher bestimmt und geeignet sei, als Elsaß durch Bekehrung der höhern Stände von einem nationalen Wahne oder der untern Stände von der Gewöhnung, die Wanderpfade der Voreltern gegen Westen zu verfolgen, gewonnen werden wird. Nicht ohne Absicht haben Nur vielleicht etwas über Gebühr auf die ge¬ schichtliche Gestaltung der Vesitzverhältnisse in Lothringen zurückgegriffen. Wir wollen darauf hinweisen, wie es seinerzeit dem französischen Königtum gelungen ist, Lothringen und die Bistümer, die durch die französische Handels- und Zollpolitik jeuer Zeit auf deu Verkehr mit Deutschland, Holland und die Schweiz angewiesen waren, im ganzen durch den Nachdruck des Staatsge- dnnkens, im einzelnen aber durch die Zuwendung von Lehen und durch die -»esiedeluug des Lundes mit Einwanderern, durch die Eröffnung der Stifte, Kapitel und Klöster für die Standesgenossen aus Frankreich für das nationale Leben zu gewinnen. Frankreich hatte bei der Lösung dieser Aufgabe einen großen Vorteil voraus, die Willkür des absoluten Regiments und alle Machtmittel des Lehenrechtes. Diese Wege sind uns verschlossen; wir wüssen aber doch untersuchen, ob es nicht möglich wäre, ohne die Grenzen des Rechtsstaates zu verlassen in zeitgemäßer Weise für die deutsche Sache Mtig zu sein. Es ist vor einiger Zeit ans archivalischen Quellen in Wien ein Brief veröffentlicht worden, den der ehemalige Kronprinz Ludwig von Baiern an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/223>, abgerufen am 23.07.2024.