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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

allen Umgang ab und weist selbst Alderson zurück, der von dein plötzlich ver¬
storbenen Arzte Lanyon nus der Hinterlassenschaft einen Brief erhalten hat
mit der auffallenden Weisung, ihn erst nach Jekylls Tode zu lesen. Unter
der Dienerschaft Jekylls herrscht eine heillose Angst. Seit einiger Zeit läßt
sich der Doktor nicht mehr vor ihr sehen und giebt seine Wünsche nur durch
Zettel bird, die er vor die Thür seines Zimmers legt. Eines Tages kommt
sein alter Diener zitternd zu Alderson und erzählt ihm, sein Herr sei verschwunden,
Hyde halte sich wieder in der Wohnung im verschlossenen Zimmer auf und habe
sicher den Doktor ermordet. Der Advokat will nach der Wohnung, begiebt sich
mit bewaffneten Dienern nach dem Zimmer und ruft Jekylls Namen. Alderson,
um Gottes willen, ruft eine Stimme von innen, um Gottes willen, hab Erbarmen!

Ha! schreit der Advokat, das ist nicht Jekylls Stimme, das ist Hyde!
schlagt die Thür ein!

Unter wuchtigen Axthieben weicht die Thür. Ein grauenerregendes, tier¬
ähnliches Angstgeschrei dringt aus der Stube -- Hyde liegt tot am Boden,
in der Hand eine Giftslasche haltend. Wo ist Jekyll? Sie suchen das ganze
Haus durch -- der Doktor ist nirgends zu finden. Welch ein entsetzliches
Verbrechen liegt hier vor? Alderson nimmt die versiegelten Schriftstücke des
Doktors an sich und liest jetzt Lcmyvns Brief. Lanyon teilt ihm die haar¬
sträubende Geschichte mit, daß sich eiues Tages vor seinen Augen die Gestalt
des Hyde, nachdem dieser ein eigentümliches Gemisch getrunken, in Doktor Jekyll
verwandelt habe. Alderson reißt Jekylls Dokumente auf und findet darin ein
Testament, worin er als Erbe eingesetzt wird, 'und außerdem einen vollständigen
Bericht Jekylls über seine unheimlichen Verwandlungen und sein mystisches
Doppelleben.

Der Eindruck, den der Roman beim Leser hinterläßt, ist grausig. Man
möchte mit Goethe ausrufen:


Nichts Schrecklichers kann dem Menschen geschehen,
Als das Absurde verkörpert zu seyen -

wenn der absurden Erzählung nicht eine rein menschliche Erscheinung zu Grunde
läge: der Kampf nämlich zwischen dem guten und bösen Prinzip und der
hieraus folgende Dualismus im Seelenleben des Menschen. Jekyll ist ein
Mensch, in dem sich die Doppelnatur schärfer und tiefer getrennt hat als in
andern. "Mit jedem Tage -- fagt er in seinen hinterlassenen Papieren --, sowohl
vom Standpunkt der Moral als der Vernunft, näherte ich mich der unum¬
stößlichen Wahrheit, die ich leider nur halb entdeckte und die mich zu Grunde
gerichtet hat, daß der Mensch nicht aus einem, sondern in Wirklichkeit aus
zwei Wesen besteht. Der Gedanke, diese beiden Elemente ganz von einander
zu trennen, bemächtigte sich meiner mit unwiderstehlicher Macht; es war ein
herrlicher Traum, ein solches Wunder zu vollbringen. Ich sagte mir, daß,
wenn es nur möglich sei, jedes in eine besondre Persönlichkeit zu zwängen,


Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

allen Umgang ab und weist selbst Alderson zurück, der von dein plötzlich ver¬
storbenen Arzte Lanyon nus der Hinterlassenschaft einen Brief erhalten hat
mit der auffallenden Weisung, ihn erst nach Jekylls Tode zu lesen. Unter
der Dienerschaft Jekylls herrscht eine heillose Angst. Seit einiger Zeit läßt
sich der Doktor nicht mehr vor ihr sehen und giebt seine Wünsche nur durch
Zettel bird, die er vor die Thür seines Zimmers legt. Eines Tages kommt
sein alter Diener zitternd zu Alderson und erzählt ihm, sein Herr sei verschwunden,
Hyde halte sich wieder in der Wohnung im verschlossenen Zimmer auf und habe
sicher den Doktor ermordet. Der Advokat will nach der Wohnung, begiebt sich
mit bewaffneten Dienern nach dem Zimmer und ruft Jekylls Namen. Alderson,
um Gottes willen, ruft eine Stimme von innen, um Gottes willen, hab Erbarmen!

Ha! schreit der Advokat, das ist nicht Jekylls Stimme, das ist Hyde!
schlagt die Thür ein!

Unter wuchtigen Axthieben weicht die Thür. Ein grauenerregendes, tier¬
ähnliches Angstgeschrei dringt aus der Stube — Hyde liegt tot am Boden,
in der Hand eine Giftslasche haltend. Wo ist Jekyll? Sie suchen das ganze
Haus durch — der Doktor ist nirgends zu finden. Welch ein entsetzliches
Verbrechen liegt hier vor? Alderson nimmt die versiegelten Schriftstücke des
Doktors an sich und liest jetzt Lcmyvns Brief. Lanyon teilt ihm die haar¬
sträubende Geschichte mit, daß sich eiues Tages vor seinen Augen die Gestalt
des Hyde, nachdem dieser ein eigentümliches Gemisch getrunken, in Doktor Jekyll
verwandelt habe. Alderson reißt Jekylls Dokumente auf und findet darin ein
Testament, worin er als Erbe eingesetzt wird, 'und außerdem einen vollständigen
Bericht Jekylls über seine unheimlichen Verwandlungen und sein mystisches
Doppelleben.

Der Eindruck, den der Roman beim Leser hinterläßt, ist grausig. Man
möchte mit Goethe ausrufen:


Nichts Schrecklichers kann dem Menschen geschehen,
Als das Absurde verkörpert zu seyen -

wenn der absurden Erzählung nicht eine rein menschliche Erscheinung zu Grunde
läge: der Kampf nämlich zwischen dem guten und bösen Prinzip und der
hieraus folgende Dualismus im Seelenleben des Menschen. Jekyll ist ein
Mensch, in dem sich die Doppelnatur schärfer und tiefer getrennt hat als in
andern. „Mit jedem Tage — fagt er in seinen hinterlassenen Papieren —, sowohl
vom Standpunkt der Moral als der Vernunft, näherte ich mich der unum¬
stößlichen Wahrheit, die ich leider nur halb entdeckte und die mich zu Grunde
gerichtet hat, daß der Mensch nicht aus einem, sondern in Wirklichkeit aus
zwei Wesen besteht. Der Gedanke, diese beiden Elemente ganz von einander
zu trennen, bemächtigte sich meiner mit unwiderstehlicher Macht; es war ein
herrlicher Traum, ein solches Wunder zu vollbringen. Ich sagte mir, daß,
wenn es nur möglich sei, jedes in eine besondre Persönlichkeit zu zwängen,


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[0196] Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart allen Umgang ab und weist selbst Alderson zurück, der von dein plötzlich ver¬ storbenen Arzte Lanyon nus der Hinterlassenschaft einen Brief erhalten hat mit der auffallenden Weisung, ihn erst nach Jekylls Tode zu lesen. Unter der Dienerschaft Jekylls herrscht eine heillose Angst. Seit einiger Zeit läßt sich der Doktor nicht mehr vor ihr sehen und giebt seine Wünsche nur durch Zettel bird, die er vor die Thür seines Zimmers legt. Eines Tages kommt sein alter Diener zitternd zu Alderson und erzählt ihm, sein Herr sei verschwunden, Hyde halte sich wieder in der Wohnung im verschlossenen Zimmer auf und habe sicher den Doktor ermordet. Der Advokat will nach der Wohnung, begiebt sich mit bewaffneten Dienern nach dem Zimmer und ruft Jekylls Namen. Alderson, um Gottes willen, ruft eine Stimme von innen, um Gottes willen, hab Erbarmen! Ha! schreit der Advokat, das ist nicht Jekylls Stimme, das ist Hyde! schlagt die Thür ein! Unter wuchtigen Axthieben weicht die Thür. Ein grauenerregendes, tier¬ ähnliches Angstgeschrei dringt aus der Stube — Hyde liegt tot am Boden, in der Hand eine Giftslasche haltend. Wo ist Jekyll? Sie suchen das ganze Haus durch — der Doktor ist nirgends zu finden. Welch ein entsetzliches Verbrechen liegt hier vor? Alderson nimmt die versiegelten Schriftstücke des Doktors an sich und liest jetzt Lcmyvns Brief. Lanyon teilt ihm die haar¬ sträubende Geschichte mit, daß sich eiues Tages vor seinen Augen die Gestalt des Hyde, nachdem dieser ein eigentümliches Gemisch getrunken, in Doktor Jekyll verwandelt habe. Alderson reißt Jekylls Dokumente auf und findet darin ein Testament, worin er als Erbe eingesetzt wird, 'und außerdem einen vollständigen Bericht Jekylls über seine unheimlichen Verwandlungen und sein mystisches Doppelleben. Der Eindruck, den der Roman beim Leser hinterläßt, ist grausig. Man möchte mit Goethe ausrufen: Nichts Schrecklichers kann dem Menschen geschehen, Als das Absurde verkörpert zu seyen - wenn der absurden Erzählung nicht eine rein menschliche Erscheinung zu Grunde läge: der Kampf nämlich zwischen dem guten und bösen Prinzip und der hieraus folgende Dualismus im Seelenleben des Menschen. Jekyll ist ein Mensch, in dem sich die Doppelnatur schärfer und tiefer getrennt hat als in andern. „Mit jedem Tage — fagt er in seinen hinterlassenen Papieren —, sowohl vom Standpunkt der Moral als der Vernunft, näherte ich mich der unum¬ stößlichen Wahrheit, die ich leider nur halb entdeckte und die mich zu Grunde gerichtet hat, daß der Mensch nicht aus einem, sondern in Wirklichkeit aus zwei Wesen besteht. Der Gedanke, diese beiden Elemente ganz von einander zu trennen, bemächtigte sich meiner mit unwiderstehlicher Macht; es war ein herrlicher Traum, ein solches Wunder zu vollbringen. Ich sagte mir, daß, wenn es nur möglich sei, jedes in eine besondre Persönlichkeit zu zwängen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/196>, abgerufen am 23.07.2024.