Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.Das Nationalgefiihl durch andres mehr. Wir leben mitten in einem Chaos politischer Gedanken¬ Doch fort von der Gegenwart, damit wir nicht als "national" erkannt Es war das Endergebnis einer längern Vorentwickluug, daß sich in dein Hrenzboten I S
Das Nationalgefiihl durch andres mehr. Wir leben mitten in einem Chaos politischer Gedanken¬ Doch fort von der Gegenwart, damit wir nicht als „national" erkannt Es war das Endergebnis einer längern Vorentwickluug, daß sich in dein Hrenzboten I S
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0017" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206662"/> <fw type="header" place="top"> Das Nationalgefiihl</fw><lb/> <p xml:id="ID_18" prev="#ID_17"> durch andres mehr. Wir leben mitten in einem Chaos politischer Gedanken¬<lb/> strömungen — das Chaos dabei nur auf die letztern selbst bezogen und noch<lb/> ganz abgesehen von dem blinden Zeituugsglauben. der Wahlmacherei und der<lb/> sich bei so breiten, geschlossenen Schichten der Bevölkerung offenbarenden trost¬<lb/> losen politischen Unselbständigkeit. Überall aber in dem Gewirr sind die Ge¬<lb/> nossen einer weitgedehnten, zunächst nur innerlich zusammenhängenden Partei<lb/> verteilt, deren gemeinsames Band weltbürgerliche, internationale Tendenzen und<lb/> die unbequeme Empfindung der nationalen Grenzen sind. Das wird zum Teil<lb/> gewiß verursacht durch edlere Anschauungen und Regungen, z. B. durch bestimmte<lb/> Auffassung über Glaubenspflicht, dnrch Bildungsart, Richtung der geistigen<lb/> oder künstlerischen Interessen, Ehrfurcht vor dem vielberufenen reinen Menschen¬<lb/> tum, zum Teil aber auch dnrch minder ehrende Gründe und Hinneigungen.<lb/> Wird der Kampf beider Weltanschauungen einmal deutlicher und weniger ver-'<lb/> hüllt entbrennen, so kaun darin aus unsern modernen Rechtsanschauungen von<lb/> dem gleichen Werte jeder einzelnen Ansicht heraus an sich kein Unrecht gefunden<lb/> werden. Er wird vielmehr das Gute bringen, daß die unermüdlich nagende<lb/> Maulwurfsarbeit, die gerade unter den Gebildeten und namentlich bei dein<lb/> „gelehrten" Stande die beiden Begriffe „Vaterland" und „national" mißlich<lb/> gemacht und durch Hohn verleidet hat, sodaß man sich dort im gewöhnlichen<lb/> Leben scheut, sie laut auszusprechen, endlich einmal aufhören wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_19"> Doch fort von der Gegenwart, damit wir nicht als „national" erkannt<lb/> werden. Die folgenden Zeilen wollen nur erweisen, daß schon einmal in der<lb/> deutschen Geschichte das Nationalgefühl das unfähige Weltbürgertum überwunden<lb/> hat, ja daß die damalige» kosmopolitischen Anschauungen, denen freilich ein<lb/> gewisser Zusatz der heutigen noch nicht beigemischt war, selber in Stoff und<lb/> Gedanken mit zur Ausbildung des erstern, des nationalen Sinnes der Deutschen<lb/> beigetragen haben, und daß dieser den Fortschritt bedeutet.</p><lb/> <p xml:id="ID_20" next="#ID_21"> Es war das Endergebnis einer längern Vorentwickluug, daß sich in dein<lb/> weitaus größten Teile Europas und mit am meisten gerade in Deutschland<lb/> vns staatliche Leben des achtzehnten Jahrhunderts ohne die Einwirkung<lb/> >rgend einer öffentlichen Meinung vollzog, und daß sich dieser Zustand noch oder<lb/> vielmehr gerade in seiner schärfsten Ausprägung der Zustimmung beider Teile<lb/> erfreute. Der zentralisirte Staat seinerseits hatte keinen Platz für unberufene<lb/> Gedanken, für die Meinung dessen übrig, der nicht in der Verwaltungsstaffel<lb/> stand, und anderseits dachte aus der Menge der Staatsangehörigen, der Unter¬<lb/> thanen, niemand eigentlich daran, eine solche Meinung geltend zu machen.<lb/> Die Wenigen, die sich irgendwie um das Vorhandensein des Staates be¬<lb/> kümmerten, betrachteten ihn als getreue Jünger dieses physiokratischen Zeitalters<lb/> unter dem Gesichtspunkt eines unvermeidlichen Übels, nur dazu gut, dem Ein¬<lb/> zelnen den erforderlichen Schutz für Person und Habe zu verleihen und ihn<lb/> "n übrigen so wenig als möglich zu verpflichten. Der einzige Deutsche, von</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Hrenzboten I S</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0017]
Das Nationalgefiihl
durch andres mehr. Wir leben mitten in einem Chaos politischer Gedanken¬
strömungen — das Chaos dabei nur auf die letztern selbst bezogen und noch
ganz abgesehen von dem blinden Zeituugsglauben. der Wahlmacherei und der
sich bei so breiten, geschlossenen Schichten der Bevölkerung offenbarenden trost¬
losen politischen Unselbständigkeit. Überall aber in dem Gewirr sind die Ge¬
nossen einer weitgedehnten, zunächst nur innerlich zusammenhängenden Partei
verteilt, deren gemeinsames Band weltbürgerliche, internationale Tendenzen und
die unbequeme Empfindung der nationalen Grenzen sind. Das wird zum Teil
gewiß verursacht durch edlere Anschauungen und Regungen, z. B. durch bestimmte
Auffassung über Glaubenspflicht, dnrch Bildungsart, Richtung der geistigen
oder künstlerischen Interessen, Ehrfurcht vor dem vielberufenen reinen Menschen¬
tum, zum Teil aber auch dnrch minder ehrende Gründe und Hinneigungen.
Wird der Kampf beider Weltanschauungen einmal deutlicher und weniger ver-'
hüllt entbrennen, so kaun darin aus unsern modernen Rechtsanschauungen von
dem gleichen Werte jeder einzelnen Ansicht heraus an sich kein Unrecht gefunden
werden. Er wird vielmehr das Gute bringen, daß die unermüdlich nagende
Maulwurfsarbeit, die gerade unter den Gebildeten und namentlich bei dein
„gelehrten" Stande die beiden Begriffe „Vaterland" und „national" mißlich
gemacht und durch Hohn verleidet hat, sodaß man sich dort im gewöhnlichen
Leben scheut, sie laut auszusprechen, endlich einmal aufhören wird.
Doch fort von der Gegenwart, damit wir nicht als „national" erkannt
werden. Die folgenden Zeilen wollen nur erweisen, daß schon einmal in der
deutschen Geschichte das Nationalgefühl das unfähige Weltbürgertum überwunden
hat, ja daß die damalige» kosmopolitischen Anschauungen, denen freilich ein
gewisser Zusatz der heutigen noch nicht beigemischt war, selber in Stoff und
Gedanken mit zur Ausbildung des erstern, des nationalen Sinnes der Deutschen
beigetragen haben, und daß dieser den Fortschritt bedeutet.
Es war das Endergebnis einer längern Vorentwickluug, daß sich in dein
weitaus größten Teile Europas und mit am meisten gerade in Deutschland
vns staatliche Leben des achtzehnten Jahrhunderts ohne die Einwirkung
>rgend einer öffentlichen Meinung vollzog, und daß sich dieser Zustand noch oder
vielmehr gerade in seiner schärfsten Ausprägung der Zustimmung beider Teile
erfreute. Der zentralisirte Staat seinerseits hatte keinen Platz für unberufene
Gedanken, für die Meinung dessen übrig, der nicht in der Verwaltungsstaffel
stand, und anderseits dachte aus der Menge der Staatsangehörigen, der Unter¬
thanen, niemand eigentlich daran, eine solche Meinung geltend zu machen.
Die Wenigen, die sich irgendwie um das Vorhandensein des Staates be¬
kümmerten, betrachteten ihn als getreue Jünger dieses physiokratischen Zeitalters
unter dem Gesichtspunkt eines unvermeidlichen Übels, nur dazu gut, dem Ein¬
zelnen den erforderlichen Schutz für Person und Habe zu verleihen und ihn
"n übrigen so wenig als möglich zu verpflichten. Der einzige Deutsche, von
Hrenzboten I S
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