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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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der Kartellmehrhcit, der Verbindung der staatserhaltenden liberalen und konser¬
vativen Parteigruppen, auf Zusammengehen mit der Regierung fortwährend
gebessert haben. Der Kaiser hat sich zuerst in Breslau offen und unbedingt
für die im Kartell vereinigten Parteien ausgesprochen nud noch in der letzten
Zeit des zu Ende gegangnen Jahres einem hervorragenden Führer des gemäßigt
liberalen Flügels in Frankfurt erklärt, er erkenne in ihm "seinen Mann."
Anderseits drang in deu letzten Monaten die Überzeugung, daß die reichs- und
staatstreuen Parteien sich den Luxus, sich wegen Fragen, die vorläufig Neben¬
sachen sind, zu bekämpfen und zu schwächen, nicht weiter gestatten dürfen, auch
in den Kreisen des Volkes immer mehr durch, und man vernahm seltener als
noch vor kurzem von einzelnen Verstößen gegen diesen Grundsatz, der nur von
einer verhältnismäßig kleinen Schar Unbelehrbarer noch lebhaft bestritten wird.
Das Kartell ist auf dem besten Wege, im neuen Jahre noch klarer nud all¬
gemeiner als im alten als die Form begriffen zu werden, in die der allein
fruchtbare, für die Zukunft Deutschlands einzig maßgebende Gedanke und Vorsatz,
praktische und nutzbringende Politik zu treiben, gegossen ist. Er wird zunächst
die bevorstehenden Wahlen für die neue Periode des Reichstags beeinflussen
und uns ein Parlament geben, worin der Regierung in allen Hauptfragen für
ihre Reformen ans Jahre die Mehrheit gesichert bleibt, wie im letzten Jahre,
wo der Reichstag diese Thatsache in hocherfreulicher Weise ausprägte. Der
Reichstag hat bis zu seinem Schlüsse am 24. Mui in etwa sechsmonatlicher
Dauer deu achtzehn Gesetzentwürfen, die ihm von der Regierung vorgelegt
wurden, mit eiuer einzigen Ausnahme seine Zustimmung erteilt, darunter dem
über die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter, hinsichtlich dessen der
Staatssekretär von Vötticher im Namen des Kaisers ihm die Anerkennung
aussprach, er habe unter lebhafter und opferfreudiger Teilnahme seiner Mit¬
glieder ein Gesetzgebungswerk gefördert, das, so eifrig auch um seine Gestaltung
gestritten worden sei, doch in seinem auf die Verbesserung der Lage der arbei¬
tenden Klassen gerichteten Ziele die Zustimmung der Vertreter der Nation
in seltenem Grade gefunden habe, und diese Zustimmung biete Gewähr dafür,
daß die noch uugehobueu Bedenken gegen einzelne Bestinuuungen des Gesetzes
bei der Durchführung zurücktreten und daß alle hieran beteiligten Volkskreise
gern und verständnisvoll dazu mitwirken würden, den angestrebten Erfolg in
möglichst weitem Umfange zu erreichen. Es war eins der größten Ereignisse
des verflossenen Jahres, diese Krönung des von Fürst Vismarck entworfenen
Gebäudes, das selbst Windthorst als eine Schöpfung bezeichnete, die bisher
ohne Beispiel in der Welt dastehe, und von dessen Abschlüsse Bennigsen äußerte:
"Ich stehe nicht an, zu erklären, daß wir seit der deutschen Verfassung mit
einem so wichtigen und verantwortlichen Gesetze noch nicht wieder befaßt worden
sind. Ich behaupte, es giebt in der ganzen europäischen Gesetzgebung kaum
einen Akt von so tiefgreifender Bedeutung, wie dieses Gesetz. Bundesregierungen


der Kartellmehrhcit, der Verbindung der staatserhaltenden liberalen und konser¬
vativen Parteigruppen, auf Zusammengehen mit der Regierung fortwährend
gebessert haben. Der Kaiser hat sich zuerst in Breslau offen und unbedingt
für die im Kartell vereinigten Parteien ausgesprochen nud noch in der letzten
Zeit des zu Ende gegangnen Jahres einem hervorragenden Führer des gemäßigt
liberalen Flügels in Frankfurt erklärt, er erkenne in ihm „seinen Mann."
Anderseits drang in deu letzten Monaten die Überzeugung, daß die reichs- und
staatstreuen Parteien sich den Luxus, sich wegen Fragen, die vorläufig Neben¬
sachen sind, zu bekämpfen und zu schwächen, nicht weiter gestatten dürfen, auch
in den Kreisen des Volkes immer mehr durch, und man vernahm seltener als
noch vor kurzem von einzelnen Verstößen gegen diesen Grundsatz, der nur von
einer verhältnismäßig kleinen Schar Unbelehrbarer noch lebhaft bestritten wird.
Das Kartell ist auf dem besten Wege, im neuen Jahre noch klarer nud all¬
gemeiner als im alten als die Form begriffen zu werden, in die der allein
fruchtbare, für die Zukunft Deutschlands einzig maßgebende Gedanke und Vorsatz,
praktische und nutzbringende Politik zu treiben, gegossen ist. Er wird zunächst
die bevorstehenden Wahlen für die neue Periode des Reichstags beeinflussen
und uns ein Parlament geben, worin der Regierung in allen Hauptfragen für
ihre Reformen ans Jahre die Mehrheit gesichert bleibt, wie im letzten Jahre,
wo der Reichstag diese Thatsache in hocherfreulicher Weise ausprägte. Der
Reichstag hat bis zu seinem Schlüsse am 24. Mui in etwa sechsmonatlicher
Dauer deu achtzehn Gesetzentwürfen, die ihm von der Regierung vorgelegt
wurden, mit eiuer einzigen Ausnahme seine Zustimmung erteilt, darunter dem
über die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter, hinsichtlich dessen der
Staatssekretär von Vötticher im Namen des Kaisers ihm die Anerkennung
aussprach, er habe unter lebhafter und opferfreudiger Teilnahme seiner Mit¬
glieder ein Gesetzgebungswerk gefördert, das, so eifrig auch um seine Gestaltung
gestritten worden sei, doch in seinem auf die Verbesserung der Lage der arbei¬
tenden Klassen gerichteten Ziele die Zustimmung der Vertreter der Nation
in seltenem Grade gefunden habe, und diese Zustimmung biete Gewähr dafür,
daß die noch uugehobueu Bedenken gegen einzelne Bestinuuungen des Gesetzes
bei der Durchführung zurücktreten und daß alle hieran beteiligten Volkskreise
gern und verständnisvoll dazu mitwirken würden, den angestrebten Erfolg in
möglichst weitem Umfange zu erreichen. Es war eins der größten Ereignisse
des verflossenen Jahres, diese Krönung des von Fürst Vismarck entworfenen
Gebäudes, das selbst Windthorst als eine Schöpfung bezeichnete, die bisher
ohne Beispiel in der Welt dastehe, und von dessen Abschlüsse Bennigsen äußerte:
„Ich stehe nicht an, zu erklären, daß wir seit der deutschen Verfassung mit
einem so wichtigen und verantwortlichen Gesetze noch nicht wieder befaßt worden
sind. Ich behaupte, es giebt in der ganzen europäischen Gesetzgebung kaum
einen Akt von so tiefgreifender Bedeutung, wie dieses Gesetz. Bundesregierungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/12>, abgerufen am 23.07.2024.