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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Plötzlich wurde alles still. Wie tausend dunkle Punkte sanken die Lerchen
blitzschnell durch die Luft und verschwanden in den Feldern. Die Elstern
hüpften vorsichtig ans die innersten Zweige und streckten die Hälse vor, indem
sie die Köpfe drehten. Drei Hühner aus dem Dorfe, die sich verirrt hatte",
liefen eilig über den Weg und setzten sich dicht neben einander auf einen
Düngerhaufen, ja selbst die dummen Krähen drückten sich reihenweise in die
Furchen des Brachfeldes und schielten ängstlich mit dem einen Auge in die
Höhe. ^

Über das Dorf hinweg segelte ein Geier. An den breiten Schwingen hoch
oben hängend, schwebte er ruhig und langsam durch die Luft mit einem
zögernden Spähen, das seinen frühstückshnngrigeu Blick ahnen ließ. In vier
großen Kreisen schwang er sich dem Walde zu. Endlich breitete er die Flügel
zu ein paar kurzen, kräftigen schlugen aus und verschwand über den Wipfeln.

Aus dem Grase erklang ein leises Zwitschern, dann das heisere Krächzen
einer Krähe, und bald erfüllte wieder ein vielstimmiger Jnbelchor die
ganze Luft.

Die Szene war vom Saume des Waldes her vou einer seltsamen Gestalt
beobachtet worden, die dort, halb wie ein Nachtwandler, halb wie eine Leiche,
stand, die Hand auf einen Zaun gestützt, einen Shawl über .Kopf und Schultern
geworfen, den leeren Blick zum Himmel gerichtet, dorthin, wo eben der Geier
seine Kreise gezogen hatte.

Es war Martha.

Langsam, Schritt für Schritt, als wollte sie sich selber nicht aus ihrem
innern Schlummer wecken, schlich sie sich den Wald entlang zwischen der Hecke
und der Wiese hin bis an den Puukt, wo sich diese in die Kluft hineinschob.
Von Zeit zu Zeit sah sie mit scheuen, hastigem Blick um sich und ver¬
schwand dann durch dieselbe Thür, die sie am Abend unverriegelt ge¬
lassen hatte.

Als sie ins Zimmer gekommen war, ließ sie den Shawl fallen und sah
sich wie verwundert um. Dann öffnete sie hastig das Fenster und schöpfte
tief Atem. Zwischen den Rändern der Schlucht ruhte das tauschimmernde
Küstenland in rosenrotem Schimmer vor ihren Augen. Gleich einem flim¬
mernden Flor lagen die Spinnengewebe über der Wiese. Und draußen, hinter
dem Meere, ging die Souue auf.

Groß, königlich, in ruhiger Majestät stieg der mächtige Feuerball über dem
wolkenlosen Rande des Himmels empor, sein goldiges Licht über das ganze,
flache Land verbreitend, das jetzt nach und nach erwachte. Aus den kleinen,
längs des Moores gelegenen Hütten stiegen schon dünne, blaue Rauchsäule"
in die stille Luft auf. Hier öffnete sich eine Thür, dort blinkte eine Sense in
der Sonne. Und draußen auf den Kleefeldern begannen sich die Kühe be¬
merkbar zu machen, sobald sich das erste, Milchmädchen, munter singend und


Plötzlich wurde alles still. Wie tausend dunkle Punkte sanken die Lerchen
blitzschnell durch die Luft und verschwanden in den Feldern. Die Elstern
hüpften vorsichtig ans die innersten Zweige und streckten die Hälse vor, indem
sie die Köpfe drehten. Drei Hühner aus dem Dorfe, die sich verirrt hatte»,
liefen eilig über den Weg und setzten sich dicht neben einander auf einen
Düngerhaufen, ja selbst die dummen Krähen drückten sich reihenweise in die
Furchen des Brachfeldes und schielten ängstlich mit dem einen Auge in die
Höhe. ^

Über das Dorf hinweg segelte ein Geier. An den breiten Schwingen hoch
oben hängend, schwebte er ruhig und langsam durch die Luft mit einem
zögernden Spähen, das seinen frühstückshnngrigeu Blick ahnen ließ. In vier
großen Kreisen schwang er sich dem Walde zu. Endlich breitete er die Flügel
zu ein paar kurzen, kräftigen schlugen aus und verschwand über den Wipfeln.

Aus dem Grase erklang ein leises Zwitschern, dann das heisere Krächzen
einer Krähe, und bald erfüllte wieder ein vielstimmiger Jnbelchor die
ganze Luft.

Die Szene war vom Saume des Waldes her vou einer seltsamen Gestalt
beobachtet worden, die dort, halb wie ein Nachtwandler, halb wie eine Leiche,
stand, die Hand auf einen Zaun gestützt, einen Shawl über .Kopf und Schultern
geworfen, den leeren Blick zum Himmel gerichtet, dorthin, wo eben der Geier
seine Kreise gezogen hatte.

Es war Martha.

Langsam, Schritt für Schritt, als wollte sie sich selber nicht aus ihrem
innern Schlummer wecken, schlich sie sich den Wald entlang zwischen der Hecke
und der Wiese hin bis an den Puukt, wo sich diese in die Kluft hineinschob.
Von Zeit zu Zeit sah sie mit scheuen, hastigem Blick um sich und ver¬
schwand dann durch dieselbe Thür, die sie am Abend unverriegelt ge¬
lassen hatte.

Als sie ins Zimmer gekommen war, ließ sie den Shawl fallen und sah
sich wie verwundert um. Dann öffnete sie hastig das Fenster und schöpfte
tief Atem. Zwischen den Rändern der Schlucht ruhte das tauschimmernde
Küstenland in rosenrotem Schimmer vor ihren Augen. Gleich einem flim¬
mernden Flor lagen die Spinnengewebe über der Wiese. Und draußen, hinter
dem Meere, ging die Souue auf.

Groß, königlich, in ruhiger Majestät stieg der mächtige Feuerball über dem
wolkenlosen Rande des Himmels empor, sein goldiges Licht über das ganze,
flache Land verbreitend, das jetzt nach und nach erwachte. Aus den kleinen,
längs des Moores gelegenen Hütten stiegen schon dünne, blaue Rauchsäule»
in die stille Luft auf. Hier öffnete sich eine Thür, dort blinkte eine Sense in
der Sonne. Und draußen auf den Kleefeldern begannen sich die Kühe be¬
merkbar zu machen, sobald sich das erste, Milchmädchen, munter singend und


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[0391] Plötzlich wurde alles still. Wie tausend dunkle Punkte sanken die Lerchen blitzschnell durch die Luft und verschwanden in den Feldern. Die Elstern hüpften vorsichtig ans die innersten Zweige und streckten die Hälse vor, indem sie die Köpfe drehten. Drei Hühner aus dem Dorfe, die sich verirrt hatte», liefen eilig über den Weg und setzten sich dicht neben einander auf einen Düngerhaufen, ja selbst die dummen Krähen drückten sich reihenweise in die Furchen des Brachfeldes und schielten ängstlich mit dem einen Auge in die Höhe. ^ Über das Dorf hinweg segelte ein Geier. An den breiten Schwingen hoch oben hängend, schwebte er ruhig und langsam durch die Luft mit einem zögernden Spähen, das seinen frühstückshnngrigeu Blick ahnen ließ. In vier großen Kreisen schwang er sich dem Walde zu. Endlich breitete er die Flügel zu ein paar kurzen, kräftigen schlugen aus und verschwand über den Wipfeln. Aus dem Grase erklang ein leises Zwitschern, dann das heisere Krächzen einer Krähe, und bald erfüllte wieder ein vielstimmiger Jnbelchor die ganze Luft. Die Szene war vom Saume des Waldes her vou einer seltsamen Gestalt beobachtet worden, die dort, halb wie ein Nachtwandler, halb wie eine Leiche, stand, die Hand auf einen Zaun gestützt, einen Shawl über .Kopf und Schultern geworfen, den leeren Blick zum Himmel gerichtet, dorthin, wo eben der Geier seine Kreise gezogen hatte. Es war Martha. Langsam, Schritt für Schritt, als wollte sie sich selber nicht aus ihrem innern Schlummer wecken, schlich sie sich den Wald entlang zwischen der Hecke und der Wiese hin bis an den Puukt, wo sich diese in die Kluft hineinschob. Von Zeit zu Zeit sah sie mit scheuen, hastigem Blick um sich und ver¬ schwand dann durch dieselbe Thür, die sie am Abend unverriegelt ge¬ lassen hatte. Als sie ins Zimmer gekommen war, ließ sie den Shawl fallen und sah sich wie verwundert um. Dann öffnete sie hastig das Fenster und schöpfte tief Atem. Zwischen den Rändern der Schlucht ruhte das tauschimmernde Küstenland in rosenrotem Schimmer vor ihren Augen. Gleich einem flim¬ mernden Flor lagen die Spinnengewebe über der Wiese. Und draußen, hinter dem Meere, ging die Souue auf. Groß, königlich, in ruhiger Majestät stieg der mächtige Feuerball über dem wolkenlosen Rande des Himmels empor, sein goldiges Licht über das ganze, flache Land verbreitend, das jetzt nach und nach erwachte. Aus den kleinen, längs des Moores gelegenen Hütten stiegen schon dünne, blaue Rauchsäule» in die stille Luft auf. Hier öffnete sich eine Thür, dort blinkte eine Sense in der Sonne. Und draußen auf den Kleefeldern begannen sich die Kühe be¬ merkbar zu machen, sobald sich das erste, Milchmädchen, munter singend und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/391>, abgerufen am 22.07.2024.