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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Junge Liebe

Entschlüsse wankend machen würde. Ruhig und ohne Klage sollte der nächste
Tag sie finden, wenn nur erst diese lange Finsternis überstanden, diese letzte
Qual von ihr genommen war.

Sie erhob sich langsam und fing an, sich auszukleiden. Unsichern Schrittes
schwankte sie in dem länglichen, dunkeln Raume hin und her, zog die Decke
von ihrem Bett und legte ihr Zeug zurecht. Eine furchtbare Mattigkeit kam
über ihre Glieder; die Füße wurden ihr schwer, und der Kopf schmerzte sie.
Schließlich sank sie auf die Bettkante nieder und preßte ihr Kleid gegen die
Anger. Da siel ihr ein, das; sie schon seit langer Zeit kein Abendgebet ge¬
sprochen hatte, lind sie fing an zu beten.

Aber mitten im Gebet sah sie wieder den feinen, blonden Kopf vor sich,
der in ihrem Schoße geruht hatte. Es war ihr, als fühlte sie noch immer
diese weiche, zitternde Hand, diese brennenden Lippen. Jedes Wort, das er
geredet hatte, summte ihr noch mit zärtlichem, flehendem Klang in den Ohren,
und schließlich "weinte sie vor Schmerzen. Ihr ganzes Leben seit jenem ver-
hällgnisvollen Tage, wo sie im Schilf Zeuge der Liebkosungen jeuer beiden
Liebenden geworden war, zog wieder an ihrer Seele vorüber. Jede Sehnsucht,
die sie empfunden, jeden Traum, der sie im Schlafe besucht hatte, durchlebte
sie in diesem Augenblick aufs neue. Und sie fragte sich selber, weshalb denn
alles so gekommen sei, welchen Zweck das Ganze eigentlich haben könne, da
das Ende ja doch so ausfallen sollte. Noch einmal sah sie das strahlende
Paradies ihrer Jugend vor sich, diesen duftenden Garten der Liebe, in den sie
sich so oft mit ihren Gedanken vertieft hatte, aber nicht mehr wie eine leere
Gaukelwelt, die ihr krankhafte, eitle Träume vorgezaubert hatten. Sie war
ihr gleichsam lebendig nahe gerückt. Es war ihr, als stünde sie vor der
Schwelle dieses Paradieses, als fühlte sie, wie die Seligkeit der Liebe sich durch
die geöffneten Thüren über sie ergösse.

Wenn sie es jetzt wagte? Nur dies einemal? Niemand -- so sagte sie
sich -- würde es ja erfahren. Wenn er abgereist wäre, würde es im Dunkel
der Nacht begraben sein. Sie selber würde sich dessen nur wie eines schönen
Traumes, eines flüchtigen Gesichts erinnern. Aber es sollte das große, teure
Geheimnis ihres Lebens werden, das sie mit sich ins Grab nehmen wollte --
nur noch einmal wollte sie ihn sehen! Nur seine Hand fassen und ihm den
letzten Abschiedsknß geben! Nur dies eine Glück, und sie wollte auf alles
andre verzichten! Wie treu und gut wollte sie dann dafür werden! Sie wollte
nie klagen, niemals die geringste Veranlassung zur Unzufriedenheit geben.

Sie griff sich ins Haar. Was für Gedanken waren das!

Aber in demselben Augenblicke ertönten vom Walde her drei dumpfe,
leichte Schläge.

Sie sank langsam zurück ins Bett, bedeckte die Auge" mit beiden Händen
und blieb regungslos liegen.


Junge Liebe

Entschlüsse wankend machen würde. Ruhig und ohne Klage sollte der nächste
Tag sie finden, wenn nur erst diese lange Finsternis überstanden, diese letzte
Qual von ihr genommen war.

Sie erhob sich langsam und fing an, sich auszukleiden. Unsichern Schrittes
schwankte sie in dem länglichen, dunkeln Raume hin und her, zog die Decke
von ihrem Bett und legte ihr Zeug zurecht. Eine furchtbare Mattigkeit kam
über ihre Glieder; die Füße wurden ihr schwer, und der Kopf schmerzte sie.
Schließlich sank sie auf die Bettkante nieder und preßte ihr Kleid gegen die
Anger. Da siel ihr ein, das; sie schon seit langer Zeit kein Abendgebet ge¬
sprochen hatte, lind sie fing an zu beten.

Aber mitten im Gebet sah sie wieder den feinen, blonden Kopf vor sich,
der in ihrem Schoße geruht hatte. Es war ihr, als fühlte sie noch immer
diese weiche, zitternde Hand, diese brennenden Lippen. Jedes Wort, das er
geredet hatte, summte ihr noch mit zärtlichem, flehendem Klang in den Ohren,
und schließlich "weinte sie vor Schmerzen. Ihr ganzes Leben seit jenem ver-
hällgnisvollen Tage, wo sie im Schilf Zeuge der Liebkosungen jeuer beiden
Liebenden geworden war, zog wieder an ihrer Seele vorüber. Jede Sehnsucht,
die sie empfunden, jeden Traum, der sie im Schlafe besucht hatte, durchlebte
sie in diesem Augenblick aufs neue. Und sie fragte sich selber, weshalb denn
alles so gekommen sei, welchen Zweck das Ganze eigentlich haben könne, da
das Ende ja doch so ausfallen sollte. Noch einmal sah sie das strahlende
Paradies ihrer Jugend vor sich, diesen duftenden Garten der Liebe, in den sie
sich so oft mit ihren Gedanken vertieft hatte, aber nicht mehr wie eine leere
Gaukelwelt, die ihr krankhafte, eitle Träume vorgezaubert hatten. Sie war
ihr gleichsam lebendig nahe gerückt. Es war ihr, als stünde sie vor der
Schwelle dieses Paradieses, als fühlte sie, wie die Seligkeit der Liebe sich durch
die geöffneten Thüren über sie ergösse.

Wenn sie es jetzt wagte? Nur dies einemal? Niemand — so sagte sie
sich — würde es ja erfahren. Wenn er abgereist wäre, würde es im Dunkel
der Nacht begraben sein. Sie selber würde sich dessen nur wie eines schönen
Traumes, eines flüchtigen Gesichts erinnern. Aber es sollte das große, teure
Geheimnis ihres Lebens werden, das sie mit sich ins Grab nehmen wollte —
nur noch einmal wollte sie ihn sehen! Nur seine Hand fassen und ihm den
letzten Abschiedsknß geben! Nur dies eine Glück, und sie wollte auf alles
andre verzichten! Wie treu und gut wollte sie dann dafür werden! Sie wollte
nie klagen, niemals die geringste Veranlassung zur Unzufriedenheit geben.

Sie griff sich ins Haar. Was für Gedanken waren das!

Aber in demselben Augenblicke ertönten vom Walde her drei dumpfe,
leichte Schläge.

Sie sank langsam zurück ins Bett, bedeckte die Auge» mit beiden Händen
und blieb regungslos liegen.


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[0389] Junge Liebe Entschlüsse wankend machen würde. Ruhig und ohne Klage sollte der nächste Tag sie finden, wenn nur erst diese lange Finsternis überstanden, diese letzte Qual von ihr genommen war. Sie erhob sich langsam und fing an, sich auszukleiden. Unsichern Schrittes schwankte sie in dem länglichen, dunkeln Raume hin und her, zog die Decke von ihrem Bett und legte ihr Zeug zurecht. Eine furchtbare Mattigkeit kam über ihre Glieder; die Füße wurden ihr schwer, und der Kopf schmerzte sie. Schließlich sank sie auf die Bettkante nieder und preßte ihr Kleid gegen die Anger. Da siel ihr ein, das; sie schon seit langer Zeit kein Abendgebet ge¬ sprochen hatte, lind sie fing an zu beten. Aber mitten im Gebet sah sie wieder den feinen, blonden Kopf vor sich, der in ihrem Schoße geruht hatte. Es war ihr, als fühlte sie noch immer diese weiche, zitternde Hand, diese brennenden Lippen. Jedes Wort, das er geredet hatte, summte ihr noch mit zärtlichem, flehendem Klang in den Ohren, und schließlich "weinte sie vor Schmerzen. Ihr ganzes Leben seit jenem ver- hällgnisvollen Tage, wo sie im Schilf Zeuge der Liebkosungen jeuer beiden Liebenden geworden war, zog wieder an ihrer Seele vorüber. Jede Sehnsucht, die sie empfunden, jeden Traum, der sie im Schlafe besucht hatte, durchlebte sie in diesem Augenblick aufs neue. Und sie fragte sich selber, weshalb denn alles so gekommen sei, welchen Zweck das Ganze eigentlich haben könne, da das Ende ja doch so ausfallen sollte. Noch einmal sah sie das strahlende Paradies ihrer Jugend vor sich, diesen duftenden Garten der Liebe, in den sie sich so oft mit ihren Gedanken vertieft hatte, aber nicht mehr wie eine leere Gaukelwelt, die ihr krankhafte, eitle Träume vorgezaubert hatten. Sie war ihr gleichsam lebendig nahe gerückt. Es war ihr, als stünde sie vor der Schwelle dieses Paradieses, als fühlte sie, wie die Seligkeit der Liebe sich durch die geöffneten Thüren über sie ergösse. Wenn sie es jetzt wagte? Nur dies einemal? Niemand — so sagte sie sich — würde es ja erfahren. Wenn er abgereist wäre, würde es im Dunkel der Nacht begraben sein. Sie selber würde sich dessen nur wie eines schönen Traumes, eines flüchtigen Gesichts erinnern. Aber es sollte das große, teure Geheimnis ihres Lebens werden, das sie mit sich ins Grab nehmen wollte — nur noch einmal wollte sie ihn sehen! Nur seine Hand fassen und ihm den letzten Abschiedsknß geben! Nur dies eine Glück, und sie wollte auf alles andre verzichten! Wie treu und gut wollte sie dann dafür werden! Sie wollte nie klagen, niemals die geringste Veranlassung zur Unzufriedenheit geben. Sie griff sich ins Haar. Was für Gedanken waren das! Aber in demselben Augenblicke ertönten vom Walde her drei dumpfe, leichte Schläge. Sie sank langsam zurück ins Bett, bedeckte die Auge» mit beiden Händen und blieb regungslos liegen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/389>, abgerufen am 22.07.2024.