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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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wärtigen Politik, der wie Fürst Vismarck vor allein die Erhaltung des Friedens
im Auge hat, verwerten ließe. Man ist im Hinblick hierauf geradezu versucht,
es ungefähr mit dem alten venetianischen Ambassadore in London zu halten,
der gegen das Ende der Regierung Elisabeths seinen Auftraggebern berichtete:
"Es laufen eine Menge von Gerüchten am Hofe um, bald soll die Königin
tot sein, bald uoch am Leben. Ich für meinen Teil glaube weder das eine
noch das andre." Diese Gesandten waren, wie uns Ranke gezeigt hat, außer¬
ordentlich gescheite Kopfe, aber hier wäre der Unglaube, wenn wir uns ihn
hinsichtlich der alle Tage auftauchende" widerspruchsvollen Gerüchte von der
orientalischen Pandorabüchse aneigne" wollten, zwar recht bequem, aber doch
nicht recht am Orte. Ohne Zweifel giebt es gegenwärtig einige Punkte, über
die man beunruhigt sein kann, und einer derselben ist Kreta. Zu bedauern
ist, daß wir dort keinen unparteiischen und unabhängigen Beobachter und Bericht¬
erstatter haben, der uns Auskunft geben könnte, wie es jetzt in Wahrheit dort
steht und zugeht, und ob die Geschichten, die in Athen von dort erzählt und
zu uns befördert werden,' wenigstens einigen Anspruch ans Wahrheit haben,
und so müssen wir uns mit Vermutungen begnügen, die von Erfahrungen
abgeleitet siud, und die wir in folgende Sätze zusammenfassen: Wenn türkische
Truppen eine aufgeflackerte Rebellion zu unterdrücken haben, so pflegen sie sie
nicht mit Rosenwasser auszugießen, sondern machen ihr mit rauher und derb
zugreifender Hemd ein Ende, ja es giebt Beispiele, daß sie brutal dabei zu
Werke gingen; anderseits aber ist es noch häusiger vorgekommen, daß, wenn
bei solchen Gelegenheiten keine Greuel wie die Gladstonischen atroollic;" begangen
wurden, in Athen Leute vorhanden waren, die, wenn es für Griechenland
zweckdienlich erschien, solche zu erfinden und zu vertreiben verstanden. Es wird
daher klug sein, weder die Behauptungen noch die Ableugnungen, die uus von
der jetzt wieder in den Vordergrund getretenen und doch wie ein ferner Gegen¬
stand nebelhaften Insel zukomme", für unbedingte Wahrheit zu betrachten.
Aber bis man den Oberbefehlshaber der Türken anf Kreta mit klaren und
unanfechtbaren Beweisen überführt hat, daß er dort ein blutiges Schreckens¬
regiment eingeführt habe, wird man billigerweise daran zweifeln dürfen, und
zwar billigerweise umsomehr, als Schakir Pascha sich bisher des Rufes eines
humane" und taktvolle" Politikers erfreute. Natürlich würde es athenischen
Staatsmännern vortrefflich ins Geschüft passen, wenn die öffentliche Meinung
in Europa in Aufregung und Empörung versetzt würde und alle Welt eine
Einmischung Griechenlands billigte, die mit einer Einverleibung Kretas in
das Königreich endigte. Trikupis jedoch, der griechische Premier, ist nicht
leichtsinnig genng, einen derartigen Schritt zu wagen, ohne ganz bestimmte
Beweise dafür beibringen zu können, daß die Fortdauer der türkischem Herrschaft
vom Volke durchaus nicht mehr zu ertragen sei. Jetzt aber könnte er nur
erklären, was nur schon wissen, d. h. daß die sehr weitgehende Autonomie,


wärtigen Politik, der wie Fürst Vismarck vor allein die Erhaltung des Friedens
im Auge hat, verwerten ließe. Man ist im Hinblick hierauf geradezu versucht,
es ungefähr mit dem alten venetianischen Ambassadore in London zu halten,
der gegen das Ende der Regierung Elisabeths seinen Auftraggebern berichtete:
„Es laufen eine Menge von Gerüchten am Hofe um, bald soll die Königin
tot sein, bald uoch am Leben. Ich für meinen Teil glaube weder das eine
noch das andre." Diese Gesandten waren, wie uns Ranke gezeigt hat, außer¬
ordentlich gescheite Kopfe, aber hier wäre der Unglaube, wenn wir uns ihn
hinsichtlich der alle Tage auftauchende» widerspruchsvollen Gerüchte von der
orientalischen Pandorabüchse aneigne» wollten, zwar recht bequem, aber doch
nicht recht am Orte. Ohne Zweifel giebt es gegenwärtig einige Punkte, über
die man beunruhigt sein kann, und einer derselben ist Kreta. Zu bedauern
ist, daß wir dort keinen unparteiischen und unabhängigen Beobachter und Bericht¬
erstatter haben, der uns Auskunft geben könnte, wie es jetzt in Wahrheit dort
steht und zugeht, und ob die Geschichten, die in Athen von dort erzählt und
zu uns befördert werden,' wenigstens einigen Anspruch ans Wahrheit haben,
und so müssen wir uns mit Vermutungen begnügen, die von Erfahrungen
abgeleitet siud, und die wir in folgende Sätze zusammenfassen: Wenn türkische
Truppen eine aufgeflackerte Rebellion zu unterdrücken haben, so pflegen sie sie
nicht mit Rosenwasser auszugießen, sondern machen ihr mit rauher und derb
zugreifender Hemd ein Ende, ja es giebt Beispiele, daß sie brutal dabei zu
Werke gingen; anderseits aber ist es noch häusiger vorgekommen, daß, wenn
bei solchen Gelegenheiten keine Greuel wie die Gladstonischen atroollic;« begangen
wurden, in Athen Leute vorhanden waren, die, wenn es für Griechenland
zweckdienlich erschien, solche zu erfinden und zu vertreiben verstanden. Es wird
daher klug sein, weder die Behauptungen noch die Ableugnungen, die uus von
der jetzt wieder in den Vordergrund getretenen und doch wie ein ferner Gegen¬
stand nebelhaften Insel zukomme», für unbedingte Wahrheit zu betrachten.
Aber bis man den Oberbefehlshaber der Türken anf Kreta mit klaren und
unanfechtbaren Beweisen überführt hat, daß er dort ein blutiges Schreckens¬
regiment eingeführt habe, wird man billigerweise daran zweifeln dürfen, und
zwar billigerweise umsomehr, als Schakir Pascha sich bisher des Rufes eines
humane» und taktvolle» Politikers erfreute. Natürlich würde es athenischen
Staatsmännern vortrefflich ins Geschüft passen, wenn die öffentliche Meinung
in Europa in Aufregung und Empörung versetzt würde und alle Welt eine
Einmischung Griechenlands billigte, die mit einer Einverleibung Kretas in
das Königreich endigte. Trikupis jedoch, der griechische Premier, ist nicht
leichtsinnig genng, einen derartigen Schritt zu wagen, ohne ganz bestimmte
Beweise dafür beibringen zu können, daß die Fortdauer der türkischem Herrschaft
vom Volke durchaus nicht mehr zu ertragen sei. Jetzt aber könnte er nur
erklären, was nur schon wissen, d. h. daß die sehr weitgehende Autonomie,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/258>, abgerufen am 28.06.2024.