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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur

am Ende ist doch eine Romanform duzn da, um etwas künstlerisch Bedeutsames
zu bieten. Für den Satiriker und Sittenschildcrer ist der leidenschaftliche Partei¬
mann Stiicker jedenfalls ein wertvoller Stoff, nnr soll der Dichter sich seinerseits
der Wirklichkeit gewachsen zeigen. Stärker, der mit dämonischer Energie von einer
Volksversammlung zur untern eilt, mit außerordentlicher Rednergabe die Menschen
aufzurütteln versteht, mit aller Welt anbindet, in tausend Formen thätig ist, vor
keinem Mittel des Kampfes in der Politik zurücksehend, ist doch, ästhetisch genommen,
ein viel großartigerer Mann als KretzerS Hofprediger Bock, der sehr ungeschickt
und roh gegen den Idealthcvlogeu Konrad Baldus Intriguen spinnt und sich dabei
blamirt. Die im Genrehaften heimische Kunst Kretzers hat für solche Erscheinungen
keine ausreichende künstlerische Fähigkeit. Darum fehlt auch seiner "Bergpredigt"
die richtige Wucht und Große des Satirikers. Rein als Dichtung Wirkt sie durch
die sehr häßliche Intrigue, um die es sich dreht, nichts Weniger als erfreulich.
Obwohl sich Kretzer schon vielfach vom Naturalismus losgesagt hat, muß er doch
noch einige Schritte vorwärts machen, um ganz auf der Hohe einer Aufgabe zu
stehen, wie sie diese "Bergpredigt" stellt. Indes, so lange es sich nur um das
treu uach dein Leben gezeichnete Genrebild handelt, ist er auch hier glücklich. Einige
Typen des Pnstoreutums hat er sehr hübsch gezeichnet. Zunächst die Gestalt des
tapfern, humoristischem urwüchsigen, grundehrlichen und gescheiten Lnndpnstors Bläsel,
der sich durch keinen Oberhofprediger, durch kein Konsistorium einschüchtern läßt,
ein fest in sich selbst ruhender Charakter, der sich sogar ins eigne Fleisch schneidet,
sein eignes Kind streng verurteilt, wenn es seinem redlichen Sinne znwiderhandelt.
Bei solch einem Manne geht den Menschen das Herz ans. Ein entgegengesetzter
Typus ist der Bruder des Helden, Konrad, ein Handwerker des Pastorenbernfs,
ohne wahre innere Religion. Wie ein Beamter, erfüllt er trocken, nur aufs Ein¬
kommen bedacht, seine Berufspflichten, über die tiefen Fragen der theologischen
Wissenschaft zerbricht er sich nicht den Kopf, wenn er nur sein gutes Essen hat; dabei
steht er uuter dem Pantoffel seiner Wirtschafterin. Poetisch bedeutend ist die Figur
des alte" Baldus, der von dein Buche seines freier gesinnten und wahrhaft be¬
geisterten Sohnes Konrad, der "Bergpredigt," am Ende seines Lebens in schwere
Zweifel gestürzt wird. Als er sich vor Angen hält, wie wenig seine Thätigkeit,
als Pastor die um ihn heranwachsende Menschheit eigentlich gebessert hat, verzweifelt
er an sich. Aber er stirbt im Glauben an das Christentum seines Sohnes. Daß
Kretzer auch das niedere Volk Berlins zutreffend, wenn auch wenig erquicklich, wie
es in Wahrheit ist, zu schildern versteht und zahlreiche humoristische Lichter an¬
bringen kann, versteht sich von selbst. Im ganzen wieder eine Dichtung, die nur
gemischte Empfindungen hervorruft.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

am Ende ist doch eine Romanform duzn da, um etwas künstlerisch Bedeutsames
zu bieten. Für den Satiriker und Sittenschildcrer ist der leidenschaftliche Partei¬
mann Stiicker jedenfalls ein wertvoller Stoff, nnr soll der Dichter sich seinerseits
der Wirklichkeit gewachsen zeigen. Stärker, der mit dämonischer Energie von einer
Volksversammlung zur untern eilt, mit außerordentlicher Rednergabe die Menschen
aufzurütteln versteht, mit aller Welt anbindet, in tausend Formen thätig ist, vor
keinem Mittel des Kampfes in der Politik zurücksehend, ist doch, ästhetisch genommen,
ein viel großartigerer Mann als KretzerS Hofprediger Bock, der sehr ungeschickt
und roh gegen den Idealthcvlogeu Konrad Baldus Intriguen spinnt und sich dabei
blamirt. Die im Genrehaften heimische Kunst Kretzers hat für solche Erscheinungen
keine ausreichende künstlerische Fähigkeit. Darum fehlt auch seiner „Bergpredigt"
die richtige Wucht und Große des Satirikers. Rein als Dichtung Wirkt sie durch
die sehr häßliche Intrigue, um die es sich dreht, nichts Weniger als erfreulich.
Obwohl sich Kretzer schon vielfach vom Naturalismus losgesagt hat, muß er doch
noch einige Schritte vorwärts machen, um ganz auf der Hohe einer Aufgabe zu
stehen, wie sie diese „Bergpredigt" stellt. Indes, so lange es sich nur um das
treu uach dein Leben gezeichnete Genrebild handelt, ist er auch hier glücklich. Einige
Typen des Pnstoreutums hat er sehr hübsch gezeichnet. Zunächst die Gestalt des
tapfern, humoristischem urwüchsigen, grundehrlichen und gescheiten Lnndpnstors Bläsel,
der sich durch keinen Oberhofprediger, durch kein Konsistorium einschüchtern läßt,
ein fest in sich selbst ruhender Charakter, der sich sogar ins eigne Fleisch schneidet,
sein eignes Kind streng verurteilt, wenn es seinem redlichen Sinne znwiderhandelt.
Bei solch einem Manne geht den Menschen das Herz ans. Ein entgegengesetzter
Typus ist der Bruder des Helden, Konrad, ein Handwerker des Pastorenbernfs,
ohne wahre innere Religion. Wie ein Beamter, erfüllt er trocken, nur aufs Ein¬
kommen bedacht, seine Berufspflichten, über die tiefen Fragen der theologischen
Wissenschaft zerbricht er sich nicht den Kopf, wenn er nur sein gutes Essen hat; dabei
steht er uuter dem Pantoffel seiner Wirtschafterin. Poetisch bedeutend ist die Figur
des alte» Baldus, der von dein Buche seines freier gesinnten und wahrhaft be¬
geisterten Sohnes Konrad, der „Bergpredigt," am Ende seines Lebens in schwere
Zweifel gestürzt wird. Als er sich vor Angen hält, wie wenig seine Thätigkeit,
als Pastor die um ihn heranwachsende Menschheit eigentlich gebessert hat, verzweifelt
er an sich. Aber er stirbt im Glauben an das Christentum seines Sohnes. Daß
Kretzer auch das niedere Volk Berlins zutreffend, wenn auch wenig erquicklich, wie
es in Wahrheit ist, zu schildern versteht und zahlreiche humoristische Lichter an¬
bringen kann, versteht sich von selbst. Im ganzen wieder eine Dichtung, die nur
gemischte Empfindungen hervorruft.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0208] Litteratur am Ende ist doch eine Romanform duzn da, um etwas künstlerisch Bedeutsames zu bieten. Für den Satiriker und Sittenschildcrer ist der leidenschaftliche Partei¬ mann Stiicker jedenfalls ein wertvoller Stoff, nnr soll der Dichter sich seinerseits der Wirklichkeit gewachsen zeigen. Stärker, der mit dämonischer Energie von einer Volksversammlung zur untern eilt, mit außerordentlicher Rednergabe die Menschen aufzurütteln versteht, mit aller Welt anbindet, in tausend Formen thätig ist, vor keinem Mittel des Kampfes in der Politik zurücksehend, ist doch, ästhetisch genommen, ein viel großartigerer Mann als KretzerS Hofprediger Bock, der sehr ungeschickt und roh gegen den Idealthcvlogeu Konrad Baldus Intriguen spinnt und sich dabei blamirt. Die im Genrehaften heimische Kunst Kretzers hat für solche Erscheinungen keine ausreichende künstlerische Fähigkeit. Darum fehlt auch seiner „Bergpredigt" die richtige Wucht und Große des Satirikers. Rein als Dichtung Wirkt sie durch die sehr häßliche Intrigue, um die es sich dreht, nichts Weniger als erfreulich. Obwohl sich Kretzer schon vielfach vom Naturalismus losgesagt hat, muß er doch noch einige Schritte vorwärts machen, um ganz auf der Hohe einer Aufgabe zu stehen, wie sie diese „Bergpredigt" stellt. Indes, so lange es sich nur um das treu uach dein Leben gezeichnete Genrebild handelt, ist er auch hier glücklich. Einige Typen des Pnstoreutums hat er sehr hübsch gezeichnet. Zunächst die Gestalt des tapfern, humoristischem urwüchsigen, grundehrlichen und gescheiten Lnndpnstors Bläsel, der sich durch keinen Oberhofprediger, durch kein Konsistorium einschüchtern läßt, ein fest in sich selbst ruhender Charakter, der sich sogar ins eigne Fleisch schneidet, sein eignes Kind streng verurteilt, wenn es seinem redlichen Sinne znwiderhandelt. Bei solch einem Manne geht den Menschen das Herz ans. Ein entgegengesetzter Typus ist der Bruder des Helden, Konrad, ein Handwerker des Pastorenbernfs, ohne wahre innere Religion. Wie ein Beamter, erfüllt er trocken, nur aufs Ein¬ kommen bedacht, seine Berufspflichten, über die tiefen Fragen der theologischen Wissenschaft zerbricht er sich nicht den Kopf, wenn er nur sein gutes Essen hat; dabei steht er uuter dem Pantoffel seiner Wirtschafterin. Poetisch bedeutend ist die Figur des alte» Baldus, der von dein Buche seines freier gesinnten und wahrhaft be¬ geisterten Sohnes Konrad, der „Bergpredigt," am Ende seines Lebens in schwere Zweifel gestürzt wird. Als er sich vor Angen hält, wie wenig seine Thätigkeit, als Pastor die um ihn heranwachsende Menschheit eigentlich gebessert hat, verzweifelt er an sich. Aber er stirbt im Glauben an das Christentum seines Sohnes. Daß Kretzer auch das niedere Volk Berlins zutreffend, wenn auch wenig erquicklich, wie es in Wahrheit ist, zu schildern versteht und zahlreiche humoristische Lichter an¬ bringen kann, versteht sich von selbst. Im ganzen wieder eine Dichtung, die nur gemischte Empfindungen hervorruft. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/208>, abgerufen am 22.07.2024.