Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Wahlen in Frankreich

bleiben, das näher besehen gar nicht so übel sei, nicht wenige Wählerstimmen
zuführen mußten. Die Wahlen vom 22. September haben der hierauf ge¬
gründeten Erwartung entsprochen, sie haben an dem Bisherigen nicht viel ver¬
ändert, sie haben nur gezeigt, daß die Republikaner stärker sind, als ihre Gegner
vermuteten; aber von einem großen Erfolge zu reden ist Thorheit, die der Re¬
publik abgewendete Masse des Volkes zeigte sich ihr wieder etwas günstiger, aber
auch wenn die Stichwahlen dies bestätigen sollten, wird es sich damit ganz
bedeutend bessern müssen, ehe der Freiheitsbaum, um den man jetzt jubelt und
tanzt, als fest gepflanzt angesehen werden darf. Noch heute liegt die Axt, die
ihn abhauen sollte, an seiner Wurzel. Der Boulangerschwindel ist, wie es
scheint, im Absterben begriffen, aber er kann wieder aufleben, er wird auf alle
Fülle Nachfolger in andrer Gestalt finden, und er ist durchaus nicht der ärgste Feind
der Republik. Alle Untugenden des Parlamentarismus werdeu nach Zusammen¬
tritt der neuen Volksvertreter ihr Spiel von neuem beginnen, die Republik
wird fortdauern, und je länger desto besser für den Frieden der Welt, denn
sie wird, wenn nicht Wunder geschehen und überraschende Wiedergeburten erfolgen,
schwach bleiben und auf unsichern Füßen stehen. Endlich aber wird sie doch
fallen, und zwar sobald ein hochbefähigter und willenskrüftiger Geist in ihr
ersteht, an dem es unter den bisherigen Politikern gänzlich mangelte. Wankte
sie doch geraume Zeit vor den Ränken eines Wichts wie Boulanger, der freilich
auch nur Mittelmäßigkeiten vor sich hatte. An diesen Mittelmäßigkeiten, diesen
kleinen Politikern, die nur in Selbstsucht, Parteigezänk und Parteiumtrieben
groß sind, wird die Republik schließlich zu Grunde gehen. Aber noch einmal:
je länger sie sich mit diesen von ihr untrennbaren Eigenschaften auf den Beinen
erhält, desto besser für den Frieden, und deshalb können wir jeden Ausgang
von Krisen gleich dem jetzigen mit Genugthuung begrüßen. Wie die Dinge
jetzt liegen, ist Frankreich in politischer Beziehung ein Kranker, der nicht leben
und nicht sterben kann, und solche Kranke hat die Welt nicht zu fürchten.

Scheu wir uns die Wahlen vom 22. September etwas genauer an. Ihr
Ergebnis ist im ganzen unentschieden. Die Republikaner haben nur vorläufig
die Mehrzahl ihrer Kandidaten durchgesetzt, die Gegner nur vorläufig einen
Teil der ihrigen, worunter sich in Paris Boulanger, den die Regierung un¬
vorsichtig und inkonsequent zur Bewerbung um ein Mandat zuließ, und vier von
seinen Anhängern befinden.*) In vielen Wahlbezirken ist der Kandidat, der die
meisten Stimmen der Wählerschaft erhielt, nicht wirklich gewählt, da ihm die
gesetzlich erforderliche Zahl der Stimmen, d. h. wenigstens eine über die Hälfte
derselben, mangelte, und so wird hier eine Stichwahl notwendig. Solcher
Fälle weist die Wahl sehr viele ans, und dadurch wird das endgiltige Urteil
über ihr Gesamtergebnis hinausgeschoben. Zwei Punkte sind aber schon jetzt



^) VoulnuiMs und ebenso Rocheforts Wahl ist inzwischen für ungilrig erkliiri worden.
Die Wahlen in Frankreich

bleiben, das näher besehen gar nicht so übel sei, nicht wenige Wählerstimmen
zuführen mußten. Die Wahlen vom 22. September haben der hierauf ge¬
gründeten Erwartung entsprochen, sie haben an dem Bisherigen nicht viel ver¬
ändert, sie haben nur gezeigt, daß die Republikaner stärker sind, als ihre Gegner
vermuteten; aber von einem großen Erfolge zu reden ist Thorheit, die der Re¬
publik abgewendete Masse des Volkes zeigte sich ihr wieder etwas günstiger, aber
auch wenn die Stichwahlen dies bestätigen sollten, wird es sich damit ganz
bedeutend bessern müssen, ehe der Freiheitsbaum, um den man jetzt jubelt und
tanzt, als fest gepflanzt angesehen werden darf. Noch heute liegt die Axt, die
ihn abhauen sollte, an seiner Wurzel. Der Boulangerschwindel ist, wie es
scheint, im Absterben begriffen, aber er kann wieder aufleben, er wird auf alle
Fülle Nachfolger in andrer Gestalt finden, und er ist durchaus nicht der ärgste Feind
der Republik. Alle Untugenden des Parlamentarismus werdeu nach Zusammen¬
tritt der neuen Volksvertreter ihr Spiel von neuem beginnen, die Republik
wird fortdauern, und je länger desto besser für den Frieden der Welt, denn
sie wird, wenn nicht Wunder geschehen und überraschende Wiedergeburten erfolgen,
schwach bleiben und auf unsichern Füßen stehen. Endlich aber wird sie doch
fallen, und zwar sobald ein hochbefähigter und willenskrüftiger Geist in ihr
ersteht, an dem es unter den bisherigen Politikern gänzlich mangelte. Wankte
sie doch geraume Zeit vor den Ränken eines Wichts wie Boulanger, der freilich
auch nur Mittelmäßigkeiten vor sich hatte. An diesen Mittelmäßigkeiten, diesen
kleinen Politikern, die nur in Selbstsucht, Parteigezänk und Parteiumtrieben
groß sind, wird die Republik schließlich zu Grunde gehen. Aber noch einmal:
je länger sie sich mit diesen von ihr untrennbaren Eigenschaften auf den Beinen
erhält, desto besser für den Frieden, und deshalb können wir jeden Ausgang
von Krisen gleich dem jetzigen mit Genugthuung begrüßen. Wie die Dinge
jetzt liegen, ist Frankreich in politischer Beziehung ein Kranker, der nicht leben
und nicht sterben kann, und solche Kranke hat die Welt nicht zu fürchten.

Scheu wir uns die Wahlen vom 22. September etwas genauer an. Ihr
Ergebnis ist im ganzen unentschieden. Die Republikaner haben nur vorläufig
die Mehrzahl ihrer Kandidaten durchgesetzt, die Gegner nur vorläufig einen
Teil der ihrigen, worunter sich in Paris Boulanger, den die Regierung un¬
vorsichtig und inkonsequent zur Bewerbung um ein Mandat zuließ, und vier von
seinen Anhängern befinden.*) In vielen Wahlbezirken ist der Kandidat, der die
meisten Stimmen der Wählerschaft erhielt, nicht wirklich gewählt, da ihm die
gesetzlich erforderliche Zahl der Stimmen, d. h. wenigstens eine über die Hälfte
derselben, mangelte, und so wird hier eine Stichwahl notwendig. Solcher
Fälle weist die Wahl sehr viele ans, und dadurch wird das endgiltige Urteil
über ihr Gesamtergebnis hinausgeschoben. Zwei Punkte sind aber schon jetzt



^) VoulnuiMs und ebenso Rocheforts Wahl ist inzwischen für ungilrig erkliiri worden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0010" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206009"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Wahlen in Frankreich</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_9" prev="#ID_8"> bleiben, das näher besehen gar nicht so übel sei, nicht wenige Wählerstimmen<lb/>
zuführen mußten. Die Wahlen vom 22. September haben der hierauf ge¬<lb/>
gründeten Erwartung entsprochen, sie haben an dem Bisherigen nicht viel ver¬<lb/>
ändert, sie haben nur gezeigt, daß die Republikaner stärker sind, als ihre Gegner<lb/>
vermuteten; aber von einem großen Erfolge zu reden ist Thorheit, die der Re¬<lb/>
publik abgewendete Masse des Volkes zeigte sich ihr wieder etwas günstiger, aber<lb/>
auch wenn die Stichwahlen dies bestätigen sollten, wird es sich damit ganz<lb/>
bedeutend bessern müssen, ehe der Freiheitsbaum, um den man jetzt jubelt und<lb/>
tanzt, als fest gepflanzt angesehen werden darf. Noch heute liegt die Axt, die<lb/>
ihn abhauen sollte, an seiner Wurzel. Der Boulangerschwindel ist, wie es<lb/>
scheint, im Absterben begriffen, aber er kann wieder aufleben, er wird auf alle<lb/>
Fülle Nachfolger in andrer Gestalt finden, und er ist durchaus nicht der ärgste Feind<lb/>
der Republik. Alle Untugenden des Parlamentarismus werdeu nach Zusammen¬<lb/>
tritt der neuen Volksvertreter ihr Spiel von neuem beginnen, die Republik<lb/>
wird fortdauern, und je länger desto besser für den Frieden der Welt, denn<lb/>
sie wird, wenn nicht Wunder geschehen und überraschende Wiedergeburten erfolgen,<lb/>
schwach bleiben und auf unsichern Füßen stehen. Endlich aber wird sie doch<lb/>
fallen, und zwar sobald ein hochbefähigter und willenskrüftiger Geist in ihr<lb/>
ersteht, an dem es unter den bisherigen Politikern gänzlich mangelte. Wankte<lb/>
sie doch geraume Zeit vor den Ränken eines Wichts wie Boulanger, der freilich<lb/>
auch nur Mittelmäßigkeiten vor sich hatte. An diesen Mittelmäßigkeiten, diesen<lb/>
kleinen Politikern, die nur in Selbstsucht, Parteigezänk und Parteiumtrieben<lb/>
groß sind, wird die Republik schließlich zu Grunde gehen. Aber noch einmal:<lb/>
je länger sie sich mit diesen von ihr untrennbaren Eigenschaften auf den Beinen<lb/>
erhält, desto besser für den Frieden, und deshalb können wir jeden Ausgang<lb/>
von Krisen gleich dem jetzigen mit Genugthuung begrüßen. Wie die Dinge<lb/>
jetzt liegen, ist Frankreich in politischer Beziehung ein Kranker, der nicht leben<lb/>
und nicht sterben kann, und solche Kranke hat die Welt nicht zu fürchten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_10" next="#ID_11"> Scheu wir uns die Wahlen vom 22. September etwas genauer an. Ihr<lb/>
Ergebnis ist im ganzen unentschieden. Die Republikaner haben nur vorläufig<lb/>
die Mehrzahl ihrer Kandidaten durchgesetzt, die Gegner nur vorläufig einen<lb/>
Teil der ihrigen, worunter sich in Paris Boulanger, den die Regierung un¬<lb/>
vorsichtig und inkonsequent zur Bewerbung um ein Mandat zuließ, und vier von<lb/>
seinen Anhängern befinden.*) In vielen Wahlbezirken ist der Kandidat, der die<lb/>
meisten Stimmen der Wählerschaft erhielt, nicht wirklich gewählt, da ihm die<lb/>
gesetzlich erforderliche Zahl der Stimmen, d. h. wenigstens eine über die Hälfte<lb/>
derselben, mangelte, und so wird hier eine Stichwahl notwendig. Solcher<lb/>
Fälle weist die Wahl sehr viele ans, und dadurch wird das endgiltige Urteil<lb/>
über ihr Gesamtergebnis hinausgeschoben.  Zwei Punkte sind aber schon jetzt</p><lb/>
          <note xml:id="FID_2" place="foot"> ^) VoulnuiMs und ebenso Rocheforts Wahl ist inzwischen für ungilrig erkliiri worden.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0010] Die Wahlen in Frankreich bleiben, das näher besehen gar nicht so übel sei, nicht wenige Wählerstimmen zuführen mußten. Die Wahlen vom 22. September haben der hierauf ge¬ gründeten Erwartung entsprochen, sie haben an dem Bisherigen nicht viel ver¬ ändert, sie haben nur gezeigt, daß die Republikaner stärker sind, als ihre Gegner vermuteten; aber von einem großen Erfolge zu reden ist Thorheit, die der Re¬ publik abgewendete Masse des Volkes zeigte sich ihr wieder etwas günstiger, aber auch wenn die Stichwahlen dies bestätigen sollten, wird es sich damit ganz bedeutend bessern müssen, ehe der Freiheitsbaum, um den man jetzt jubelt und tanzt, als fest gepflanzt angesehen werden darf. Noch heute liegt die Axt, die ihn abhauen sollte, an seiner Wurzel. Der Boulangerschwindel ist, wie es scheint, im Absterben begriffen, aber er kann wieder aufleben, er wird auf alle Fülle Nachfolger in andrer Gestalt finden, und er ist durchaus nicht der ärgste Feind der Republik. Alle Untugenden des Parlamentarismus werdeu nach Zusammen¬ tritt der neuen Volksvertreter ihr Spiel von neuem beginnen, die Republik wird fortdauern, und je länger desto besser für den Frieden der Welt, denn sie wird, wenn nicht Wunder geschehen und überraschende Wiedergeburten erfolgen, schwach bleiben und auf unsichern Füßen stehen. Endlich aber wird sie doch fallen, und zwar sobald ein hochbefähigter und willenskrüftiger Geist in ihr ersteht, an dem es unter den bisherigen Politikern gänzlich mangelte. Wankte sie doch geraume Zeit vor den Ränken eines Wichts wie Boulanger, der freilich auch nur Mittelmäßigkeiten vor sich hatte. An diesen Mittelmäßigkeiten, diesen kleinen Politikern, die nur in Selbstsucht, Parteigezänk und Parteiumtrieben groß sind, wird die Republik schließlich zu Grunde gehen. Aber noch einmal: je länger sie sich mit diesen von ihr untrennbaren Eigenschaften auf den Beinen erhält, desto besser für den Frieden, und deshalb können wir jeden Ausgang von Krisen gleich dem jetzigen mit Genugthuung begrüßen. Wie die Dinge jetzt liegen, ist Frankreich in politischer Beziehung ein Kranker, der nicht leben und nicht sterben kann, und solche Kranke hat die Welt nicht zu fürchten. Scheu wir uns die Wahlen vom 22. September etwas genauer an. Ihr Ergebnis ist im ganzen unentschieden. Die Republikaner haben nur vorläufig die Mehrzahl ihrer Kandidaten durchgesetzt, die Gegner nur vorläufig einen Teil der ihrigen, worunter sich in Paris Boulanger, den die Regierung un¬ vorsichtig und inkonsequent zur Bewerbung um ein Mandat zuließ, und vier von seinen Anhängern befinden.*) In vielen Wahlbezirken ist der Kandidat, der die meisten Stimmen der Wählerschaft erhielt, nicht wirklich gewählt, da ihm die gesetzlich erforderliche Zahl der Stimmen, d. h. wenigstens eine über die Hälfte derselben, mangelte, und so wird hier eine Stichwahl notwendig. Solcher Fälle weist die Wahl sehr viele ans, und dadurch wird das endgiltige Urteil über ihr Gesamtergebnis hinausgeschoben. Zwei Punkte sind aber schon jetzt ^) VoulnuiMs und ebenso Rocheforts Wahl ist inzwischen für ungilrig erkliiri worden.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/10
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/10>, abgerufen am 28.06.2024.