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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Goethes Mettkampf mit den griechischen Dichtern

Will sie in seine Arme schließe"; die Chorführerin wehrt ihn ab, er soll nicht
das Gewand der Priesterin berühre", aber Orestes ruft:


O meine Schwester, eines Vaters Kind mit mir,
Des Agnmemnvns Tochter, wende dich nicht ab!
Ich bin dein Bruder, der dir als verloren galt.

Sehr gut gewählt sind auch die Erkennungszeichen, die Orest der noch inuuer
zögernden Schwester giebt: das Gewebe mit der bildlichen Darstellung des
Streites zwischen Atreus und Thhest, das von Jphigeuiens Hand verfertigt
ist und sich noch im Hause Agamenmons befindet, Jphigeniens Locke, von
Antis her gesandt, des Peleus alter Speer, mit dem er einst Oenomaos ge¬
tötet hat. Und dann das herrliche Zwiegespräch zwischen den Geschwistern im
ersten Rausche des Wiederfindens! Jedes Wort bricht mit der ganzen Fülle
der Natur aus dem Innerste" der Menschenbrust hervor. Man muß es selbst
nachlesen und im Zusammenhange auf sich wirken lassen, wenn man den rechten
Genuß haben will.")

Nicht so Wohl gelungen ist dem griechische" Dichter der zweite Teil, die
Vorbereitung der Flucht. Die herrliche Gestalt, die in der Frende über den
Bruder und in der Sorge um ihn die ganze Tiefe ihres Gemüts erschließt, die
ganze Große weiblichen Heldeiimnts offenbart, wird zum gewöhnlichen Weibe,
das mit kaltem Vinde und schlauer Berechnung eine Kriegslist ausführt. Sie
betrügt den König Thors, indem sie vorgiebt, sie müsse die mit schwerer
Schuld beladenen Gefangenen und ebenso das von ihnen berührte Bild der
Göttin in der heiligen Meerflut waschen, ehe das Opfer geschehen könne. Ihr
Gespräch mit Thors, der ihr im Barbarenlande Schutz und Ehre gewährt
hat, ist herzlos, voll Lug und Trug, voll Verleugnung ihrer heiligsten
Empfindungen, voll Entweihung ihrer priesterlichen Vollmacht. Wie kann sie
über die Lippen bringen:


Ganz Hellas, meines Elends Grund, ist mir verhaßt;

oder:


Traue nimmer einem Griechen,

Thors bringt ihr in wahrhaft rührender Weise das vollste Nertranen entgegen;
keine Spur von Argwohn, jedes seiner Worte ein warmer Pulsschlag des
reinsten Herzens! Wie ist es möglich, daß eine edle Jungfrau ohne Stocken,
ohne Erröte" einen solchen Freund und Wohlthäter hintergehen kaun? Man
darf, ohne Euripides zu verdächtigen, annehmen, daß hier die sittlich sehr
niedrige Stellung der Frau in der vorchristlichen Zeit und insbesondre im
Perikleischeu Griechenland grell zu Tage tritt. Die griechische Frau war im



Eine neue, recht gute Übersetzung der Dramen des Euripides von Jakob Mähly ist
die bei Spemann in Stuttgart erschienene.
Goethes Mettkampf mit den griechischen Dichtern

Will sie in seine Arme schließe»; die Chorführerin wehrt ihn ab, er soll nicht
das Gewand der Priesterin berühre», aber Orestes ruft:


O meine Schwester, eines Vaters Kind mit mir,
Des Agnmemnvns Tochter, wende dich nicht ab!
Ich bin dein Bruder, der dir als verloren galt.

Sehr gut gewählt sind auch die Erkennungszeichen, die Orest der noch inuuer
zögernden Schwester giebt: das Gewebe mit der bildlichen Darstellung des
Streites zwischen Atreus und Thhest, das von Jphigeuiens Hand verfertigt
ist und sich noch im Hause Agamenmons befindet, Jphigeniens Locke, von
Antis her gesandt, des Peleus alter Speer, mit dem er einst Oenomaos ge¬
tötet hat. Und dann das herrliche Zwiegespräch zwischen den Geschwistern im
ersten Rausche des Wiederfindens! Jedes Wort bricht mit der ganzen Fülle
der Natur aus dem Innerste» der Menschenbrust hervor. Man muß es selbst
nachlesen und im Zusammenhange auf sich wirken lassen, wenn man den rechten
Genuß haben will.")

Nicht so Wohl gelungen ist dem griechische» Dichter der zweite Teil, die
Vorbereitung der Flucht. Die herrliche Gestalt, die in der Frende über den
Bruder und in der Sorge um ihn die ganze Tiefe ihres Gemüts erschließt, die
ganze Große weiblichen Heldeiimnts offenbart, wird zum gewöhnlichen Weibe,
das mit kaltem Vinde und schlauer Berechnung eine Kriegslist ausführt. Sie
betrügt den König Thors, indem sie vorgiebt, sie müsse die mit schwerer
Schuld beladenen Gefangenen und ebenso das von ihnen berührte Bild der
Göttin in der heiligen Meerflut waschen, ehe das Opfer geschehen könne. Ihr
Gespräch mit Thors, der ihr im Barbarenlande Schutz und Ehre gewährt
hat, ist herzlos, voll Lug und Trug, voll Verleugnung ihrer heiligsten
Empfindungen, voll Entweihung ihrer priesterlichen Vollmacht. Wie kann sie
über die Lippen bringen:


Ganz Hellas, meines Elends Grund, ist mir verhaßt;

oder:


Traue nimmer einem Griechen,

Thors bringt ihr in wahrhaft rührender Weise das vollste Nertranen entgegen;
keine Spur von Argwohn, jedes seiner Worte ein warmer Pulsschlag des
reinsten Herzens! Wie ist es möglich, daß eine edle Jungfrau ohne Stocken,
ohne Erröte» einen solchen Freund und Wohlthäter hintergehen kaun? Man
darf, ohne Euripides zu verdächtigen, annehmen, daß hier die sittlich sehr
niedrige Stellung der Frau in der vorchristlichen Zeit und insbesondre im
Perikleischeu Griechenland grell zu Tage tritt. Die griechische Frau war im



Eine neue, recht gute Übersetzung der Dramen des Euripides von Jakob Mähly ist
die bei Spemann in Stuttgart erschienene.
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[0514] Goethes Mettkampf mit den griechischen Dichtern Will sie in seine Arme schließe»; die Chorführerin wehrt ihn ab, er soll nicht das Gewand der Priesterin berühre», aber Orestes ruft: O meine Schwester, eines Vaters Kind mit mir, Des Agnmemnvns Tochter, wende dich nicht ab! Ich bin dein Bruder, der dir als verloren galt. Sehr gut gewählt sind auch die Erkennungszeichen, die Orest der noch inuuer zögernden Schwester giebt: das Gewebe mit der bildlichen Darstellung des Streites zwischen Atreus und Thhest, das von Jphigeuiens Hand verfertigt ist und sich noch im Hause Agamenmons befindet, Jphigeniens Locke, von Antis her gesandt, des Peleus alter Speer, mit dem er einst Oenomaos ge¬ tötet hat. Und dann das herrliche Zwiegespräch zwischen den Geschwistern im ersten Rausche des Wiederfindens! Jedes Wort bricht mit der ganzen Fülle der Natur aus dem Innerste» der Menschenbrust hervor. Man muß es selbst nachlesen und im Zusammenhange auf sich wirken lassen, wenn man den rechten Genuß haben will.") Nicht so Wohl gelungen ist dem griechische» Dichter der zweite Teil, die Vorbereitung der Flucht. Die herrliche Gestalt, die in der Frende über den Bruder und in der Sorge um ihn die ganze Tiefe ihres Gemüts erschließt, die ganze Große weiblichen Heldeiimnts offenbart, wird zum gewöhnlichen Weibe, das mit kaltem Vinde und schlauer Berechnung eine Kriegslist ausführt. Sie betrügt den König Thors, indem sie vorgiebt, sie müsse die mit schwerer Schuld beladenen Gefangenen und ebenso das von ihnen berührte Bild der Göttin in der heiligen Meerflut waschen, ehe das Opfer geschehen könne. Ihr Gespräch mit Thors, der ihr im Barbarenlande Schutz und Ehre gewährt hat, ist herzlos, voll Lug und Trug, voll Verleugnung ihrer heiligsten Empfindungen, voll Entweihung ihrer priesterlichen Vollmacht. Wie kann sie über die Lippen bringen: Ganz Hellas, meines Elends Grund, ist mir verhaßt; oder: Traue nimmer einem Griechen, Thors bringt ihr in wahrhaft rührender Weise das vollste Nertranen entgegen; keine Spur von Argwohn, jedes seiner Worte ein warmer Pulsschlag des reinsten Herzens! Wie ist es möglich, daß eine edle Jungfrau ohne Stocken, ohne Erröte» einen solchen Freund und Wohlthäter hintergehen kaun? Man darf, ohne Euripides zu verdächtigen, annehmen, daß hier die sittlich sehr niedrige Stellung der Frau in der vorchristlichen Zeit und insbesondre im Perikleischeu Griechenland grell zu Tage tritt. Die griechische Frau war im Eine neue, recht gute Übersetzung der Dramen des Euripides von Jakob Mähly ist die bei Spemann in Stuttgart erschienene.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/514>, abgerufen am 10.02.2025.