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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Freiheit

und die Erschwerung der Existenzbedingungen. Die Hungersnot, die bei einem
rohen Volke durch eine Mißernte beim gänzlichen Mangel an Verkehrsmitteln
verursacht wird, macht ebenso die Ärmeren zu Sklave", wie der Preisdruck
infolge von Überproduktion bei einem hochzivilisirteu, durch vortreffliche Ber-
kehrsanstalten mit Getreide und Fleisch reichlich versehenen Volke. Der Kultur-
fortschritt an fich wirkt, je nachdem, bald befreiend, bald einschränkend, wie
in Beziehung auf das Maschinenwesen bereits angedeutet wurde. Dasselbe
gilt in geistiger Beziehung. Jene Fesseln z. B., die die christliche Moral und
die bürgerliche Ehrbarkeit nicht bloß deu verbrecherischen Gelüsten, sondern mit¬
unter auch den wirklichen und rechtmäßigen Bedürfnissen einer nach voller
Entfaltung verlangenden Menschennatur anlegen, werden aus mittleren Bil¬
dungsstufen (im Vürgerstande und bei mäßig gebildeten Völkern) am strammsten
gehandhabt. Hochentwickelte Geister sind vorurteilsfrei, und Zeiten, in denen
sie vorherrschen, neigen zur Libertinage, nicht minder wie die vornehmsten Ge¬
sellschaftskreise aller Zeiten und -- der Pöbel. Auch die sehr lästige und
schädliche Fesselung dnrch Aberglauben, durch orientalisches Zeremoniell und
chinesisch- byzantinisch-spanische Etikette, durch Kastenwesen ist wahrlich kein Er¬
zeugnis hoher Bildung, sondern findet sich bei halbgebildeter wie bei zurück-
schreitenden und verkümmerudeu Völker" ein.

Was ist denn überhaupt die Freiheit? Die psychologische, die Willens¬
freiheit muß mau als Thatsache gelten lassen, aber sie wird ewig ein unge¬
löstes Rätsel bleiben. Worin die sittliche Freiheit besteht, wissen wir ganz
genau; in der Herrschaft des Pflichtgefühls über die Begierden und in dem
Vorherrschen der edleren vor den unedleren Begierden. Die äußere Freiheit
aber ist nicht eine, sondern so vielfach, wie die menschlichen Verhältnisse sind,
sodnß die einen Freiheiten dnrch andre, entgegengesetzte ausgeschlossen werden.
Wohl nirgends wird durch Außerachtlassung der wirklichen Verhältnisse solche
Verwirrung angerichtet und soviel Phrasennebel erzeugt wie dann, wenn von
der Freiheit die Rede ist. Wenn ein Mann, der aus Furcht vor seinem Haus¬
wirt nicht wagt, in seiner Wohnung zu husten, sich die Füße warm zu laufen,
mit seinen Knaben Pferdchen zu spielen und seine Frau auszuzanken, wenn
ein Arbeiter, der mit müden Beinen laufen oder der sitzen muß, während er
das Bedürfnis der Bewegung fühlt, wenn ein Krämer, der einiger Pfennige
wegen jedes dummen Jungen gehorsamsten Diener spielt, wenn solche Leute in
dem erhebenden Bewußtsein schwelgen, "freie Staatsbürger" zu sein, so soll
ihnen dieser Trost im Elend nicht mißgönnt werden. Aber in der wissenschaft¬
lichen Untersuchung muß man schon den Worten ihre natürliche Bedeutung
lassen; Einschränkung und Abhängigkeit sind eben nicht Freiheit, sondern das
Gegenteil davon. Der städtische Liberalismus entspringt zum Teil aus der
heftigen Sehnsucht unes Gütern, deren Genuß dem Städter versagt ist. Der
Gutsbesitzer spricht uicht von der Freiheit, weil er die wertvollste Art der-


Freiheit

und die Erschwerung der Existenzbedingungen. Die Hungersnot, die bei einem
rohen Volke durch eine Mißernte beim gänzlichen Mangel an Verkehrsmitteln
verursacht wird, macht ebenso die Ärmeren zu Sklave», wie der Preisdruck
infolge von Überproduktion bei einem hochzivilisirteu, durch vortreffliche Ber-
kehrsanstalten mit Getreide und Fleisch reichlich versehenen Volke. Der Kultur-
fortschritt an fich wirkt, je nachdem, bald befreiend, bald einschränkend, wie
in Beziehung auf das Maschinenwesen bereits angedeutet wurde. Dasselbe
gilt in geistiger Beziehung. Jene Fesseln z. B., die die christliche Moral und
die bürgerliche Ehrbarkeit nicht bloß deu verbrecherischen Gelüsten, sondern mit¬
unter auch den wirklichen und rechtmäßigen Bedürfnissen einer nach voller
Entfaltung verlangenden Menschennatur anlegen, werden aus mittleren Bil¬
dungsstufen (im Vürgerstande und bei mäßig gebildeten Völkern) am strammsten
gehandhabt. Hochentwickelte Geister sind vorurteilsfrei, und Zeiten, in denen
sie vorherrschen, neigen zur Libertinage, nicht minder wie die vornehmsten Ge¬
sellschaftskreise aller Zeiten und — der Pöbel. Auch die sehr lästige und
schädliche Fesselung dnrch Aberglauben, durch orientalisches Zeremoniell und
chinesisch- byzantinisch-spanische Etikette, durch Kastenwesen ist wahrlich kein Er¬
zeugnis hoher Bildung, sondern findet sich bei halbgebildeter wie bei zurück-
schreitenden und verkümmerudeu Völker» ein.

Was ist denn überhaupt die Freiheit? Die psychologische, die Willens¬
freiheit muß mau als Thatsache gelten lassen, aber sie wird ewig ein unge¬
löstes Rätsel bleiben. Worin die sittliche Freiheit besteht, wissen wir ganz
genau; in der Herrschaft des Pflichtgefühls über die Begierden und in dem
Vorherrschen der edleren vor den unedleren Begierden. Die äußere Freiheit
aber ist nicht eine, sondern so vielfach, wie die menschlichen Verhältnisse sind,
sodnß die einen Freiheiten dnrch andre, entgegengesetzte ausgeschlossen werden.
Wohl nirgends wird durch Außerachtlassung der wirklichen Verhältnisse solche
Verwirrung angerichtet und soviel Phrasennebel erzeugt wie dann, wenn von
der Freiheit die Rede ist. Wenn ein Mann, der aus Furcht vor seinem Haus¬
wirt nicht wagt, in seiner Wohnung zu husten, sich die Füße warm zu laufen,
mit seinen Knaben Pferdchen zu spielen und seine Frau auszuzanken, wenn
ein Arbeiter, der mit müden Beinen laufen oder der sitzen muß, während er
das Bedürfnis der Bewegung fühlt, wenn ein Krämer, der einiger Pfennige
wegen jedes dummen Jungen gehorsamsten Diener spielt, wenn solche Leute in
dem erhebenden Bewußtsein schwelgen, „freie Staatsbürger" zu sein, so soll
ihnen dieser Trost im Elend nicht mißgönnt werden. Aber in der wissenschaft¬
lichen Untersuchung muß man schon den Worten ihre natürliche Bedeutung
lassen; Einschränkung und Abhängigkeit sind eben nicht Freiheit, sondern das
Gegenteil davon. Der städtische Liberalismus entspringt zum Teil aus der
heftigen Sehnsucht unes Gütern, deren Genuß dem Städter versagt ist. Der
Gutsbesitzer spricht uicht von der Freiheit, weil er die wertvollste Art der-


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[0406] Freiheit und die Erschwerung der Existenzbedingungen. Die Hungersnot, die bei einem rohen Volke durch eine Mißernte beim gänzlichen Mangel an Verkehrsmitteln verursacht wird, macht ebenso die Ärmeren zu Sklave», wie der Preisdruck infolge von Überproduktion bei einem hochzivilisirteu, durch vortreffliche Ber- kehrsanstalten mit Getreide und Fleisch reichlich versehenen Volke. Der Kultur- fortschritt an fich wirkt, je nachdem, bald befreiend, bald einschränkend, wie in Beziehung auf das Maschinenwesen bereits angedeutet wurde. Dasselbe gilt in geistiger Beziehung. Jene Fesseln z. B., die die christliche Moral und die bürgerliche Ehrbarkeit nicht bloß deu verbrecherischen Gelüsten, sondern mit¬ unter auch den wirklichen und rechtmäßigen Bedürfnissen einer nach voller Entfaltung verlangenden Menschennatur anlegen, werden aus mittleren Bil¬ dungsstufen (im Vürgerstande und bei mäßig gebildeten Völkern) am strammsten gehandhabt. Hochentwickelte Geister sind vorurteilsfrei, und Zeiten, in denen sie vorherrschen, neigen zur Libertinage, nicht minder wie die vornehmsten Ge¬ sellschaftskreise aller Zeiten und — der Pöbel. Auch die sehr lästige und schädliche Fesselung dnrch Aberglauben, durch orientalisches Zeremoniell und chinesisch- byzantinisch-spanische Etikette, durch Kastenwesen ist wahrlich kein Er¬ zeugnis hoher Bildung, sondern findet sich bei halbgebildeter wie bei zurück- schreitenden und verkümmerudeu Völker» ein. Was ist denn überhaupt die Freiheit? Die psychologische, die Willens¬ freiheit muß mau als Thatsache gelten lassen, aber sie wird ewig ein unge¬ löstes Rätsel bleiben. Worin die sittliche Freiheit besteht, wissen wir ganz genau; in der Herrschaft des Pflichtgefühls über die Begierden und in dem Vorherrschen der edleren vor den unedleren Begierden. Die äußere Freiheit aber ist nicht eine, sondern so vielfach, wie die menschlichen Verhältnisse sind, sodnß die einen Freiheiten dnrch andre, entgegengesetzte ausgeschlossen werden. Wohl nirgends wird durch Außerachtlassung der wirklichen Verhältnisse solche Verwirrung angerichtet und soviel Phrasennebel erzeugt wie dann, wenn von der Freiheit die Rede ist. Wenn ein Mann, der aus Furcht vor seinem Haus¬ wirt nicht wagt, in seiner Wohnung zu husten, sich die Füße warm zu laufen, mit seinen Knaben Pferdchen zu spielen und seine Frau auszuzanken, wenn ein Arbeiter, der mit müden Beinen laufen oder der sitzen muß, während er das Bedürfnis der Bewegung fühlt, wenn ein Krämer, der einiger Pfennige wegen jedes dummen Jungen gehorsamsten Diener spielt, wenn solche Leute in dem erhebenden Bewußtsein schwelgen, „freie Staatsbürger" zu sein, so soll ihnen dieser Trost im Elend nicht mißgönnt werden. Aber in der wissenschaft¬ lichen Untersuchung muß man schon den Worten ihre natürliche Bedeutung lassen; Einschränkung und Abhängigkeit sind eben nicht Freiheit, sondern das Gegenteil davon. Der städtische Liberalismus entspringt zum Teil aus der heftigen Sehnsucht unes Gütern, deren Genuß dem Städter versagt ist. Der Gutsbesitzer spricht uicht von der Freiheit, weil er die wertvollste Art der-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/406>, abgerufen am 05.02.2025.