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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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von Reiubabeu (Reichstagssitznug vom 11. Januar d. I.) durchaus "legitimen"
Einflusses bei den Wahlen kaum verzichten, sodaß sich in vielen Fällen der
kleine Maul gezwungen sieht, für eine Gestaltung des Staatswesens mitzu¬
wirken, welche seinen persönlichen Ansichten und Wünschen schnurstracks ent¬
gegengesetzt ist.

Nach zwei Seiten hin bedarf nnn diese geschichtliche Übersicht einer kleinen
Erläuterung. Die landläufige Vorstellung, erst in der französischen Revolution
habe sich der dritte Stand politische Rechte errungen, gilt nur, wenn man die
Weltgeschichte mit dem siebzehnten Jahrhundert beginnen läßt, und auch dann
nicht für alle Staaten Europas. Im dreizehnten Jahrhundert z. B. war die
Bürgerschaft von Köln für sich allein stark genug, die Wahl des Welsen Otto
gegen Philipp den Staufen durchzusetzen, nicht aus Freundschaft für die Klerisei,
mit der sie gewöhnlich im Streite lag, sondern ihres englischen Handels wegen.
In den italienischen Republiken stand der Edelmann nicht über, sondern unter
dem Bürger; wollte er zu öffentlichen Ämtern gelangen, so mußte er sich in
eine Zunft einschreiben lassen. Auf der Höhe der Renaissance galt in Italien
die Geburth nichts, Geist, Talent und Kraft des Individuums alles. Auch in
Deutschland finden Nur zur Zeit der Reformation Juristen bürgerlicher Ab¬
kunft in den höchsten Staatsämter".

Nicht minder verkehrt ist es, wenn man von der "mittelalterlichen" Ge¬
bundenheit der Person dnrch die Korporation spricht, und die freie Entfaltung
der Individualität als eine Errungenschaft der Neuzeit Preise. Zunächst ist
das Mittelalter unsrer Schulbücher eine so lauge Periode und umfaßt so viele
verschiedne Völker, daß nur die größte Gedankenlosigkeit ihm einen einheitlichen
Eharakter beilegen kann. Unter der ländlichen Bevölkerung Europas gab es
in dem Jahrtausend von 590 bis 15>W sreie Bauernschaften, Zinsbauern,
Erbpächter, Hörige in buntester Mannichfaltigkeit mit den verschiedensten Ab¬
stufungen der Abhängigkeit, und Befreiungen wechselten mit Knechtungen. In
den Städten, an die man bei der "korporativen Gebundenheit" zunächst denkt,
war diese Bindung häusig uicht strenger, ja meist lockerer, als die durch unsre
heutige städtische Polizei, die staatliche Zoll- und Gcwerbegesetzgebnug und die
Wehrpflicht. Es sind im ganzen dieselben Beschränkungen durch obrigkeitliche
Aufsicht nud durch mancherlei Verpflichtungen, die wir hier wie dort treffen ; der
Unterschied liegt nur darin, daß bei uns das Reich, der Staat und die Gemeinde
jene Funktionen ausüben, welche damals den Zuuftvorständeu oblagen. In der
Blütezeit des gewerblichen Lebens und Handels waren die Zunftverfassungen
höchst liberal; der Eintritt in die Zunft kostete, in Florenz wenigstens, nur
eine geringe Gebühr, der Austritt stand jederzeit frei; Befähigungsnachweis
und was sonst zum Evangelium unsrer heutigen Zünftlcr gehört, wurde nicht
gefordert. Wie wenig, oder vielmehr gar uicht, die Entfaltung der Individualität
gehemmt war, sieht man bei einem Blick auf deu Formenschatz der Renaissance:


von Reiubabeu (Reichstagssitznug vom 11. Januar d. I.) durchaus „legitimen"
Einflusses bei den Wahlen kaum verzichten, sodaß sich in vielen Fällen der
kleine Maul gezwungen sieht, für eine Gestaltung des Staatswesens mitzu¬
wirken, welche seinen persönlichen Ansichten und Wünschen schnurstracks ent¬
gegengesetzt ist.

Nach zwei Seiten hin bedarf nnn diese geschichtliche Übersicht einer kleinen
Erläuterung. Die landläufige Vorstellung, erst in der französischen Revolution
habe sich der dritte Stand politische Rechte errungen, gilt nur, wenn man die
Weltgeschichte mit dem siebzehnten Jahrhundert beginnen läßt, und auch dann
nicht für alle Staaten Europas. Im dreizehnten Jahrhundert z. B. war die
Bürgerschaft von Köln für sich allein stark genug, die Wahl des Welsen Otto
gegen Philipp den Staufen durchzusetzen, nicht aus Freundschaft für die Klerisei,
mit der sie gewöhnlich im Streite lag, sondern ihres englischen Handels wegen.
In den italienischen Republiken stand der Edelmann nicht über, sondern unter
dem Bürger; wollte er zu öffentlichen Ämtern gelangen, so mußte er sich in
eine Zunft einschreiben lassen. Auf der Höhe der Renaissance galt in Italien
die Geburth nichts, Geist, Talent und Kraft des Individuums alles. Auch in
Deutschland finden Nur zur Zeit der Reformation Juristen bürgerlicher Ab¬
kunft in den höchsten Staatsämter».

Nicht minder verkehrt ist es, wenn man von der „mittelalterlichen" Ge¬
bundenheit der Person dnrch die Korporation spricht, und die freie Entfaltung
der Individualität als eine Errungenschaft der Neuzeit Preise. Zunächst ist
das Mittelalter unsrer Schulbücher eine so lauge Periode und umfaßt so viele
verschiedne Völker, daß nur die größte Gedankenlosigkeit ihm einen einheitlichen
Eharakter beilegen kann. Unter der ländlichen Bevölkerung Europas gab es
in dem Jahrtausend von 590 bis 15>W sreie Bauernschaften, Zinsbauern,
Erbpächter, Hörige in buntester Mannichfaltigkeit mit den verschiedensten Ab¬
stufungen der Abhängigkeit, und Befreiungen wechselten mit Knechtungen. In
den Städten, an die man bei der „korporativen Gebundenheit" zunächst denkt,
war diese Bindung häusig uicht strenger, ja meist lockerer, als die durch unsre
heutige städtische Polizei, die staatliche Zoll- und Gcwerbegesetzgebnug und die
Wehrpflicht. Es sind im ganzen dieselben Beschränkungen durch obrigkeitliche
Aufsicht nud durch mancherlei Verpflichtungen, die wir hier wie dort treffen ; der
Unterschied liegt nur darin, daß bei uns das Reich, der Staat und die Gemeinde
jene Funktionen ausüben, welche damals den Zuuftvorständeu oblagen. In der
Blütezeit des gewerblichen Lebens und Handels waren die Zunftverfassungen
höchst liberal; der Eintritt in die Zunft kostete, in Florenz wenigstens, nur
eine geringe Gebühr, der Austritt stand jederzeit frei; Befähigungsnachweis
und was sonst zum Evangelium unsrer heutigen Zünftlcr gehört, wurde nicht
gefordert. Wie wenig, oder vielmehr gar uicht, die Entfaltung der Individualität
gehemmt war, sieht man bei einem Blick auf deu Formenschatz der Renaissance:


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[0399] von Reiubabeu (Reichstagssitznug vom 11. Januar d. I.) durchaus „legitimen" Einflusses bei den Wahlen kaum verzichten, sodaß sich in vielen Fällen der kleine Maul gezwungen sieht, für eine Gestaltung des Staatswesens mitzu¬ wirken, welche seinen persönlichen Ansichten und Wünschen schnurstracks ent¬ gegengesetzt ist. Nach zwei Seiten hin bedarf nnn diese geschichtliche Übersicht einer kleinen Erläuterung. Die landläufige Vorstellung, erst in der französischen Revolution habe sich der dritte Stand politische Rechte errungen, gilt nur, wenn man die Weltgeschichte mit dem siebzehnten Jahrhundert beginnen läßt, und auch dann nicht für alle Staaten Europas. Im dreizehnten Jahrhundert z. B. war die Bürgerschaft von Köln für sich allein stark genug, die Wahl des Welsen Otto gegen Philipp den Staufen durchzusetzen, nicht aus Freundschaft für die Klerisei, mit der sie gewöhnlich im Streite lag, sondern ihres englischen Handels wegen. In den italienischen Republiken stand der Edelmann nicht über, sondern unter dem Bürger; wollte er zu öffentlichen Ämtern gelangen, so mußte er sich in eine Zunft einschreiben lassen. Auf der Höhe der Renaissance galt in Italien die Geburth nichts, Geist, Talent und Kraft des Individuums alles. Auch in Deutschland finden Nur zur Zeit der Reformation Juristen bürgerlicher Ab¬ kunft in den höchsten Staatsämter». Nicht minder verkehrt ist es, wenn man von der „mittelalterlichen" Ge¬ bundenheit der Person dnrch die Korporation spricht, und die freie Entfaltung der Individualität als eine Errungenschaft der Neuzeit Preise. Zunächst ist das Mittelalter unsrer Schulbücher eine so lauge Periode und umfaßt so viele verschiedne Völker, daß nur die größte Gedankenlosigkeit ihm einen einheitlichen Eharakter beilegen kann. Unter der ländlichen Bevölkerung Europas gab es in dem Jahrtausend von 590 bis 15>W sreie Bauernschaften, Zinsbauern, Erbpächter, Hörige in buntester Mannichfaltigkeit mit den verschiedensten Ab¬ stufungen der Abhängigkeit, und Befreiungen wechselten mit Knechtungen. In den Städten, an die man bei der „korporativen Gebundenheit" zunächst denkt, war diese Bindung häusig uicht strenger, ja meist lockerer, als die durch unsre heutige städtische Polizei, die staatliche Zoll- und Gcwerbegesetzgebnug und die Wehrpflicht. Es sind im ganzen dieselben Beschränkungen durch obrigkeitliche Aufsicht nud durch mancherlei Verpflichtungen, die wir hier wie dort treffen ; der Unterschied liegt nur darin, daß bei uns das Reich, der Staat und die Gemeinde jene Funktionen ausüben, welche damals den Zuuftvorständeu oblagen. In der Blütezeit des gewerblichen Lebens und Handels waren die Zunftverfassungen höchst liberal; der Eintritt in die Zunft kostete, in Florenz wenigstens, nur eine geringe Gebühr, der Austritt stand jederzeit frei; Befähigungsnachweis und was sonst zum Evangelium unsrer heutigen Zünftlcr gehört, wurde nicht gefordert. Wie wenig, oder vielmehr gar uicht, die Entfaltung der Individualität gehemmt war, sieht man bei einem Blick auf deu Formenschatz der Renaissance:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/399>, abgerufen am 05.02.2025.