Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde

Werdens, das die Willkür des Einzelnen machtvoll bannt unter die Herrschaft
gemeiner Sitte und Anschauung.

In dieser fortlaufenden Entwicklung, die alles von außen zugeführte ver¬
möge ihrer innewohnenden Kraft auflöst und verarbeitet, liegt abermals ein
Zug der Natur, den weder die slawischen noch die romanischen Ansiedlungen
erkennen lassen. So verschieden sie sonst sind, sie bedrücken uns mit dem
gleichen Gefühle des langweiligen Einerlei: die gestaltlose Blockhütte eines
Polnischen oder russischen Bauern kann man ebensowenig nach ihrer Geschichte
fragen, wie es möglich ist, von den öden, fast fensterlosen, oben abgeschnittenen
Steinmauern italienischer Dörfer eine Entwicklung abzulesen. Das deutsche
Dorf bildet hierin die glückliche Mitte zwischen dem romanischen Südwesten, wo
die Dörfer einen städtischen Anstrich zeigen, und dem slawischen Osten, wo
umgekehrt die Städte häufig nichts andres find als riesenhafte Dörfer. Diese
Eigenart unsers Dorfes würde sich nicht so lebensvoll aufdrängen, wenn es
nicht bis auf unsre Tage an dem Holzbau festgehalten Hütte: überall steht
unser Bauernhaus noch mit seinen Füßen im Walde, wenn auch sein Haupt
die alte moosbewachsene Strohkappe abgeworfen hat. Wenn die Dörfer des
slawischen Ostens einen so einförmigen Anblick gewähren, fo liegt das
darin, daß sie im struppigen Urwalde stecken geblieben sind, daß sie sich
bei der Starrheit slawischer Art nicht haben entwickeln wollen; bei den ro¬
manischen hat das gleiche Verhältnis seinen Grund darin, daß sie bei ihrem
Steinbau sich nicht haben entwickeln können. Denn für den ländlichen Ban
bietet nur das Holz die Möglichkeit einer selbständigen und lebendigen Ent¬
wicklung. Zur Bearbeitung und künstlerischen Behandlung des Holzes geniigen
die Werkzeuge und Kenntnisse des einfachen ländlichen Zimmermannshandwerkes,
es genügt eine bloße, durch Übung zu erwerbende Kunstfertigkeit, geleitet von
dem eingebornen oder durch die Überlieferung des Dorfes geschulten Geschmack,
und von dieser Seite steht selbst der Altsbildung und Bethätigung eines bäuer¬
lichen oder doch rein ländlichen Kunstsinnes nichts im Wege. Das lange Werk¬
holz bietet in feiner Aufstellung, Lagerung und Schichtung eine Menge Möglich¬
keiten, die zum Nachdenken anleiten, und die vorstehenden und abgeschnittenen
Balkenköpfe und die Enden der Windbretter an den Giebeln und ähnliches
fordern den Kunstsinn und Geschmack des Bauern, wenn er überhaupt da ist,
geradezu heraus. Hat man doch sogar von balltechnischer Seite behaupten
wollen, daß die Pferdeköpfe an den Windbrettern des sächsischen Hauses ihren
Ursprung lediglich einem "Stilgesetz" verdanken, demzufolge jedes Werk der
schaffenden Menschenhand den Eindruck des Fertigen und Abgeschlossenen in
einer dem Auge leicht erkennbaren Weise machen müßte. Nichts von alledem
beim Steinbau. Der eckige kleine Stein kann nur geschichtet werden und birgt
kein Leben in sich wie das Holz. Die tote Steinwand muß künstlich belebt
werden: um sie wirkungsvoll zu gestalten, kommt man mit einem Handwerk


Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde

Werdens, das die Willkür des Einzelnen machtvoll bannt unter die Herrschaft
gemeiner Sitte und Anschauung.

In dieser fortlaufenden Entwicklung, die alles von außen zugeführte ver¬
möge ihrer innewohnenden Kraft auflöst und verarbeitet, liegt abermals ein
Zug der Natur, den weder die slawischen noch die romanischen Ansiedlungen
erkennen lassen. So verschieden sie sonst sind, sie bedrücken uns mit dem
gleichen Gefühle des langweiligen Einerlei: die gestaltlose Blockhütte eines
Polnischen oder russischen Bauern kann man ebensowenig nach ihrer Geschichte
fragen, wie es möglich ist, von den öden, fast fensterlosen, oben abgeschnittenen
Steinmauern italienischer Dörfer eine Entwicklung abzulesen. Das deutsche
Dorf bildet hierin die glückliche Mitte zwischen dem romanischen Südwesten, wo
die Dörfer einen städtischen Anstrich zeigen, und dem slawischen Osten, wo
umgekehrt die Städte häufig nichts andres find als riesenhafte Dörfer. Diese
Eigenart unsers Dorfes würde sich nicht so lebensvoll aufdrängen, wenn es
nicht bis auf unsre Tage an dem Holzbau festgehalten Hütte: überall steht
unser Bauernhaus noch mit seinen Füßen im Walde, wenn auch sein Haupt
die alte moosbewachsene Strohkappe abgeworfen hat. Wenn die Dörfer des
slawischen Ostens einen so einförmigen Anblick gewähren, fo liegt das
darin, daß sie im struppigen Urwalde stecken geblieben sind, daß sie sich
bei der Starrheit slawischer Art nicht haben entwickeln wollen; bei den ro¬
manischen hat das gleiche Verhältnis seinen Grund darin, daß sie bei ihrem
Steinbau sich nicht haben entwickeln können. Denn für den ländlichen Ban
bietet nur das Holz die Möglichkeit einer selbständigen und lebendigen Ent¬
wicklung. Zur Bearbeitung und künstlerischen Behandlung des Holzes geniigen
die Werkzeuge und Kenntnisse des einfachen ländlichen Zimmermannshandwerkes,
es genügt eine bloße, durch Übung zu erwerbende Kunstfertigkeit, geleitet von
dem eingebornen oder durch die Überlieferung des Dorfes geschulten Geschmack,
und von dieser Seite steht selbst der Altsbildung und Bethätigung eines bäuer¬
lichen oder doch rein ländlichen Kunstsinnes nichts im Wege. Das lange Werk¬
holz bietet in feiner Aufstellung, Lagerung und Schichtung eine Menge Möglich¬
keiten, die zum Nachdenken anleiten, und die vorstehenden und abgeschnittenen
Balkenköpfe und die Enden der Windbretter an den Giebeln und ähnliches
fordern den Kunstsinn und Geschmack des Bauern, wenn er überhaupt da ist,
geradezu heraus. Hat man doch sogar von balltechnischer Seite behaupten
wollen, daß die Pferdeköpfe an den Windbrettern des sächsischen Hauses ihren
Ursprung lediglich einem „Stilgesetz" verdanken, demzufolge jedes Werk der
schaffenden Menschenhand den Eindruck des Fertigen und Abgeschlossenen in
einer dem Auge leicht erkennbaren Weise machen müßte. Nichts von alledem
beim Steinbau. Der eckige kleine Stein kann nur geschichtet werden und birgt
kein Leben in sich wie das Holz. Die tote Steinwand muß künstlich belebt
werden: um sie wirkungsvoll zu gestalten, kommt man mit einem Handwerk


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0365" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/205096"/>
            <fw type="header" place="top"> Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1001" prev="#ID_1000"> Werdens, das die Willkür des Einzelnen machtvoll bannt unter die Herrschaft<lb/>
gemeiner Sitte und Anschauung.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1002" next="#ID_1003"> In dieser fortlaufenden Entwicklung, die alles von außen zugeführte ver¬<lb/>
möge ihrer innewohnenden Kraft auflöst und verarbeitet, liegt abermals ein<lb/>
Zug der Natur, den weder die slawischen noch die romanischen Ansiedlungen<lb/>
erkennen lassen. So verschieden sie sonst sind, sie bedrücken uns mit dem<lb/>
gleichen Gefühle des langweiligen Einerlei: die gestaltlose Blockhütte eines<lb/>
Polnischen oder russischen Bauern kann man ebensowenig nach ihrer Geschichte<lb/>
fragen, wie es möglich ist, von den öden, fast fensterlosen, oben abgeschnittenen<lb/>
Steinmauern italienischer Dörfer eine Entwicklung abzulesen. Das deutsche<lb/>
Dorf bildet hierin die glückliche Mitte zwischen dem romanischen Südwesten, wo<lb/>
die Dörfer einen städtischen Anstrich zeigen, und dem slawischen Osten, wo<lb/>
umgekehrt die Städte häufig nichts andres find als riesenhafte Dörfer. Diese<lb/>
Eigenart unsers Dorfes würde sich nicht so lebensvoll aufdrängen, wenn es<lb/>
nicht bis auf unsre Tage an dem Holzbau festgehalten Hütte: überall steht<lb/>
unser Bauernhaus noch mit seinen Füßen im Walde, wenn auch sein Haupt<lb/>
die alte moosbewachsene Strohkappe abgeworfen hat. Wenn die Dörfer des<lb/>
slawischen Ostens einen so einförmigen Anblick gewähren, fo liegt das<lb/>
darin, daß sie im struppigen Urwalde stecken geblieben sind, daß sie sich<lb/>
bei der Starrheit slawischer Art nicht haben entwickeln wollen; bei den ro¬<lb/>
manischen hat das gleiche Verhältnis seinen Grund darin, daß sie bei ihrem<lb/>
Steinbau sich nicht haben entwickeln können. Denn für den ländlichen Ban<lb/>
bietet nur das Holz die Möglichkeit einer selbständigen und lebendigen Ent¬<lb/>
wicklung. Zur Bearbeitung und künstlerischen Behandlung des Holzes geniigen<lb/>
die Werkzeuge und Kenntnisse des einfachen ländlichen Zimmermannshandwerkes,<lb/>
es genügt eine bloße, durch Übung zu erwerbende Kunstfertigkeit, geleitet von<lb/>
dem eingebornen oder durch die Überlieferung des Dorfes geschulten Geschmack,<lb/>
und von dieser Seite steht selbst der Altsbildung und Bethätigung eines bäuer¬<lb/>
lichen oder doch rein ländlichen Kunstsinnes nichts im Wege. Das lange Werk¬<lb/>
holz bietet in feiner Aufstellung, Lagerung und Schichtung eine Menge Möglich¬<lb/>
keiten, die zum Nachdenken anleiten, und die vorstehenden und abgeschnittenen<lb/>
Balkenköpfe und die Enden der Windbretter an den Giebeln und ähnliches<lb/>
fordern den Kunstsinn und Geschmack des Bauern, wenn er überhaupt da ist,<lb/>
geradezu heraus. Hat man doch sogar von balltechnischer Seite behaupten<lb/>
wollen, daß die Pferdeköpfe an den Windbrettern des sächsischen Hauses ihren<lb/>
Ursprung lediglich einem &#x201E;Stilgesetz" verdanken, demzufolge jedes Werk der<lb/>
schaffenden Menschenhand den Eindruck des Fertigen und Abgeschlossenen in<lb/>
einer dem Auge leicht erkennbaren Weise machen müßte. Nichts von alledem<lb/>
beim Steinbau. Der eckige kleine Stein kann nur geschichtet werden und birgt<lb/>
kein Leben in sich wie das Holz. Die tote Steinwand muß künstlich belebt<lb/>
werden: um sie wirkungsvoll zu gestalten, kommt man mit einem Handwerk</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0365] Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde Werdens, das die Willkür des Einzelnen machtvoll bannt unter die Herrschaft gemeiner Sitte und Anschauung. In dieser fortlaufenden Entwicklung, die alles von außen zugeführte ver¬ möge ihrer innewohnenden Kraft auflöst und verarbeitet, liegt abermals ein Zug der Natur, den weder die slawischen noch die romanischen Ansiedlungen erkennen lassen. So verschieden sie sonst sind, sie bedrücken uns mit dem gleichen Gefühle des langweiligen Einerlei: die gestaltlose Blockhütte eines Polnischen oder russischen Bauern kann man ebensowenig nach ihrer Geschichte fragen, wie es möglich ist, von den öden, fast fensterlosen, oben abgeschnittenen Steinmauern italienischer Dörfer eine Entwicklung abzulesen. Das deutsche Dorf bildet hierin die glückliche Mitte zwischen dem romanischen Südwesten, wo die Dörfer einen städtischen Anstrich zeigen, und dem slawischen Osten, wo umgekehrt die Städte häufig nichts andres find als riesenhafte Dörfer. Diese Eigenart unsers Dorfes würde sich nicht so lebensvoll aufdrängen, wenn es nicht bis auf unsre Tage an dem Holzbau festgehalten Hütte: überall steht unser Bauernhaus noch mit seinen Füßen im Walde, wenn auch sein Haupt die alte moosbewachsene Strohkappe abgeworfen hat. Wenn die Dörfer des slawischen Ostens einen so einförmigen Anblick gewähren, fo liegt das darin, daß sie im struppigen Urwalde stecken geblieben sind, daß sie sich bei der Starrheit slawischer Art nicht haben entwickeln wollen; bei den ro¬ manischen hat das gleiche Verhältnis seinen Grund darin, daß sie bei ihrem Steinbau sich nicht haben entwickeln können. Denn für den ländlichen Ban bietet nur das Holz die Möglichkeit einer selbständigen und lebendigen Ent¬ wicklung. Zur Bearbeitung und künstlerischen Behandlung des Holzes geniigen die Werkzeuge und Kenntnisse des einfachen ländlichen Zimmermannshandwerkes, es genügt eine bloße, durch Übung zu erwerbende Kunstfertigkeit, geleitet von dem eingebornen oder durch die Überlieferung des Dorfes geschulten Geschmack, und von dieser Seite steht selbst der Altsbildung und Bethätigung eines bäuer¬ lichen oder doch rein ländlichen Kunstsinnes nichts im Wege. Das lange Werk¬ holz bietet in feiner Aufstellung, Lagerung und Schichtung eine Menge Möglich¬ keiten, die zum Nachdenken anleiten, und die vorstehenden und abgeschnittenen Balkenköpfe und die Enden der Windbretter an den Giebeln und ähnliches fordern den Kunstsinn und Geschmack des Bauern, wenn er überhaupt da ist, geradezu heraus. Hat man doch sogar von balltechnischer Seite behaupten wollen, daß die Pferdeköpfe an den Windbrettern des sächsischen Hauses ihren Ursprung lediglich einem „Stilgesetz" verdanken, demzufolge jedes Werk der schaffenden Menschenhand den Eindruck des Fertigen und Abgeschlossenen in einer dem Auge leicht erkennbaren Weise machen müßte. Nichts von alledem beim Steinbau. Der eckige kleine Stein kann nur geschichtet werden und birgt kein Leben in sich wie das Holz. Die tote Steinwand muß künstlich belebt werden: um sie wirkungsvoll zu gestalten, kommt man mit einem Handwerk

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/365
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/365>, abgerufen am 05.02.2025.