Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.Nationalzoit, örtliche oder Iveltzeit? Zunächst die Sicherheit unsrer Zeitrechuilug. Wir sagen aus dem Kopfe: "Das eine Geschäft heißt Chronologie, sein Werkzeug ist der Kalender; das Ein glücklicher Zustand. Aber so ist es uicht immer gewesen. Im Talmud Aber auch nachdem das großartige Geschenk, das mit weitem Blick Julius W. Förster, Sammlung wissenschaftlicher VvrtrNge l. Bd. S. 69. L. Ideler, Handbuch der Chronologie 1. Bd. S. 571. Snniiedrin Bl. 11 S. 2. ^1 äivsrs. VII, 2. Ideler 2. Bd. S. 117. f) iVttio. V, 9. Ideler S. IIS.
Nationalzoit, örtliche oder Iveltzeit? Zunächst die Sicherheit unsrer Zeitrechuilug. Wir sagen aus dem Kopfe: „Das eine Geschäft heißt Chronologie, sein Werkzeug ist der Kalender; das Ein glücklicher Zustand. Aber so ist es uicht immer gewesen. Im Talmud Aber auch nachdem das großartige Geschenk, das mit weitem Blick Julius W. Förster, Sammlung wissenschaftlicher VvrtrNge l. Bd. S. 69. L. Ideler, Handbuch der Chronologie 1. Bd. S. 571. Snniiedrin Bl. 11 S. 2. ^1 äivsrs. VII, 2. Ideler 2. Bd. S. 117. f) iVttio. V, 9. Ideler S. IIS.
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Nationalzoit, örtliche oder Iveltzeit?
Zunächst die Sicherheit unsrer Zeitrechuilug. Wir sagen aus dem Kopfe:
Heute haben wir Freitag, deu 29. März 1889, und ferner, indem Nur die
Uhr ziehen: jetzt ists ^ ans 9 Uhr. Es plagt uns nicht der leiseste Zweifel,
wenn wir das sagen, sondern wir sagen mit derselben Sicherheit: Es ist der
29., als ob wir sagten: es regnet. Mit jedem neuen Morgen, wenn wir an
die Arbeit gehen, zählen wir einen neuen Tag. Und außerdem haben astro¬
nomische Wissenschaft und Herrschergewalt im Bunde schon längst ein zweifaches
Geschäft zum Abschluß gebracht: nämlich einerseits die Tage zusammengefaßt
in größere Gruppe» (Wochen, Monate, Jahre), anderseits den Tag selbst ein¬
geteilt in kleinere Bruchteile.
„Das eine Geschäft heißt Chronologie, sein Werkzeug ist der Kalender; das
andre heißt Hvrolvgie, sein Werkzeug ist die Uhr."") Kalender und Uhr hat
jedermann zur Hand und fühlt sich so völlig geborgen.
Ein glücklicher Zustand. Aber so ist es uicht immer gewesen. Im Talmud
ist uns ein merkwürdiger Brief aufbewahrt"^), deu der Nabbau Gamaliel, der
milde Lehrer des Apostels Paulus, an die Juden zu Babylon und in Medien
richtet. Er lautet: „Wir machen euch hiermit bekannt, daß wir, da die Tauben
zum Opfer zu zart und die Lämmer zum Passah noch zu jung sind, im Berein
mit unsern Amtsgenossen für nötig erachtet haben, dem Jahre dreißig Tage
zuzulegen." Dies erfuhren also die babylonischen Geschäftsinhaber ganz kurz
vor dein Eintritt des Schaltmonats. Fast noch merkwürdiger sind Briefe des
Cieero aus Kleinasien an seinen Freund Atticus und andre Bekannte in Rom.
Er schreibt^*): Täglich flehe ich, daß Heuer kein Monat eingeschaltet werde.
(Er hatte nämlich den sehnlicher Wunsch, heimzukehren.) Und an andrer
steiles) legt er dem Atticus nahe, ob er nicht bei den Pontifices ein übriges
thun könne, die Einschaltung zu hintertreiben. Und doch war dieser über deu
etwaigen Schaltmonat völlig im unklaren befindliche Briefschreiber kein welt¬
fremder Privatmann, sondern der Statthalter einer großen römische» Provinz.
Man versuche einmal, sich vorzustellen, ein preußischer Oberprüsideut hätte keine
Ahnung davon, ob das laufende Jahr 360 oder 390 Tage haben würde!
Aber auch nachdem das großartige Geschenk, das mit weitem Blick Julius
Cäsar den fernsten Geschlechtern durch seinen Julinuischeu Kalender (seit dein
1. Januar 45 v. Chr.) gemacht hatte, in Besitz genommen war, und die zweite
römische Weltherrschaft, die päpstliche, diesen Kalender dem ganzen Abendlnnde
überliefert hatte, auch nachdem (532 u. Chr.) der Abt Dionys die Jahres-
zählnng von Christi Geburt an durchgesetzt, und nachdem Papst Gregor (1532)
die kleine noch nötige Kaleuderverbesserung eingeführt hatte, die dann auch die
W. Förster, Sammlung wissenschaftlicher VvrtrNge l. Bd. S. 69.
L. Ideler, Handbuch der Chronologie 1. Bd. S. 571. Snniiedrin Bl. 11 S. 2.
^1 äivsrs. VII, 2. Ideler 2. Bd. S. 117.
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