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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde

Reiz für uns nicht verloren. Noch immer, wenn wir den Staub des Alltags¬
lebens von den Füßen schütteln und zum Wanderstnbe greifen, fühlen wir uns
eigenartig berührt von dein Zauber, den die alte deutsche Landschaft birgt in
dem einfachen, schmucklosen Gewände, womit sie uns wie eine treue Mutter
umfängt, hütet und pflegt.

Worin liegt, fragen wir, dieser Reiz beschlossen?

Mit Ausnahme der Alpen, die um unsern südlichsten Grenzen liegen und
uns erst in neuester Zeit durch die Eisenbahnen näher gerückt siud, zeigt die
Oberflächengestnltung der deutschen Landschaft nnr an wenigen Orten schroffe
Gegensätze, kühne Linien, erhabene Bilder und augenfällige Schönheit. Die
deutsche Landschaft ist ebenso wenig schon zu nennen wie die deutsche Jung¬
frau, aber sie ist, wie diese, fast überall anmutig und lieblich. Das höchste
Lob, das wir ihr spenden können, beschränkt sich auf einen anziehenden und
gefälligen Wechsel von Berg und Thal, von Wäldern, Feldern und Wasser¬
läufen. Vor allem besteht die Eigentümlichkeit unsrer Landschaft aber in dein
innigen und freundschaftlichen Verhältnis, worin bei uns die Kultur, der
menschliche Aubau, zur Natur steht. In keinem andern Lande unsers Erdteils,
kann man sagen, haben sich beide bis ans den heutigen Tag so gut mit einander
vertragen, sich so in einander eingelebt -- um bei dem Bilde zu bleiben, wie
in einer rechten Ehe verbunden, in der der Mann den andern Teil nicht zu
gemeinen und niedrigen Knechtsdiensten herabwürdigt und mißhandelt, sondern
ihn an seiner Stelle achtet und ehrt, ihn nicht nur für bestimmt hält, ihm zu
dienen, sondern auch für berufen, ihn zu erfrischen und zu stärken, und ihm
nach gethaner Arbeit den Schweiß von der Stirn zu trocknen. Mit besondrer
Deutlichkeit spricht sich die Eigenart dieses Verhältnisses aus in der Stellung
des Deutschen zum grünen Walde, den, wie schon eine alte französische
Quelle aus Burgund bemerkt, der Deutsche liebt und hegt, während ihn der
Franzose -- und, kann man füglich hinzufügen, der Romane überhaupt --
haßt und vernichtet/") Nur bei uns trifft es zu, daß die Kultur die Natur
Nieder erdrückt, wie in den meisten Gegenden von England und Frankreich,
noch sich in ihr verliert und von ihr nur geduldet scheint, wie weithin in
Nußland und Skandinavien, oder endlich daß die Kultur die Natur ausge¬
raubt und verwüstet hat, wie in den waldentblößten, wasserarmen Gebirgen
Spaniens und Griechenlands. Nirgends, in keiner andern Landschaft, stehen
wir so sehr unter dem Eindrucke, daß der Mensch die wilde Natur gezähmt



*) Keines der unzählbaren neapolitanischen L"n2pill xoxulari, sagt Trete (Allgemeine
Zeitung, München, 1888, Ur. 27) redet von dem schönen Wald oder prächtigen Baum, denn
das Volk kennt Wald- und Banmfrcunde nicht und demselben bleibt es unverständlich, wie
ein deutsches Volkslied einen Vogel ansingen kann, der auf dem Baum sitzt. "Da sitzt ein
kleiner Vogel drauf, der pfeift gar wunderschön." Der Deutsche lauscht auf den kleinen
Vogel, der Neapolitaner (und der Italiener überhaupt) schießt ihn nieder.
Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde

Reiz für uns nicht verloren. Noch immer, wenn wir den Staub des Alltags¬
lebens von den Füßen schütteln und zum Wanderstnbe greifen, fühlen wir uns
eigenartig berührt von dein Zauber, den die alte deutsche Landschaft birgt in
dem einfachen, schmucklosen Gewände, womit sie uns wie eine treue Mutter
umfängt, hütet und pflegt.

Worin liegt, fragen wir, dieser Reiz beschlossen?

Mit Ausnahme der Alpen, die um unsern südlichsten Grenzen liegen und
uns erst in neuester Zeit durch die Eisenbahnen näher gerückt siud, zeigt die
Oberflächengestnltung der deutschen Landschaft nnr an wenigen Orten schroffe
Gegensätze, kühne Linien, erhabene Bilder und augenfällige Schönheit. Die
deutsche Landschaft ist ebenso wenig schon zu nennen wie die deutsche Jung¬
frau, aber sie ist, wie diese, fast überall anmutig und lieblich. Das höchste
Lob, das wir ihr spenden können, beschränkt sich auf einen anziehenden und
gefälligen Wechsel von Berg und Thal, von Wäldern, Feldern und Wasser¬
läufen. Vor allem besteht die Eigentümlichkeit unsrer Landschaft aber in dein
innigen und freundschaftlichen Verhältnis, worin bei uns die Kultur, der
menschliche Aubau, zur Natur steht. In keinem andern Lande unsers Erdteils,
kann man sagen, haben sich beide bis ans den heutigen Tag so gut mit einander
vertragen, sich so in einander eingelebt — um bei dem Bilde zu bleiben, wie
in einer rechten Ehe verbunden, in der der Mann den andern Teil nicht zu
gemeinen und niedrigen Knechtsdiensten herabwürdigt und mißhandelt, sondern
ihn an seiner Stelle achtet und ehrt, ihn nicht nur für bestimmt hält, ihm zu
dienen, sondern auch für berufen, ihn zu erfrischen und zu stärken, und ihm
nach gethaner Arbeit den Schweiß von der Stirn zu trocknen. Mit besondrer
Deutlichkeit spricht sich die Eigenart dieses Verhältnisses aus in der Stellung
des Deutschen zum grünen Walde, den, wie schon eine alte französische
Quelle aus Burgund bemerkt, der Deutsche liebt und hegt, während ihn der
Franzose — und, kann man füglich hinzufügen, der Romane überhaupt —
haßt und vernichtet/") Nur bei uns trifft es zu, daß die Kultur die Natur
Nieder erdrückt, wie in den meisten Gegenden von England und Frankreich,
noch sich in ihr verliert und von ihr nur geduldet scheint, wie weithin in
Nußland und Skandinavien, oder endlich daß die Kultur die Natur ausge¬
raubt und verwüstet hat, wie in den waldentblößten, wasserarmen Gebirgen
Spaniens und Griechenlands. Nirgends, in keiner andern Landschaft, stehen
wir so sehr unter dem Eindrucke, daß der Mensch die wilde Natur gezähmt



*) Keines der unzählbaren neapolitanischen L«n2pill xoxulari, sagt Trete (Allgemeine
Zeitung, München, 1888, Ur. 27) redet von dem schönen Wald oder prächtigen Baum, denn
das Volk kennt Wald- und Banmfrcunde nicht und demselben bleibt es unverständlich, wie
ein deutsches Volkslied einen Vogel ansingen kann, der auf dem Baum sitzt. „Da sitzt ein
kleiner Vogel drauf, der pfeift gar wunderschön." Der Deutsche lauscht auf den kleinen
Vogel, der Neapolitaner (und der Italiener überhaupt) schießt ihn nieder.
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[0264] Das alte Dorf in deutscher Landschaft und sein Lüde Reiz für uns nicht verloren. Noch immer, wenn wir den Staub des Alltags¬ lebens von den Füßen schütteln und zum Wanderstnbe greifen, fühlen wir uns eigenartig berührt von dein Zauber, den die alte deutsche Landschaft birgt in dem einfachen, schmucklosen Gewände, womit sie uns wie eine treue Mutter umfängt, hütet und pflegt. Worin liegt, fragen wir, dieser Reiz beschlossen? Mit Ausnahme der Alpen, die um unsern südlichsten Grenzen liegen und uns erst in neuester Zeit durch die Eisenbahnen näher gerückt siud, zeigt die Oberflächengestnltung der deutschen Landschaft nnr an wenigen Orten schroffe Gegensätze, kühne Linien, erhabene Bilder und augenfällige Schönheit. Die deutsche Landschaft ist ebenso wenig schon zu nennen wie die deutsche Jung¬ frau, aber sie ist, wie diese, fast überall anmutig und lieblich. Das höchste Lob, das wir ihr spenden können, beschränkt sich auf einen anziehenden und gefälligen Wechsel von Berg und Thal, von Wäldern, Feldern und Wasser¬ läufen. Vor allem besteht die Eigentümlichkeit unsrer Landschaft aber in dein innigen und freundschaftlichen Verhältnis, worin bei uns die Kultur, der menschliche Aubau, zur Natur steht. In keinem andern Lande unsers Erdteils, kann man sagen, haben sich beide bis ans den heutigen Tag so gut mit einander vertragen, sich so in einander eingelebt — um bei dem Bilde zu bleiben, wie in einer rechten Ehe verbunden, in der der Mann den andern Teil nicht zu gemeinen und niedrigen Knechtsdiensten herabwürdigt und mißhandelt, sondern ihn an seiner Stelle achtet und ehrt, ihn nicht nur für bestimmt hält, ihm zu dienen, sondern auch für berufen, ihn zu erfrischen und zu stärken, und ihm nach gethaner Arbeit den Schweiß von der Stirn zu trocknen. Mit besondrer Deutlichkeit spricht sich die Eigenart dieses Verhältnisses aus in der Stellung des Deutschen zum grünen Walde, den, wie schon eine alte französische Quelle aus Burgund bemerkt, der Deutsche liebt und hegt, während ihn der Franzose — und, kann man füglich hinzufügen, der Romane überhaupt — haßt und vernichtet/") Nur bei uns trifft es zu, daß die Kultur die Natur Nieder erdrückt, wie in den meisten Gegenden von England und Frankreich, noch sich in ihr verliert und von ihr nur geduldet scheint, wie weithin in Nußland und Skandinavien, oder endlich daß die Kultur die Natur ausge¬ raubt und verwüstet hat, wie in den waldentblößten, wasserarmen Gebirgen Spaniens und Griechenlands. Nirgends, in keiner andern Landschaft, stehen wir so sehr unter dem Eindrucke, daß der Mensch die wilde Natur gezähmt *) Keines der unzählbaren neapolitanischen L«n2pill xoxulari, sagt Trete (Allgemeine Zeitung, München, 1888, Ur. 27) redet von dem schönen Wald oder prächtigen Baum, denn das Volk kennt Wald- und Banmfrcunde nicht und demselben bleibt es unverständlich, wie ein deutsches Volkslied einen Vogel ansingen kann, der auf dem Baum sitzt. „Da sitzt ein kleiner Vogel drauf, der pfeift gar wunderschön." Der Deutsche lauscht auf den kleinen Vogel, der Neapolitaner (und der Italiener überhaupt) schießt ihn nieder.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/264>, abgerufen am 05.02.2025.