Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
wiener Litteratur

lind Heidelberg (hier zu Julius Braun -- auch eiuer aus dem "Engereu"), nach
Italien, Frankreich und Spanien. Läufer erzählt einfach, männlich, mit
trockener Lanne.

Die zwei beliebtesten Vertreter des Wiener Lokalhnmors, der sich in das
Feuilleton der Wiener Tagesblätter geflüchtet hat, sind Eduard Pötzl und
Vincenz Chiavncei; beide haben ihre Plaudereien und Schildereien schon öfter
mit Erfolg in Buchform gesammelt und sich auch außerhalb der Heimat
Freunde geworben. Von Pötzl liegt die neueste Sammlung unter dem Titel:
Herr Nigerl und lauter solche Sachen. Gesammelte Wiener Schildereien
(Wien und Teschen, Prochnska) vor; von Chiavacei: Bei uns z'Haus,
Genrebilder aus dem Wiener Leben (ebenda).

Diese zwei Humoristen bilden merkwürdige Gegensätze, schon im Blute liegt
der Unterschied, aber auch in allem übrigen. Vor allem bezeichnend für ihren
Unterschied sind die verschiedenen Bezirke der Stadt Wien, wo sich die Phantasie
des einen wie des andern mit Vorliebe aufhält. Pötzl bleibt mit Vorliebe in
der innern Stadt, d. h. in dem durch seine engen Gassen und seine alten
lauschigen Wirtshäuser einerseits, anderseits dnrch die große, breite, prächtige
Ringstraße charakteristischen Teile Wiens. Hier ist der Strom des Stadtlebens
am stärksten, alle Neuerungen tauchen hier zuerst auf; hier wohnen die reichen Leute,
hier bestehen die wichtigsten öffentlichen Anstalten, hier nisten die Redaktionen. Hier
bewegt sich Pötzl ganz heimisch. Für sein Stillleben in der Großstadt hat er hier,
wo "och große und uralte Häuser bestehen, seiue dankbarsten Motive gefunden.
Von der Ringstraße holt er sich die Typen für seine Wiener "Gigerl," die
Modegecken, um sie durchzuhecheln; "Rund um den Stephausturm" hat er
deshalb eine seiner früherett Sammlungen genannt. Chiavaccis Muse macht
breitere Schritte, wie sie überhaupt markiger und massiger auftritt. Er sucht
mit Vorliebe das eigentliche Volksleben auf, nicht wie es sich erst seit gestern
darstellt, sondern in seiner ältesten Form und Überlieferung. Darum geht
er weit hinaus in die Vorstadt zu den Leuten "vom Grund" und sucht ganz
im Gegensatze zu Pötzl nicht die Gigerln, sondern die älteste Großmutter auf,
die sich uoch an die erste Hälfte des Jahrhunderts erinnert. Das ist der
wesentliche Unterschied beider: der eine ein scharfbeobachtender, täglich neue
Thorheiten entdeckender Satiriker, der andre ein dichterischer Volksmann. Pötzls
litterarischer Ausgangspunkt war in der That anch gar nicht von Wien; Pötzl
hatte sich in Dickens eingelesen, mit dem er ohne Zweifel wnhlverwandt ist;
auch im äußeren Schicksal gleicht er ihm, da auch Pötzl sich wie Dickens vom
Zeitungsreporter zu selbständigem litterarischen Schüffen aufgeschwungen hat.
Unerschöpflich ist Pötzl in der Erfindung von köstlichen Schnurren, der heiteren
Erfindung mit keiner rudern Absicht, als eben zu belustigen. Sehr lange
Zeit hat er Kriminalhumvresken geschrieben, in denen er nur sparsam den
Dialekt verwendete. Chiavaccis Ausgang wurzelt mehr im heimischen Erdreich,


wiener Litteratur

lind Heidelberg (hier zu Julius Braun — auch eiuer aus dem „Engereu"), nach
Italien, Frankreich und Spanien. Läufer erzählt einfach, männlich, mit
trockener Lanne.

Die zwei beliebtesten Vertreter des Wiener Lokalhnmors, der sich in das
Feuilleton der Wiener Tagesblätter geflüchtet hat, sind Eduard Pötzl und
Vincenz Chiavncei; beide haben ihre Plaudereien und Schildereien schon öfter
mit Erfolg in Buchform gesammelt und sich auch außerhalb der Heimat
Freunde geworben. Von Pötzl liegt die neueste Sammlung unter dem Titel:
Herr Nigerl und lauter solche Sachen. Gesammelte Wiener Schildereien
(Wien und Teschen, Prochnska) vor; von Chiavacei: Bei uns z'Haus,
Genrebilder aus dem Wiener Leben (ebenda).

Diese zwei Humoristen bilden merkwürdige Gegensätze, schon im Blute liegt
der Unterschied, aber auch in allem übrigen. Vor allem bezeichnend für ihren
Unterschied sind die verschiedenen Bezirke der Stadt Wien, wo sich die Phantasie
des einen wie des andern mit Vorliebe aufhält. Pötzl bleibt mit Vorliebe in
der innern Stadt, d. h. in dem durch seine engen Gassen und seine alten
lauschigen Wirtshäuser einerseits, anderseits dnrch die große, breite, prächtige
Ringstraße charakteristischen Teile Wiens. Hier ist der Strom des Stadtlebens
am stärksten, alle Neuerungen tauchen hier zuerst auf; hier wohnen die reichen Leute,
hier bestehen die wichtigsten öffentlichen Anstalten, hier nisten die Redaktionen. Hier
bewegt sich Pötzl ganz heimisch. Für sein Stillleben in der Großstadt hat er hier,
wo «och große und uralte Häuser bestehen, seiue dankbarsten Motive gefunden.
Von der Ringstraße holt er sich die Typen für seine Wiener „Gigerl," die
Modegecken, um sie durchzuhecheln; „Rund um den Stephausturm" hat er
deshalb eine seiner früherett Sammlungen genannt. Chiavaccis Muse macht
breitere Schritte, wie sie überhaupt markiger und massiger auftritt. Er sucht
mit Vorliebe das eigentliche Volksleben auf, nicht wie es sich erst seit gestern
darstellt, sondern in seiner ältesten Form und Überlieferung. Darum geht
er weit hinaus in die Vorstadt zu den Leuten „vom Grund" und sucht ganz
im Gegensatze zu Pötzl nicht die Gigerln, sondern die älteste Großmutter auf,
die sich uoch an die erste Hälfte des Jahrhunderts erinnert. Das ist der
wesentliche Unterschied beider: der eine ein scharfbeobachtender, täglich neue
Thorheiten entdeckender Satiriker, der andre ein dichterischer Volksmann. Pötzls
litterarischer Ausgangspunkt war in der That anch gar nicht von Wien; Pötzl
hatte sich in Dickens eingelesen, mit dem er ohne Zweifel wnhlverwandt ist;
auch im äußeren Schicksal gleicht er ihm, da auch Pötzl sich wie Dickens vom
Zeitungsreporter zu selbständigem litterarischen Schüffen aufgeschwungen hat.
Unerschöpflich ist Pötzl in der Erfindung von köstlichen Schnurren, der heiteren
Erfindung mit keiner rudern Absicht, als eben zu belustigen. Sehr lange
Zeit hat er Kriminalhumvresken geschrieben, in denen er nur sparsam den
Dialekt verwendete. Chiavaccis Ausgang wurzelt mehr im heimischen Erdreich,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0239" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204970"/>
          <fw type="header" place="top"> wiener Litteratur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_623" prev="#ID_622"> lind Heidelberg (hier zu Julius Braun &#x2014; auch eiuer aus dem &#x201E;Engereu"), nach<lb/>
Italien, Frankreich und Spanien. Läufer erzählt einfach, männlich, mit<lb/>
trockener Lanne.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_624"> Die zwei beliebtesten Vertreter des Wiener Lokalhnmors, der sich in das<lb/>
Feuilleton der Wiener Tagesblätter geflüchtet hat, sind Eduard Pötzl und<lb/>
Vincenz Chiavncei; beide haben ihre Plaudereien und Schildereien schon öfter<lb/>
mit Erfolg in Buchform gesammelt und sich auch außerhalb der Heimat<lb/>
Freunde geworben. Von Pötzl liegt die neueste Sammlung unter dem Titel:<lb/>
Herr Nigerl und lauter solche Sachen. Gesammelte Wiener Schildereien<lb/>
(Wien und Teschen, Prochnska) vor; von Chiavacei: Bei uns z'Haus,<lb/>
Genrebilder aus dem Wiener Leben (ebenda).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_625" next="#ID_626"> Diese zwei Humoristen bilden merkwürdige Gegensätze, schon im Blute liegt<lb/>
der Unterschied, aber auch in allem übrigen. Vor allem bezeichnend für ihren<lb/>
Unterschied sind die verschiedenen Bezirke der Stadt Wien, wo sich die Phantasie<lb/>
des einen wie des andern mit Vorliebe aufhält. Pötzl bleibt mit Vorliebe in<lb/>
der innern Stadt, d. h. in dem durch seine engen Gassen und seine alten<lb/>
lauschigen Wirtshäuser einerseits, anderseits dnrch die große, breite, prächtige<lb/>
Ringstraße charakteristischen Teile Wiens. Hier ist der Strom des Stadtlebens<lb/>
am stärksten, alle Neuerungen tauchen hier zuerst auf; hier wohnen die reichen Leute,<lb/>
hier bestehen die wichtigsten öffentlichen Anstalten, hier nisten die Redaktionen. Hier<lb/>
bewegt sich Pötzl ganz heimisch. Für sein Stillleben in der Großstadt hat er hier,<lb/>
wo «och große und uralte Häuser bestehen, seiue dankbarsten Motive gefunden.<lb/>
Von der Ringstraße holt er sich die Typen für seine Wiener &#x201E;Gigerl," die<lb/>
Modegecken, um sie durchzuhecheln; &#x201E;Rund um den Stephausturm" hat er<lb/>
deshalb eine seiner früherett Sammlungen genannt. Chiavaccis Muse macht<lb/>
breitere Schritte, wie sie überhaupt markiger und massiger auftritt. Er sucht<lb/>
mit Vorliebe das eigentliche Volksleben auf, nicht wie es sich erst seit gestern<lb/>
darstellt, sondern in seiner ältesten Form und Überlieferung. Darum geht<lb/>
er weit hinaus in die Vorstadt zu den Leuten &#x201E;vom Grund" und sucht ganz<lb/>
im Gegensatze zu Pötzl nicht die Gigerln, sondern die älteste Großmutter auf,<lb/>
die sich uoch an die erste Hälfte des Jahrhunderts erinnert. Das ist der<lb/>
wesentliche Unterschied beider: der eine ein scharfbeobachtender, täglich neue<lb/>
Thorheiten entdeckender Satiriker, der andre ein dichterischer Volksmann. Pötzls<lb/>
litterarischer Ausgangspunkt war in der That anch gar nicht von Wien; Pötzl<lb/>
hatte sich in Dickens eingelesen, mit dem er ohne Zweifel wnhlverwandt ist;<lb/>
auch im äußeren Schicksal gleicht er ihm, da auch Pötzl sich wie Dickens vom<lb/>
Zeitungsreporter zu selbständigem litterarischen Schüffen aufgeschwungen hat.<lb/>
Unerschöpflich ist Pötzl in der Erfindung von köstlichen Schnurren, der heiteren<lb/>
Erfindung mit keiner rudern Absicht, als eben zu belustigen. Sehr lange<lb/>
Zeit hat er Kriminalhumvresken geschrieben, in denen er nur sparsam den<lb/>
Dialekt verwendete.  Chiavaccis Ausgang wurzelt mehr im heimischen Erdreich,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0239] wiener Litteratur lind Heidelberg (hier zu Julius Braun — auch eiuer aus dem „Engereu"), nach Italien, Frankreich und Spanien. Läufer erzählt einfach, männlich, mit trockener Lanne. Die zwei beliebtesten Vertreter des Wiener Lokalhnmors, der sich in das Feuilleton der Wiener Tagesblätter geflüchtet hat, sind Eduard Pötzl und Vincenz Chiavncei; beide haben ihre Plaudereien und Schildereien schon öfter mit Erfolg in Buchform gesammelt und sich auch außerhalb der Heimat Freunde geworben. Von Pötzl liegt die neueste Sammlung unter dem Titel: Herr Nigerl und lauter solche Sachen. Gesammelte Wiener Schildereien (Wien und Teschen, Prochnska) vor; von Chiavacei: Bei uns z'Haus, Genrebilder aus dem Wiener Leben (ebenda). Diese zwei Humoristen bilden merkwürdige Gegensätze, schon im Blute liegt der Unterschied, aber auch in allem übrigen. Vor allem bezeichnend für ihren Unterschied sind die verschiedenen Bezirke der Stadt Wien, wo sich die Phantasie des einen wie des andern mit Vorliebe aufhält. Pötzl bleibt mit Vorliebe in der innern Stadt, d. h. in dem durch seine engen Gassen und seine alten lauschigen Wirtshäuser einerseits, anderseits dnrch die große, breite, prächtige Ringstraße charakteristischen Teile Wiens. Hier ist der Strom des Stadtlebens am stärksten, alle Neuerungen tauchen hier zuerst auf; hier wohnen die reichen Leute, hier bestehen die wichtigsten öffentlichen Anstalten, hier nisten die Redaktionen. Hier bewegt sich Pötzl ganz heimisch. Für sein Stillleben in der Großstadt hat er hier, wo «och große und uralte Häuser bestehen, seiue dankbarsten Motive gefunden. Von der Ringstraße holt er sich die Typen für seine Wiener „Gigerl," die Modegecken, um sie durchzuhecheln; „Rund um den Stephausturm" hat er deshalb eine seiner früherett Sammlungen genannt. Chiavaccis Muse macht breitere Schritte, wie sie überhaupt markiger und massiger auftritt. Er sucht mit Vorliebe das eigentliche Volksleben auf, nicht wie es sich erst seit gestern darstellt, sondern in seiner ältesten Form und Überlieferung. Darum geht er weit hinaus in die Vorstadt zu den Leuten „vom Grund" und sucht ganz im Gegensatze zu Pötzl nicht die Gigerln, sondern die älteste Großmutter auf, die sich uoch an die erste Hälfte des Jahrhunderts erinnert. Das ist der wesentliche Unterschied beider: der eine ein scharfbeobachtender, täglich neue Thorheiten entdeckender Satiriker, der andre ein dichterischer Volksmann. Pötzls litterarischer Ausgangspunkt war in der That anch gar nicht von Wien; Pötzl hatte sich in Dickens eingelesen, mit dem er ohne Zweifel wnhlverwandt ist; auch im äußeren Schicksal gleicht er ihm, da auch Pötzl sich wie Dickens vom Zeitungsreporter zu selbständigem litterarischen Schüffen aufgeschwungen hat. Unerschöpflich ist Pötzl in der Erfindung von köstlichen Schnurren, der heiteren Erfindung mit keiner rudern Absicht, als eben zu belustigen. Sehr lange Zeit hat er Kriminalhumvresken geschrieben, in denen er nur sparsam den Dialekt verwendete. Chiavaccis Ausgang wurzelt mehr im heimischen Erdreich,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/239
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/239>, abgerufen am 05.02.2025.