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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Akademisches Studium und allgemeine Bildung

und die Gedanken, die ich daran knüpfen möchte, naturgemäß an die kraftvolle
und eindringliche Rede an, in der vor Jahresfrist mein Vorgänger an dieser
Stelle die so viel geschmähten klassischen Studien als die unentbehrliche Grund¬
lage unsrer Bildung gegen den Ansturm ihrer realistischen Gegner verteidigte."!
Denn sicherlich wurde der Verzicht auf eine gründliche humanistische Bildung
als die Vorbedingung für das akademische Studium schließlich gleichbedeutend
sein mit dem Verzicht ans den humanistischen Charakter des akademischen Studiums
überhaupt und würde bald auch deu des akademischen Lebens völlig aufheben.

Und gerade für diesen humanistischen Charakter des akademischen Studiums
nud Lebeus möchte ich heute eintreten. Ehemals allgemein anerkannt und mit
Stolz geltend gemacht, hat er neuerdings bedenklich zu schwinden begonnen.
Und doch gehört er zum Wesen unsrer Universitäten, wie es geschichtlich ge¬
worden ist: sein Wegfall würde sie zu Fachschulen für bestimmte wissen¬
schaftliche Erwerbsarten erniedrige". Er allein kam? der deutschen Wissenschaft
auch für die Zukunft die breite, allgemein menschliche Grundlage sichern, die
sie zu einem Gemeingute der Gebildeten der Nation macht und weiten Kreisen
freudige Teilnahme an ihren Fortschritten ermöglicht. Nur auf dieser Grund¬
lage wird unsern studirten Kreisen jene schöne allgemeine Bildung erhalten
oder -- wiedergegeben werden können, um die wir Deutschen vom Auslande
nicht selten beneidet worden sind.

Offenbar hat die Vereinzelung auch derjenigen wissenschaftlichen Fächer,
die naturgemäß auf einander angewiesen sind, in neuerer Zeit bedenkliche Fort¬
schritte gemacht, und die wechselseitig anregende Lebensgemeinschaft, die gewisse
Gruppen verband, ist in dein Maße gelockert worden, daß unsre Universitäten,
einst trotz der Mannichfaltigkeit der ans ihnen vertretenen Wissenschaften ein¬
heitliche und lebendig thätige Organismen, sich je länger je mehr in Gruppen
von Einzelschulen auszulösen drohen, die bloß äußerlich znsammengeordnet sind,
einer wirklich innerlichen Verbindung aber entbehren.

Nur eine einseitige und eigennützige Auffassung wird sich dieser Wandlung
freuen können, denu auch sie entspringt der Geistesrichtung, die im Widerspruch
mit dein Gange unsrer Kulturentwicklung die moderne Bildung nicht auf das
klassische Altertum, sondern, in Überschätzung des allgemeinen BildnngswerteS
der exakten Methode, ans die jungen Errungenschaften der mathematisch-natilr-
wissenschaftUchen Fächer gründen will, weil sie vornehmlich auf das im Leben
unmittelbar praktisch Verwertbare ausgeht und so die Nützlichkeit zum Ma߬
stabe sür die Wertschätzung der Wissenschaft macht, es aber dabei nicht Wort
haben will, daß sie die Einheit der Wissenschaft leugnet und nnr noch Fach¬
wissenschaften gelten läßt, für die Universitäten aber den Grundsatz des Brvt-
studiums verkündet.



") PH- Zorn, Für das humanistische Gymnasium. Berlin n. Leipzig, I. Gnttcntag, 1888.
Akademisches Studium und allgemeine Bildung

und die Gedanken, die ich daran knüpfen möchte, naturgemäß an die kraftvolle
und eindringliche Rede an, in der vor Jahresfrist mein Vorgänger an dieser
Stelle die so viel geschmähten klassischen Studien als die unentbehrliche Grund¬
lage unsrer Bildung gegen den Ansturm ihrer realistischen Gegner verteidigte."!
Denn sicherlich wurde der Verzicht auf eine gründliche humanistische Bildung
als die Vorbedingung für das akademische Studium schließlich gleichbedeutend
sein mit dem Verzicht ans den humanistischen Charakter des akademischen Studiums
überhaupt und würde bald auch deu des akademischen Lebens völlig aufheben.

Und gerade für diesen humanistischen Charakter des akademischen Studiums
nud Lebeus möchte ich heute eintreten. Ehemals allgemein anerkannt und mit
Stolz geltend gemacht, hat er neuerdings bedenklich zu schwinden begonnen.
Und doch gehört er zum Wesen unsrer Universitäten, wie es geschichtlich ge¬
worden ist: sein Wegfall würde sie zu Fachschulen für bestimmte wissen¬
schaftliche Erwerbsarten erniedrige». Er allein kam? der deutschen Wissenschaft
auch für die Zukunft die breite, allgemein menschliche Grundlage sichern, die
sie zu einem Gemeingute der Gebildeten der Nation macht und weiten Kreisen
freudige Teilnahme an ihren Fortschritten ermöglicht. Nur auf dieser Grund¬
lage wird unsern studirten Kreisen jene schöne allgemeine Bildung erhalten
oder — wiedergegeben werden können, um die wir Deutschen vom Auslande
nicht selten beneidet worden sind.

Offenbar hat die Vereinzelung auch derjenigen wissenschaftlichen Fächer,
die naturgemäß auf einander angewiesen sind, in neuerer Zeit bedenkliche Fort¬
schritte gemacht, und die wechselseitig anregende Lebensgemeinschaft, die gewisse
Gruppen verband, ist in dein Maße gelockert worden, daß unsre Universitäten,
einst trotz der Mannichfaltigkeit der ans ihnen vertretenen Wissenschaften ein¬
heitliche und lebendig thätige Organismen, sich je länger je mehr in Gruppen
von Einzelschulen auszulösen drohen, die bloß äußerlich znsammengeordnet sind,
einer wirklich innerlichen Verbindung aber entbehren.

Nur eine einseitige und eigennützige Auffassung wird sich dieser Wandlung
freuen können, denu auch sie entspringt der Geistesrichtung, die im Widerspruch
mit dein Gange unsrer Kulturentwicklung die moderne Bildung nicht auf das
klassische Altertum, sondern, in Überschätzung des allgemeinen BildnngswerteS
der exakten Methode, ans die jungen Errungenschaften der mathematisch-natilr-
wissenschaftUchen Fächer gründen will, weil sie vornehmlich auf das im Leben
unmittelbar praktisch Verwertbare ausgeht und so die Nützlichkeit zum Ma߬
stabe sür die Wertschätzung der Wissenschaft macht, es aber dabei nicht Wort
haben will, daß sie die Einheit der Wissenschaft leugnet und nnr noch Fach¬
wissenschaften gelten läßt, für die Universitäten aber den Grundsatz des Brvt-
studiums verkündet.



") PH- Zorn, Für das humanistische Gymnasium. Berlin n. Leipzig, I. Gnttcntag, 1888.
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[0221] Akademisches Studium und allgemeine Bildung und die Gedanken, die ich daran knüpfen möchte, naturgemäß an die kraftvolle und eindringliche Rede an, in der vor Jahresfrist mein Vorgänger an dieser Stelle die so viel geschmähten klassischen Studien als die unentbehrliche Grund¬ lage unsrer Bildung gegen den Ansturm ihrer realistischen Gegner verteidigte."! Denn sicherlich wurde der Verzicht auf eine gründliche humanistische Bildung als die Vorbedingung für das akademische Studium schließlich gleichbedeutend sein mit dem Verzicht ans den humanistischen Charakter des akademischen Studiums überhaupt und würde bald auch deu des akademischen Lebens völlig aufheben. Und gerade für diesen humanistischen Charakter des akademischen Studiums nud Lebeus möchte ich heute eintreten. Ehemals allgemein anerkannt und mit Stolz geltend gemacht, hat er neuerdings bedenklich zu schwinden begonnen. Und doch gehört er zum Wesen unsrer Universitäten, wie es geschichtlich ge¬ worden ist: sein Wegfall würde sie zu Fachschulen für bestimmte wissen¬ schaftliche Erwerbsarten erniedrige». Er allein kam? der deutschen Wissenschaft auch für die Zukunft die breite, allgemein menschliche Grundlage sichern, die sie zu einem Gemeingute der Gebildeten der Nation macht und weiten Kreisen freudige Teilnahme an ihren Fortschritten ermöglicht. Nur auf dieser Grund¬ lage wird unsern studirten Kreisen jene schöne allgemeine Bildung erhalten oder — wiedergegeben werden können, um die wir Deutschen vom Auslande nicht selten beneidet worden sind. Offenbar hat die Vereinzelung auch derjenigen wissenschaftlichen Fächer, die naturgemäß auf einander angewiesen sind, in neuerer Zeit bedenkliche Fort¬ schritte gemacht, und die wechselseitig anregende Lebensgemeinschaft, die gewisse Gruppen verband, ist in dein Maße gelockert worden, daß unsre Universitäten, einst trotz der Mannichfaltigkeit der ans ihnen vertretenen Wissenschaften ein¬ heitliche und lebendig thätige Organismen, sich je länger je mehr in Gruppen von Einzelschulen auszulösen drohen, die bloß äußerlich znsammengeordnet sind, einer wirklich innerlichen Verbindung aber entbehren. Nur eine einseitige und eigennützige Auffassung wird sich dieser Wandlung freuen können, denu auch sie entspringt der Geistesrichtung, die im Widerspruch mit dein Gange unsrer Kulturentwicklung die moderne Bildung nicht auf das klassische Altertum, sondern, in Überschätzung des allgemeinen BildnngswerteS der exakten Methode, ans die jungen Errungenschaften der mathematisch-natilr- wissenschaftUchen Fächer gründen will, weil sie vornehmlich auf das im Leben unmittelbar praktisch Verwertbare ausgeht und so die Nützlichkeit zum Ma߬ stabe sür die Wertschätzung der Wissenschaft macht, es aber dabei nicht Wort haben will, daß sie die Einheit der Wissenschaft leugnet und nnr noch Fach¬ wissenschaften gelten läßt, für die Universitäten aber den Grundsatz des Brvt- studiums verkündet. ") PH- Zorn, Für das humanistische Gymnasium. Berlin n. Leipzig, I. Gnttcntag, 1888.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/221>, abgerufen am 05.02.2025.