Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.Wiener Litteratur deswegen merkwürdig! Die große Mehrzahl unsrer Schriftsteller gefällt sich Wiener Litteratur deswegen merkwürdig! Die große Mehrzahl unsrer Schriftsteller gefällt sich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0181" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204912"/> <fw type="header" place="top"> Wiener Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_441" prev="#ID_440" next="#ID_442"> deswegen merkwürdig! Die große Mehrzahl unsrer Schriftsteller gefällt sich<lb/> ja darin, die Miene des Strafrichters anzunehmen; Männern, denen persönlich<lb/> nicht weniger als ein idealer Lebenswandel nachgerühmt werden kann, schwingen<lb/> die Geißel der Satire gegen ihre Zeitgenossen und dünken sich erhaben in<lb/> ihrem Berufe. Nie hat es eine Zeit gegeben, die in gedankenloser Unzufrieden¬<lb/> heit mit sich selbst sich so sehr selbst verhöhnte und zerfleischte wie die unsrige,<lb/> und da klingt so ein Ton der Zustimmung, der Anerkennung aus dem Munde<lb/> einer großen und reinen Frauenseele, wie die Ebner eine ist, fremd, neu, über¬<lb/> raschend, erhebend, aber auch zugleich nüchtern und wahrhaft. Der Pessimis¬<lb/> mus, die Philosophie unsres ideallosen Jahrhunderts, hat nachgerade widerliche<lb/> Formen angenommen. Jeder öde Kopf, der sich in eine Kaffeehausecke setzt,<lb/> durchs Fenster beobachtet, was auf der Straße vorgeht, und in Ermangelung<lb/> des Witzes trübselige oder boshafte Glossen macht, hält sich für einen erhabenen<lb/> Pessimisten, berufen, die Menschheit züchtigend zu bessern. Weil ihn: die Liebe<lb/> fehlt, sieht er auch lieblos und übersieht mit der Hartnäckigkeit der Gedanken¬<lb/> armut die Güte, die selbst auf der Straße liegt. Wirklichkeit und Schlechtig¬<lb/> keit fällt für diese Leute in einen Begriff^zusammen. Die Ebner aber, die<lb/> auch von diesen Herren als eine „Realistin" untadelhafter Art anerkannt wird,<lb/> besitzt etwas, was sie turmhoch über diesen Strnßenpessimismus und Gvssen-<lb/> realisinns hinaushebt: eine hohe sittliche Gesinnung. Sie fühlt sich auch als<lb/> litterarischer Mensch nicht des Gebotes der Nächstenliebe entbunden; selbst wo<lb/> sie strafen will, versöhnt sie durch ihren Humor, und die Grenzen der Schön¬<lb/> heit überschreitet sie niemals. In der „Unverstandenen ans dem Dorfe" legt<lb/> sie einem andern Schullehrer in zwei Sätzen ihre ganze Ethik in den Mund,<lb/> indem sie von ihm sagt: ,,Er hatte keinen Ehrgeiz, oder den größten, den,<lb/> keinen zu haben. Auf dein Dorfe wollte er seine Laufbahn beginnen und enden<lb/> und sie für eine siegreich zurückgelegte halten, wenn er einst die Kinder der<lb/> Kinder, die jetzt auf den Schulbänken saßen, um einen Schritt vorwärts ge¬<lb/> bracht sähe. »Vorwärts in der Einsicht, die zur Pflicht führt, zur Strenge<lb/> gegen sich selbst und zur Verachtung der feigen, trägen Schläfrigkeit im Denken<lb/> und im Thun,« rief er und in seinen blauen Augen glomm ein Lichtstrahl auf.<lb/> »Es giebt eine Entwicklung des Menschen, einen Fortschritt zum Guten, und<lb/> seine gefährlichsten Feinde sind die, die ihn leugnen. Der Glaube an das Gute<lb/> ist es, der das Gute lebendig macht, und in dem Zeichen dieses Glaubens<lb/> werde ich kämpfen«." Diese Ethik kann allerdings weder uns den: Boden des<lb/> Empirismus, noch des rohen, die Wirklichkeit schlechtweg abschreibenden Rea¬<lb/> lismus erwachse»; sie begreift und schafft nur ein starker Mensch, eine schöpfe¬<lb/> rische Natur, die sich uicht bloß zum Zuschauen, sondern auch zum Mitwirken<lb/> an deu Aufgaben unsres Geschlechts berufen fühlt. Mitwirken aber kann der<lb/> einseitig realistische oder gar naturalistische Dichter, der doch immerfort nur<lb/> tadelt, nur die Schwächen aufweist, ohne den Weg zu zeigen, geschweige denn</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0181]
Wiener Litteratur
deswegen merkwürdig! Die große Mehrzahl unsrer Schriftsteller gefällt sich
ja darin, die Miene des Strafrichters anzunehmen; Männern, denen persönlich
nicht weniger als ein idealer Lebenswandel nachgerühmt werden kann, schwingen
die Geißel der Satire gegen ihre Zeitgenossen und dünken sich erhaben in
ihrem Berufe. Nie hat es eine Zeit gegeben, die in gedankenloser Unzufrieden¬
heit mit sich selbst sich so sehr selbst verhöhnte und zerfleischte wie die unsrige,
und da klingt so ein Ton der Zustimmung, der Anerkennung aus dem Munde
einer großen und reinen Frauenseele, wie die Ebner eine ist, fremd, neu, über¬
raschend, erhebend, aber auch zugleich nüchtern und wahrhaft. Der Pessimis¬
mus, die Philosophie unsres ideallosen Jahrhunderts, hat nachgerade widerliche
Formen angenommen. Jeder öde Kopf, der sich in eine Kaffeehausecke setzt,
durchs Fenster beobachtet, was auf der Straße vorgeht, und in Ermangelung
des Witzes trübselige oder boshafte Glossen macht, hält sich für einen erhabenen
Pessimisten, berufen, die Menschheit züchtigend zu bessern. Weil ihn: die Liebe
fehlt, sieht er auch lieblos und übersieht mit der Hartnäckigkeit der Gedanken¬
armut die Güte, die selbst auf der Straße liegt. Wirklichkeit und Schlechtig¬
keit fällt für diese Leute in einen Begriff^zusammen. Die Ebner aber, die
auch von diesen Herren als eine „Realistin" untadelhafter Art anerkannt wird,
besitzt etwas, was sie turmhoch über diesen Strnßenpessimismus und Gvssen-
realisinns hinaushebt: eine hohe sittliche Gesinnung. Sie fühlt sich auch als
litterarischer Mensch nicht des Gebotes der Nächstenliebe entbunden; selbst wo
sie strafen will, versöhnt sie durch ihren Humor, und die Grenzen der Schön¬
heit überschreitet sie niemals. In der „Unverstandenen ans dem Dorfe" legt
sie einem andern Schullehrer in zwei Sätzen ihre ganze Ethik in den Mund,
indem sie von ihm sagt: ,,Er hatte keinen Ehrgeiz, oder den größten, den,
keinen zu haben. Auf dein Dorfe wollte er seine Laufbahn beginnen und enden
und sie für eine siegreich zurückgelegte halten, wenn er einst die Kinder der
Kinder, die jetzt auf den Schulbänken saßen, um einen Schritt vorwärts ge¬
bracht sähe. »Vorwärts in der Einsicht, die zur Pflicht führt, zur Strenge
gegen sich selbst und zur Verachtung der feigen, trägen Schläfrigkeit im Denken
und im Thun,« rief er und in seinen blauen Augen glomm ein Lichtstrahl auf.
»Es giebt eine Entwicklung des Menschen, einen Fortschritt zum Guten, und
seine gefährlichsten Feinde sind die, die ihn leugnen. Der Glaube an das Gute
ist es, der das Gute lebendig macht, und in dem Zeichen dieses Glaubens
werde ich kämpfen«." Diese Ethik kann allerdings weder uns den: Boden des
Empirismus, noch des rohen, die Wirklichkeit schlechtweg abschreibenden Rea¬
lismus erwachse»; sie begreift und schafft nur ein starker Mensch, eine schöpfe¬
rische Natur, die sich uicht bloß zum Zuschauen, sondern auch zum Mitwirken
an deu Aufgaben unsres Geschlechts berufen fühlt. Mitwirken aber kann der
einseitig realistische oder gar naturalistische Dichter, der doch immerfort nur
tadelt, nur die Schwächen aufweist, ohne den Weg zu zeigen, geschweige denn
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