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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Zur italienischen Krisis

wenigstens jede Konsolidirung zu verhindern und so ihre Unabhängigkeit zu
behaupten. Eine ganz ähnliche Politik aber hatten Macchiavellis engere Lands¬
leute, die Florentiner, von jeher, namentlich das ganze fünfzehnte Jahrhundert
hindurch befolgt. In den Kämpfen zwischen Mailand und Venedig, zwischen
Kirchenstaat und Neapel, zwischen jener nördlichen und dieser südlichen Gruppe
stellten sie sich stets aus die Seite des jeweilig schwächern, um die Entstehung
eines Großstaates zu verhindern, und mehr als einmal riefen sie Ausländer
ins Land. Jeder dieser kleinen Staaten beobachtete die Regel, gegen den nahen
Bedränger, der oft ein rechtmäßiger Lehnsherr oder Fürst war, wenn auch
nicht gerade immer einen Ausländer, so doch einen entfernteren Mächtigen
herbeizurufen.

Dieses System, welche"? den Italienern i" Fleisch und Blut überging, ist
das Gegenteil jener deutschen Vasallentreue, die sich im Diensteide der preußi¬
schen Militärpflichtiger und Beamten zu einer Staatseinrichtung verdichtet
und befestigt hat. Der echte Italiener sucht sich selbst, seine Persönlichkeit,
zu behaupten, ohne Rücksicht auf irgend welche Verpflichtung gegen das große
Ganze, worin der einzelne sich verliert. Soll er einem Gemeinwesen Opfer
bringen, so muß es ein kleineres sein, eine Stadt, ein Miniatnrstaat, der seiner
Individualität entspricht, und worin er eine Rolle zu spielen gewiß ist. Es
ist richtig, daß viele edle Italiener in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts
ihr Leben dem großen Vaterlande geopfert haben. Aber erstens überwog die
negative Seite ihrer Vaterlandsliebe, der Haß gegen die damaligen Regierungen,
die positive, die Schwärmerei für einen Zustand, der noch nicht verwirklicht
und bis dahin niemals vorhanden gewesen war. Zweitens handelt es sich bei
diesen Opfern nur um heroische Entbehrungen, gefahrvolle, aber vom Schimmer
der Romantik verklärte Unternehmungen, einen blutigen Tod, nicht um einen
Dienst, einen gleichförmigen, trocknen, aller Poesie entbehrenden Dienst, der
die lebenslängliche Verzichtleistung aus des Dienenden Eigenart fordert. Gerade
das aber ist die Art des Opfers, zu der der Italiener seiner Natur nach un¬
fähig ist. Jenes oben geschilderte politische Shstem war ein Erzeugnis der
Not, erzeugte seinerseits scharf ausgeprägte Individualitäten und wurde nun
zur Behauptung der Individualität weiter geübt. Fühlt der Italiener sich
bedrückt, so nimmt er keinen Augenblick Anstand, zum Feinde des Bedrängers
seine Zuflucht zu nehmen, mag letzterer auch der rechtmäßige Vorgesetzte sein.

Uns Deutschen erscheint dieses System als ein Abgrund der Immoralität.
Allein abgesehen davon, daß es im Mittelalter die einzig mögliche Art sür
Schwächere war, sich die Existenz zu sicher" (in geringerem Maße mich ander¬
wärts, auch in Deutschland), abgesehen davon, daß der Privatcharakter der
Italiener dadurch keineswegs in dem Grade verdorben wurde, wie man bei
uus ziemlich allgemein glaubt, hat jenes System Früchte gezeitigt, die sein
Böses überreichlich aufwiegen. Der Italiener lebt sich aus, aber nicht bloß,


Zur italienischen Krisis

wenigstens jede Konsolidirung zu verhindern und so ihre Unabhängigkeit zu
behaupten. Eine ganz ähnliche Politik aber hatten Macchiavellis engere Lands¬
leute, die Florentiner, von jeher, namentlich das ganze fünfzehnte Jahrhundert
hindurch befolgt. In den Kämpfen zwischen Mailand und Venedig, zwischen
Kirchenstaat und Neapel, zwischen jener nördlichen und dieser südlichen Gruppe
stellten sie sich stets aus die Seite des jeweilig schwächern, um die Entstehung
eines Großstaates zu verhindern, und mehr als einmal riefen sie Ausländer
ins Land. Jeder dieser kleinen Staaten beobachtete die Regel, gegen den nahen
Bedränger, der oft ein rechtmäßiger Lehnsherr oder Fürst war, wenn auch
nicht gerade immer einen Ausländer, so doch einen entfernteren Mächtigen
herbeizurufen.

Dieses System, welche«? den Italienern i» Fleisch und Blut überging, ist
das Gegenteil jener deutschen Vasallentreue, die sich im Diensteide der preußi¬
schen Militärpflichtiger und Beamten zu einer Staatseinrichtung verdichtet
und befestigt hat. Der echte Italiener sucht sich selbst, seine Persönlichkeit,
zu behaupten, ohne Rücksicht auf irgend welche Verpflichtung gegen das große
Ganze, worin der einzelne sich verliert. Soll er einem Gemeinwesen Opfer
bringen, so muß es ein kleineres sein, eine Stadt, ein Miniatnrstaat, der seiner
Individualität entspricht, und worin er eine Rolle zu spielen gewiß ist. Es
ist richtig, daß viele edle Italiener in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts
ihr Leben dem großen Vaterlande geopfert haben. Aber erstens überwog die
negative Seite ihrer Vaterlandsliebe, der Haß gegen die damaligen Regierungen,
die positive, die Schwärmerei für einen Zustand, der noch nicht verwirklicht
und bis dahin niemals vorhanden gewesen war. Zweitens handelt es sich bei
diesen Opfern nur um heroische Entbehrungen, gefahrvolle, aber vom Schimmer
der Romantik verklärte Unternehmungen, einen blutigen Tod, nicht um einen
Dienst, einen gleichförmigen, trocknen, aller Poesie entbehrenden Dienst, der
die lebenslängliche Verzichtleistung aus des Dienenden Eigenart fordert. Gerade
das aber ist die Art des Opfers, zu der der Italiener seiner Natur nach un¬
fähig ist. Jenes oben geschilderte politische Shstem war ein Erzeugnis der
Not, erzeugte seinerseits scharf ausgeprägte Individualitäten und wurde nun
zur Behauptung der Individualität weiter geübt. Fühlt der Italiener sich
bedrückt, so nimmt er keinen Augenblick Anstand, zum Feinde des Bedrängers
seine Zuflucht zu nehmen, mag letzterer auch der rechtmäßige Vorgesetzte sein.

Uns Deutschen erscheint dieses System als ein Abgrund der Immoralität.
Allein abgesehen davon, daß es im Mittelalter die einzig mögliche Art sür
Schwächere war, sich die Existenz zu sicher» (in geringerem Maße mich ander¬
wärts, auch in Deutschland), abgesehen davon, daß der Privatcharakter der
Italiener dadurch keineswegs in dem Grade verdorben wurde, wie man bei
uus ziemlich allgemein glaubt, hat jenes System Früchte gezeitigt, die sein
Böses überreichlich aufwiegen. Der Italiener lebt sich aus, aber nicht bloß,


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[0014] Zur italienischen Krisis wenigstens jede Konsolidirung zu verhindern und so ihre Unabhängigkeit zu behaupten. Eine ganz ähnliche Politik aber hatten Macchiavellis engere Lands¬ leute, die Florentiner, von jeher, namentlich das ganze fünfzehnte Jahrhundert hindurch befolgt. In den Kämpfen zwischen Mailand und Venedig, zwischen Kirchenstaat und Neapel, zwischen jener nördlichen und dieser südlichen Gruppe stellten sie sich stets aus die Seite des jeweilig schwächern, um die Entstehung eines Großstaates zu verhindern, und mehr als einmal riefen sie Ausländer ins Land. Jeder dieser kleinen Staaten beobachtete die Regel, gegen den nahen Bedränger, der oft ein rechtmäßiger Lehnsherr oder Fürst war, wenn auch nicht gerade immer einen Ausländer, so doch einen entfernteren Mächtigen herbeizurufen. Dieses System, welche«? den Italienern i» Fleisch und Blut überging, ist das Gegenteil jener deutschen Vasallentreue, die sich im Diensteide der preußi¬ schen Militärpflichtiger und Beamten zu einer Staatseinrichtung verdichtet und befestigt hat. Der echte Italiener sucht sich selbst, seine Persönlichkeit, zu behaupten, ohne Rücksicht auf irgend welche Verpflichtung gegen das große Ganze, worin der einzelne sich verliert. Soll er einem Gemeinwesen Opfer bringen, so muß es ein kleineres sein, eine Stadt, ein Miniatnrstaat, der seiner Individualität entspricht, und worin er eine Rolle zu spielen gewiß ist. Es ist richtig, daß viele edle Italiener in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts ihr Leben dem großen Vaterlande geopfert haben. Aber erstens überwog die negative Seite ihrer Vaterlandsliebe, der Haß gegen die damaligen Regierungen, die positive, die Schwärmerei für einen Zustand, der noch nicht verwirklicht und bis dahin niemals vorhanden gewesen war. Zweitens handelt es sich bei diesen Opfern nur um heroische Entbehrungen, gefahrvolle, aber vom Schimmer der Romantik verklärte Unternehmungen, einen blutigen Tod, nicht um einen Dienst, einen gleichförmigen, trocknen, aller Poesie entbehrenden Dienst, der die lebenslängliche Verzichtleistung aus des Dienenden Eigenart fordert. Gerade das aber ist die Art des Opfers, zu der der Italiener seiner Natur nach un¬ fähig ist. Jenes oben geschilderte politische Shstem war ein Erzeugnis der Not, erzeugte seinerseits scharf ausgeprägte Individualitäten und wurde nun zur Behauptung der Individualität weiter geübt. Fühlt der Italiener sich bedrückt, so nimmt er keinen Augenblick Anstand, zum Feinde des Bedrängers seine Zuflucht zu nehmen, mag letzterer auch der rechtmäßige Vorgesetzte sein. Uns Deutschen erscheint dieses System als ein Abgrund der Immoralität. Allein abgesehen davon, daß es im Mittelalter die einzig mögliche Art sür Schwächere war, sich die Existenz zu sicher» (in geringerem Maße mich ander¬ wärts, auch in Deutschland), abgesehen davon, daß der Privatcharakter der Italiener dadurch keineswegs in dem Grade verdorben wurde, wie man bei uus ziemlich allgemein glaubt, hat jenes System Früchte gezeitigt, die sein Böses überreichlich aufwiegen. Der Italiener lebt sich aus, aber nicht bloß,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/14>, abgerufen am 05.02.2025.