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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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der Geschlechter u. s, w. Natürlich hat er für so ein Abstraktum von Moral
wenig Interesse, so wenig als wir andern. Die Darwinistische Anpassungslehre
ist ihm wesentlich interessanter, und mit Befriedigung kommt er ans den Neger
zurück, der sich eine Menge Frauen tauft: "Wenn ein Mann ans unsrer Mitte
eine Menge Frauen kaufte und die Kinder von ihnen so aufwachsen ließe, wie
es ein Negerhäuptling thut, dann würden wir ihn einen Nichtswürdigen oder
einen Verrückten nennen; deu Neger, der dasselbe thut, tadeln wir nicht, oder
sollten wir es thun? Ich meine, wir hätten dazu erst dann Veranlassung,
wenn uns überzeugend dargethan würde, daß Polygamie fiir sein und der
Seinen Leben, wie es ist, störend oder zerstörend wirkt." Die Missionare
machen es freilich nicht so; sie fordern ohne weiteres deu Neger auf, auf die
vielen Weiber zu verzichten, und warten seine Kultivirung nicht ab. Sie kennen
den Darwinismus noch nicht und glauben, daß es eine absolute Moral gebe
und daß man überall die Hindernisse entfernen müsse, die der Anerkennung
dieser Moral im Wege stehen, auch die thatsächlichen Hindernisse und
Einrichtungen.

Wir brauchen nach diesen Mitteilungen nicht ausdrücklich zu sagen, daß
Paulsen außerhalb der Kant-Herbart-Lvtzischen Gewissensethik steht. Er findet
in der Ethik mir Naturgesetze, wie in der Diätetik. Man hat gefunden, daß
gewisse moralische Regeln die Wohlfahrt des Menschengeschlechts fördern und
nützlich sind in dieser weitausschauenden Absicht. Diese Beobachtungen haben
sich verdichtet zur Sitte, die eine gewisse Herrschaft ausübt. Sie zu verletzen
bringt Gewissensbisse; sie zu befolgen, eine Befriedigung des Gewissens. Diese
utilitarischen, eudümonistischen Betrachtungen find allbekannt, sie haben in England
manche philosophische Vertreter von Bedeutung gehabt. Paulsen macht uns
diese Theorie nicht glaubhafter. Wir gönnen es jedem, wenn er, im Begriff
zu handeln, hübsch beweisen kann, daß sein Handeln das Wohl der Menschheit
fördert, oder wenn er wenigstens weiß, daß sie dahin "tendire," denn er kann
ja nicht immer genau wissen, ob seine menschenfreundliche Absicht auch ver¬
wirklicht wird. Aber wir sprechen darüber nur so ruhig, weil wir die Über¬
zeugung haben, daß, wenn diese Einsicht in die menschliche Wohlfahrt much
einmal fehlen sollte, der einfache Mensch in sich selbst eine unbestechliche, durch
die Sitte unterstützte Gewißheit hat, wie er handeln soll. Nicht jeder ist in
der Lage, sich wie einen Hausarzt fiir die Diätetik, so einen Hausseelsorger
für die Moral zu gewinnen. Es wäre auch eine unerträgliche Abhängigkeit;
da sind wir bester daran.

Wir bekennen, daß die Paulsenschen Grundanschauungen uns die Gewifsens-
ethik bei weitem nicht ersetzen. Zusammen haben kauu man die beiden Arten
jedenfalls nicht, man muß sich entscheiden. Wir werden uns nie mit dem
Satze (Seite 173) vertragen, "daß wir den einen guten Menschen nennen, der
alle diejenigen Eigenschaften in sich vereinigt, worauf die Lösung aller Lebens-


der Geschlechter u. s, w. Natürlich hat er für so ein Abstraktum von Moral
wenig Interesse, so wenig als wir andern. Die Darwinistische Anpassungslehre
ist ihm wesentlich interessanter, und mit Befriedigung kommt er ans den Neger
zurück, der sich eine Menge Frauen tauft: „Wenn ein Mann ans unsrer Mitte
eine Menge Frauen kaufte und die Kinder von ihnen so aufwachsen ließe, wie
es ein Negerhäuptling thut, dann würden wir ihn einen Nichtswürdigen oder
einen Verrückten nennen; deu Neger, der dasselbe thut, tadeln wir nicht, oder
sollten wir es thun? Ich meine, wir hätten dazu erst dann Veranlassung,
wenn uns überzeugend dargethan würde, daß Polygamie fiir sein und der
Seinen Leben, wie es ist, störend oder zerstörend wirkt." Die Missionare
machen es freilich nicht so; sie fordern ohne weiteres deu Neger auf, auf die
vielen Weiber zu verzichten, und warten seine Kultivirung nicht ab. Sie kennen
den Darwinismus noch nicht und glauben, daß es eine absolute Moral gebe
und daß man überall die Hindernisse entfernen müsse, die der Anerkennung
dieser Moral im Wege stehen, auch die thatsächlichen Hindernisse und
Einrichtungen.

Wir brauchen nach diesen Mitteilungen nicht ausdrücklich zu sagen, daß
Paulsen außerhalb der Kant-Herbart-Lvtzischen Gewissensethik steht. Er findet
in der Ethik mir Naturgesetze, wie in der Diätetik. Man hat gefunden, daß
gewisse moralische Regeln die Wohlfahrt des Menschengeschlechts fördern und
nützlich sind in dieser weitausschauenden Absicht. Diese Beobachtungen haben
sich verdichtet zur Sitte, die eine gewisse Herrschaft ausübt. Sie zu verletzen
bringt Gewissensbisse; sie zu befolgen, eine Befriedigung des Gewissens. Diese
utilitarischen, eudümonistischen Betrachtungen find allbekannt, sie haben in England
manche philosophische Vertreter von Bedeutung gehabt. Paulsen macht uns
diese Theorie nicht glaubhafter. Wir gönnen es jedem, wenn er, im Begriff
zu handeln, hübsch beweisen kann, daß sein Handeln das Wohl der Menschheit
fördert, oder wenn er wenigstens weiß, daß sie dahin „tendire," denn er kann
ja nicht immer genau wissen, ob seine menschenfreundliche Absicht auch ver¬
wirklicht wird. Aber wir sprechen darüber nur so ruhig, weil wir die Über¬
zeugung haben, daß, wenn diese Einsicht in die menschliche Wohlfahrt much
einmal fehlen sollte, der einfache Mensch in sich selbst eine unbestechliche, durch
die Sitte unterstützte Gewißheit hat, wie er handeln soll. Nicht jeder ist in
der Lage, sich wie einen Hausarzt fiir die Diätetik, so einen Hausseelsorger
für die Moral zu gewinnen. Es wäre auch eine unerträgliche Abhängigkeit;
da sind wir bester daran.

Wir bekennen, daß die Paulsenschen Grundanschauungen uns die Gewifsens-
ethik bei weitem nicht ersetzen. Zusammen haben kauu man die beiden Arten
jedenfalls nicht, man muß sich entscheiden. Wir werden uns nie mit dem
Satze (Seite 173) vertragen, „daß wir den einen guten Menschen nennen, der
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[0608] der Geschlechter u. s, w. Natürlich hat er für so ein Abstraktum von Moral wenig Interesse, so wenig als wir andern. Die Darwinistische Anpassungslehre ist ihm wesentlich interessanter, und mit Befriedigung kommt er ans den Neger zurück, der sich eine Menge Frauen tauft: „Wenn ein Mann ans unsrer Mitte eine Menge Frauen kaufte und die Kinder von ihnen so aufwachsen ließe, wie es ein Negerhäuptling thut, dann würden wir ihn einen Nichtswürdigen oder einen Verrückten nennen; deu Neger, der dasselbe thut, tadeln wir nicht, oder sollten wir es thun? Ich meine, wir hätten dazu erst dann Veranlassung, wenn uns überzeugend dargethan würde, daß Polygamie fiir sein und der Seinen Leben, wie es ist, störend oder zerstörend wirkt." Die Missionare machen es freilich nicht so; sie fordern ohne weiteres deu Neger auf, auf die vielen Weiber zu verzichten, und warten seine Kultivirung nicht ab. Sie kennen den Darwinismus noch nicht und glauben, daß es eine absolute Moral gebe und daß man überall die Hindernisse entfernen müsse, die der Anerkennung dieser Moral im Wege stehen, auch die thatsächlichen Hindernisse und Einrichtungen. Wir brauchen nach diesen Mitteilungen nicht ausdrücklich zu sagen, daß Paulsen außerhalb der Kant-Herbart-Lvtzischen Gewissensethik steht. Er findet in der Ethik mir Naturgesetze, wie in der Diätetik. Man hat gefunden, daß gewisse moralische Regeln die Wohlfahrt des Menschengeschlechts fördern und nützlich sind in dieser weitausschauenden Absicht. Diese Beobachtungen haben sich verdichtet zur Sitte, die eine gewisse Herrschaft ausübt. Sie zu verletzen bringt Gewissensbisse; sie zu befolgen, eine Befriedigung des Gewissens. Diese utilitarischen, eudümonistischen Betrachtungen find allbekannt, sie haben in England manche philosophische Vertreter von Bedeutung gehabt. Paulsen macht uns diese Theorie nicht glaubhafter. Wir gönnen es jedem, wenn er, im Begriff zu handeln, hübsch beweisen kann, daß sein Handeln das Wohl der Menschheit fördert, oder wenn er wenigstens weiß, daß sie dahin „tendire," denn er kann ja nicht immer genau wissen, ob seine menschenfreundliche Absicht auch ver¬ wirklicht wird. Aber wir sprechen darüber nur so ruhig, weil wir die Über¬ zeugung haben, daß, wenn diese Einsicht in die menschliche Wohlfahrt much einmal fehlen sollte, der einfache Mensch in sich selbst eine unbestechliche, durch die Sitte unterstützte Gewißheit hat, wie er handeln soll. Nicht jeder ist in der Lage, sich wie einen Hausarzt fiir die Diätetik, so einen Hausseelsorger für die Moral zu gewinnen. Es wäre auch eine unerträgliche Abhängigkeit; da sind wir bester daran. Wir bekennen, daß die Paulsenschen Grundanschauungen uns die Gewifsens- ethik bei weitem nicht ersetzen. Zusammen haben kauu man die beiden Arten jedenfalls nicht, man muß sich entscheiden. Wir werden uns nie mit dem Satze (Seite 173) vertragen, „daß wir den einen guten Menschen nennen, der alle diejenigen Eigenschaften in sich vereinigt, worauf die Lösung aller Lebens-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/608>, abgerufen am 24.08.2024.