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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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in dem Interesse, das sie den brennenden Fragen der Gegenwart widmet,
Daran hat Paulsen gut gethan, in dem Titel schon zu erwähnen, daß er
auch der Staats- und Gesellschafts lehre besondre Aufmerksamkeit geschenkt hat.
Das war zwar anch scholl früher oft beabsichtigt. Schon bei Rothe wurde
die "spezielle" Ethik am meisten geschätzt, auch Martensen wurde von vielen
nur gelesen wegen der in seinem speziellen Teile enthaltenen Behandlung der
sozialen Frage. Und wir müssen sagen, daß die Behandlung der politisch¬
sozialen Dinge auch bei Paulsen die glänzendste Seite des Buches ist, und
daß die letzten fast 30l> Seiten füllenden Erörterungen von den meisten Lesern
am eifrigsten werden gelesen werden. Mit ganz andern Kenntnissen und mit
vielseitiger!! Interessen, als viele seiner Vorgänger, tritt er an diese verwickelten
Fragen heran. In einer schönen, lebhaften Diktion, mit Herbeiziehung vieler
Anwendungsfälle aus dein Leben, führt er uns mit spielender Leichtigkeit durch
die Probleme der sozialen Welt, wie sie uns in den: Familienleben, in der
Volkswirtschaft (Eigentum, Kapitalismus, Proletariat, Lassalle, Bebel, Gilden,
Sozinlistengesetz), im Staat (Königtum, Parlament, Ausdehnung und Be¬
schränkung der Staatsthätigkeit) so viel zu schaffen machen. Die Befriedigung,
die das Lesen dieser praktischen Kapitel gewähren kann, ist nicht wesentlich von
der Zustimmung abhängig, die man den ersten grundlegenden Sätzen des Systems
entgegenbringt. Ebenso ist es für uns ein Bedürfnis, auf den selbständigen
Wert aufmerksam zu machen, den der Abschnitt von S. 21--166 hat. Er
enthält eine Geschichte der Lebeusnnschauung und Moralphilosophie. Von den
Griechen ausgehend,") beschreibt dieser Abschnitt in großen Zügen die Lebeus¬
nnschauung des Christentums, die Bekehrung der alten Welt zum Christentum,
das Mittelalter und seine Lebensanschauung, die moderne Lebensnnschaunug
und ihre moralphilosophischen wechselnden Theorien bis auf die neueste Zeit.
Er zeigt in diesem Umriß überall die Gabe, sich auf das Wesentlichste zu be¬
schränken. Was das Christliche betrifft, so gewinnt man öfters den Eindruck,
als habe sich Paulsen früher einmal gründlich mit diesem Gebiete beschäftigt,
später sei es ihn: aber zu einem bloß phänomenologischen Element herab¬
gesunken. Für einen Leser, der ein solches Werk überhaupt lesen kann, wird
diese sehr moderne Abschwächung des Christlichen kein Hindernis sein, das Ver¬
dienstliche des Abschnitts zu würdigen.

Gegenüber den von uns hervorgehobenen Vorzügen nun dennoch das Mi߬
fallen an der wissenschaftlichen Grundlage des Paulsenschen Systems offen zu
gestehen, ist keine angenehme Pflicht, angenehm besonders deshalb nicht, weil
wir hier dieses Mißfallen nicht so begründen können, wie es Fachblätter zu
thun haben.

Wir haben schon im Eingange von den grundsätzlichen Verschiedenheiten



*) In den vielen griechischen Wörtern sind leider grobe Accentfehler stehen geblieben.
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in dem Interesse, das sie den brennenden Fragen der Gegenwart widmet,
Daran hat Paulsen gut gethan, in dem Titel schon zu erwähnen, daß er
auch der Staats- und Gesellschafts lehre besondre Aufmerksamkeit geschenkt hat.
Das war zwar anch scholl früher oft beabsichtigt. Schon bei Rothe wurde
die „spezielle" Ethik am meisten geschätzt, auch Martensen wurde von vielen
nur gelesen wegen der in seinem speziellen Teile enthaltenen Behandlung der
sozialen Frage. Und wir müssen sagen, daß die Behandlung der politisch¬
sozialen Dinge auch bei Paulsen die glänzendste Seite des Buches ist, und
daß die letzten fast 30l> Seiten füllenden Erörterungen von den meisten Lesern
am eifrigsten werden gelesen werden. Mit ganz andern Kenntnissen und mit
vielseitiger!! Interessen, als viele seiner Vorgänger, tritt er an diese verwickelten
Fragen heran. In einer schönen, lebhaften Diktion, mit Herbeiziehung vieler
Anwendungsfälle aus dein Leben, führt er uns mit spielender Leichtigkeit durch
die Probleme der sozialen Welt, wie sie uns in den: Familienleben, in der
Volkswirtschaft (Eigentum, Kapitalismus, Proletariat, Lassalle, Bebel, Gilden,
Sozinlistengesetz), im Staat (Königtum, Parlament, Ausdehnung und Be¬
schränkung der Staatsthätigkeit) so viel zu schaffen machen. Die Befriedigung,
die das Lesen dieser praktischen Kapitel gewähren kann, ist nicht wesentlich von
der Zustimmung abhängig, die man den ersten grundlegenden Sätzen des Systems
entgegenbringt. Ebenso ist es für uns ein Bedürfnis, auf den selbständigen
Wert aufmerksam zu machen, den der Abschnitt von S. 21—166 hat. Er
enthält eine Geschichte der Lebeusnnschauung und Moralphilosophie. Von den
Griechen ausgehend,") beschreibt dieser Abschnitt in großen Zügen die Lebeus¬
nnschauung des Christentums, die Bekehrung der alten Welt zum Christentum,
das Mittelalter und seine Lebensanschauung, die moderne Lebensnnschaunug
und ihre moralphilosophischen wechselnden Theorien bis auf die neueste Zeit.
Er zeigt in diesem Umriß überall die Gabe, sich auf das Wesentlichste zu be¬
schränken. Was das Christliche betrifft, so gewinnt man öfters den Eindruck,
als habe sich Paulsen früher einmal gründlich mit diesem Gebiete beschäftigt,
später sei es ihn: aber zu einem bloß phänomenologischen Element herab¬
gesunken. Für einen Leser, der ein solches Werk überhaupt lesen kann, wird
diese sehr moderne Abschwächung des Christlichen kein Hindernis sein, das Ver¬
dienstliche des Abschnitts zu würdigen.

Gegenüber den von uns hervorgehobenen Vorzügen nun dennoch das Mi߬
fallen an der wissenschaftlichen Grundlage des Paulsenschen Systems offen zu
gestehen, ist keine angenehme Pflicht, angenehm besonders deshalb nicht, weil
wir hier dieses Mißfallen nicht so begründen können, wie es Fachblätter zu
thun haben.

Wir haben schon im Eingange von den grundsätzlichen Verschiedenheiten



*) In den vielen griechischen Wörtern sind leider grobe Accentfehler stehen geblieben.
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[0606] Gno neue Lthik in dem Interesse, das sie den brennenden Fragen der Gegenwart widmet, Daran hat Paulsen gut gethan, in dem Titel schon zu erwähnen, daß er auch der Staats- und Gesellschafts lehre besondre Aufmerksamkeit geschenkt hat. Das war zwar anch scholl früher oft beabsichtigt. Schon bei Rothe wurde die „spezielle" Ethik am meisten geschätzt, auch Martensen wurde von vielen nur gelesen wegen der in seinem speziellen Teile enthaltenen Behandlung der sozialen Frage. Und wir müssen sagen, daß die Behandlung der politisch¬ sozialen Dinge auch bei Paulsen die glänzendste Seite des Buches ist, und daß die letzten fast 30l> Seiten füllenden Erörterungen von den meisten Lesern am eifrigsten werden gelesen werden. Mit ganz andern Kenntnissen und mit vielseitiger!! Interessen, als viele seiner Vorgänger, tritt er an diese verwickelten Fragen heran. In einer schönen, lebhaften Diktion, mit Herbeiziehung vieler Anwendungsfälle aus dein Leben, führt er uns mit spielender Leichtigkeit durch die Probleme der sozialen Welt, wie sie uns in den: Familienleben, in der Volkswirtschaft (Eigentum, Kapitalismus, Proletariat, Lassalle, Bebel, Gilden, Sozinlistengesetz), im Staat (Königtum, Parlament, Ausdehnung und Be¬ schränkung der Staatsthätigkeit) so viel zu schaffen machen. Die Befriedigung, die das Lesen dieser praktischen Kapitel gewähren kann, ist nicht wesentlich von der Zustimmung abhängig, die man den ersten grundlegenden Sätzen des Systems entgegenbringt. Ebenso ist es für uns ein Bedürfnis, auf den selbständigen Wert aufmerksam zu machen, den der Abschnitt von S. 21—166 hat. Er enthält eine Geschichte der Lebeusnnschauung und Moralphilosophie. Von den Griechen ausgehend,") beschreibt dieser Abschnitt in großen Zügen die Lebeus¬ nnschauung des Christentums, die Bekehrung der alten Welt zum Christentum, das Mittelalter und seine Lebensanschauung, die moderne Lebensnnschaunug und ihre moralphilosophischen wechselnden Theorien bis auf die neueste Zeit. Er zeigt in diesem Umriß überall die Gabe, sich auf das Wesentlichste zu be¬ schränken. Was das Christliche betrifft, so gewinnt man öfters den Eindruck, als habe sich Paulsen früher einmal gründlich mit diesem Gebiete beschäftigt, später sei es ihn: aber zu einem bloß phänomenologischen Element herab¬ gesunken. Für einen Leser, der ein solches Werk überhaupt lesen kann, wird diese sehr moderne Abschwächung des Christlichen kein Hindernis sein, das Ver¬ dienstliche des Abschnitts zu würdigen. Gegenüber den von uns hervorgehobenen Vorzügen nun dennoch das Mi߬ fallen an der wissenschaftlichen Grundlage des Paulsenschen Systems offen zu gestehen, ist keine angenehme Pflicht, angenehm besonders deshalb nicht, weil wir hier dieses Mißfallen nicht so begründen können, wie es Fachblätter zu thun haben. Wir haben schon im Eingange von den grundsätzlichen Verschiedenheiten *) In den vielen griechischen Wörtern sind leider grobe Accentfehler stehen geblieben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/606>, abgerufen am 24.08.2024.