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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Militärisch-politische Blicke nach Osten

und Thorn stünde, stets über die nähere Marschlinie verfügen und also im
Stande sein würde, sich ans dem linken Ufer der Oder dem Angreifer vorzu¬
legen und in frei gewählter Stellung die Entscheidungsschlacht zu liefern.
Diesen Weg für den Angriff zu wählen, empföhle sich anch deshalb, weil hier
die Rückwärtsverbindungen besser gesichert sind, doch würde diese Wahl eine
wohlwollende Neutralität Österreichs voraussetzen, und da der Vertrag von
1879 eine solche nicht gestattet, so ist ein russischer Angriff auf das Deutsche
Reich auch in dieser dritten Richtung, so lange jener Vertrag besteht, unmöglich.
Das deutsche Grenzgebiet ist somit, abgesehen auch von der Stärke und der
erprobten Tüchtigkeit des Reichsheeres sowohl durch die natürliche Beschaffen¬
heit als durch die künstliche Verstärkung der von einem russischen Angriff
zunächst bedrohten Gegenden, endlich durch das Verteidigungsbündnis mit dem
österreichisch-ungarischen Nachbarreiche hinreichend gesichert.

Dagegen läßt sich das von dem österreichisch-ungarischen Grenzgebiete im
Osten nur mit einigen Einschränkungen behaupten. Namentlich ist hier im
nordöstlichen Teile Galiziens erst spät an Festungsschutz gegen Rußland gedacht
worden, und erst vor wenigen Jahren hat man die Sache mit Eifer in die
Hände genommen und zunächst Krakau durch Umbau und Vergrößerung in
eine Festung ersten Ranges verwandelt -- ein Riesenwerk, das nunmehr voll¬
endet ist, wogegen das verschanzte Lager von Przemysl in Mittelgalizien (zur
Deckung der strategischen Desileen zwischen Sau und Dnjestr) noch nicht ganz
fertig sein soll und von hier bis Czernvwitz, auf einer Strecke von 360 Kilo¬
metern, keinerlei Befestigung sich einem Feinde in den Weg stellt. Dazu kommt,
daß Westgalizien nur in der Weichsel und dem San einigen natürlichen Schutz
hat, der jedoch bei der hier uoch geringen Wasserfülle jenes Stromes nicht
viel bedeuten will. Der bei weitem größre Teil der langgestreckten Provinz
ermangelt jeder Sicherung durch die Gestaltung des Bodens. Es sind also
zur Verteidigung der Grenze und der für die Kriegführung hochwichtigen
Eisenbahnen starke Truppenausstellungen erforderlich, und diese können aller¬
dings eben durch die Eisenbahnen, von denen es hier viele giebt, die ein vor¬
treffliches System bilden, schnell bewerkstelligt werden. Erst die Karpathen
an der Südwestgrenze Galiziens bieten einem russischen Einfall bedeutende
Hindernisse natürlicher Art und beschränken ihn auf die Straßen, die über den
Gebirgskamm führen, oder vielmehr auf einige dieser Pässe. Denn die west¬
lichen sind mit den Eisenbahnlinien Kaschan-Oderberg und deren Anschlüssen
an die Warschauer Bahn, den Linien Kaschau-Tarnow und Mihaly-Przemysl
auf der Nordseite der Karpathen durch Krakau und Przemhsl und der Linie
Muneaez-Stryj-Lemberg durch die alte Feste Muncaez gedeckt. Die südöstlich
von dieser letztern Schienenstraße befindlichen Übergänge über die Karpathen,
wie der Körösmezo-, der Nodna-, der Stiel- und der Borgo-Paß dagegen sind
unverteidigt durch Festungen oder sonstige Mittel.


Militärisch-politische Blicke nach Osten

und Thorn stünde, stets über die nähere Marschlinie verfügen und also im
Stande sein würde, sich ans dem linken Ufer der Oder dem Angreifer vorzu¬
legen und in frei gewählter Stellung die Entscheidungsschlacht zu liefern.
Diesen Weg für den Angriff zu wählen, empföhle sich anch deshalb, weil hier
die Rückwärtsverbindungen besser gesichert sind, doch würde diese Wahl eine
wohlwollende Neutralität Österreichs voraussetzen, und da der Vertrag von
1879 eine solche nicht gestattet, so ist ein russischer Angriff auf das Deutsche
Reich auch in dieser dritten Richtung, so lange jener Vertrag besteht, unmöglich.
Das deutsche Grenzgebiet ist somit, abgesehen auch von der Stärke und der
erprobten Tüchtigkeit des Reichsheeres sowohl durch die natürliche Beschaffen¬
heit als durch die künstliche Verstärkung der von einem russischen Angriff
zunächst bedrohten Gegenden, endlich durch das Verteidigungsbündnis mit dem
österreichisch-ungarischen Nachbarreiche hinreichend gesichert.

Dagegen läßt sich das von dem österreichisch-ungarischen Grenzgebiete im
Osten nur mit einigen Einschränkungen behaupten. Namentlich ist hier im
nordöstlichen Teile Galiziens erst spät an Festungsschutz gegen Rußland gedacht
worden, und erst vor wenigen Jahren hat man die Sache mit Eifer in die
Hände genommen und zunächst Krakau durch Umbau und Vergrößerung in
eine Festung ersten Ranges verwandelt — ein Riesenwerk, das nunmehr voll¬
endet ist, wogegen das verschanzte Lager von Przemysl in Mittelgalizien (zur
Deckung der strategischen Desileen zwischen Sau und Dnjestr) noch nicht ganz
fertig sein soll und von hier bis Czernvwitz, auf einer Strecke von 360 Kilo¬
metern, keinerlei Befestigung sich einem Feinde in den Weg stellt. Dazu kommt,
daß Westgalizien nur in der Weichsel und dem San einigen natürlichen Schutz
hat, der jedoch bei der hier uoch geringen Wasserfülle jenes Stromes nicht
viel bedeuten will. Der bei weitem größre Teil der langgestreckten Provinz
ermangelt jeder Sicherung durch die Gestaltung des Bodens. Es sind also
zur Verteidigung der Grenze und der für die Kriegführung hochwichtigen
Eisenbahnen starke Truppenausstellungen erforderlich, und diese können aller¬
dings eben durch die Eisenbahnen, von denen es hier viele giebt, die ein vor¬
treffliches System bilden, schnell bewerkstelligt werden. Erst die Karpathen
an der Südwestgrenze Galiziens bieten einem russischen Einfall bedeutende
Hindernisse natürlicher Art und beschränken ihn auf die Straßen, die über den
Gebirgskamm führen, oder vielmehr auf einige dieser Pässe. Denn die west¬
lichen sind mit den Eisenbahnlinien Kaschan-Oderberg und deren Anschlüssen
an die Warschauer Bahn, den Linien Kaschau-Tarnow und Mihaly-Przemysl
auf der Nordseite der Karpathen durch Krakau und Przemhsl und der Linie
Muneaez-Stryj-Lemberg durch die alte Feste Muncaez gedeckt. Die südöstlich
von dieser letztern Schienenstraße befindlichen Übergänge über die Karpathen,
wie der Körösmezo-, der Nodna-, der Stiel- und der Borgo-Paß dagegen sind
unverteidigt durch Festungen oder sonstige Mittel.


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[0596] Militärisch-politische Blicke nach Osten und Thorn stünde, stets über die nähere Marschlinie verfügen und also im Stande sein würde, sich ans dem linken Ufer der Oder dem Angreifer vorzu¬ legen und in frei gewählter Stellung die Entscheidungsschlacht zu liefern. Diesen Weg für den Angriff zu wählen, empföhle sich anch deshalb, weil hier die Rückwärtsverbindungen besser gesichert sind, doch würde diese Wahl eine wohlwollende Neutralität Österreichs voraussetzen, und da der Vertrag von 1879 eine solche nicht gestattet, so ist ein russischer Angriff auf das Deutsche Reich auch in dieser dritten Richtung, so lange jener Vertrag besteht, unmöglich. Das deutsche Grenzgebiet ist somit, abgesehen auch von der Stärke und der erprobten Tüchtigkeit des Reichsheeres sowohl durch die natürliche Beschaffen¬ heit als durch die künstliche Verstärkung der von einem russischen Angriff zunächst bedrohten Gegenden, endlich durch das Verteidigungsbündnis mit dem österreichisch-ungarischen Nachbarreiche hinreichend gesichert. Dagegen läßt sich das von dem österreichisch-ungarischen Grenzgebiete im Osten nur mit einigen Einschränkungen behaupten. Namentlich ist hier im nordöstlichen Teile Galiziens erst spät an Festungsschutz gegen Rußland gedacht worden, und erst vor wenigen Jahren hat man die Sache mit Eifer in die Hände genommen und zunächst Krakau durch Umbau und Vergrößerung in eine Festung ersten Ranges verwandelt — ein Riesenwerk, das nunmehr voll¬ endet ist, wogegen das verschanzte Lager von Przemysl in Mittelgalizien (zur Deckung der strategischen Desileen zwischen Sau und Dnjestr) noch nicht ganz fertig sein soll und von hier bis Czernvwitz, auf einer Strecke von 360 Kilo¬ metern, keinerlei Befestigung sich einem Feinde in den Weg stellt. Dazu kommt, daß Westgalizien nur in der Weichsel und dem San einigen natürlichen Schutz hat, der jedoch bei der hier uoch geringen Wasserfülle jenes Stromes nicht viel bedeuten will. Der bei weitem größre Teil der langgestreckten Provinz ermangelt jeder Sicherung durch die Gestaltung des Bodens. Es sind also zur Verteidigung der Grenze und der für die Kriegführung hochwichtigen Eisenbahnen starke Truppenausstellungen erforderlich, und diese können aller¬ dings eben durch die Eisenbahnen, von denen es hier viele giebt, die ein vor¬ treffliches System bilden, schnell bewerkstelligt werden. Erst die Karpathen an der Südwestgrenze Galiziens bieten einem russischen Einfall bedeutende Hindernisse natürlicher Art und beschränken ihn auf die Straßen, die über den Gebirgskamm führen, oder vielmehr auf einige dieser Pässe. Denn die west¬ lichen sind mit den Eisenbahnlinien Kaschan-Oderberg und deren Anschlüssen an die Warschauer Bahn, den Linien Kaschau-Tarnow und Mihaly-Przemysl auf der Nordseite der Karpathen durch Krakau und Przemhsl und der Linie Muneaez-Stryj-Lemberg durch die alte Feste Muncaez gedeckt. Die südöstlich von dieser letztern Schienenstraße befindlichen Übergänge über die Karpathen, wie der Körösmezo-, der Nodna-, der Stiel- und der Borgo-Paß dagegen sind unverteidigt durch Festungen oder sonstige Mittel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/596>, abgerufen am 29.06.2024.