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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Richis letztes Novellenbuch

Jedenfalls ist es müssig, den Streit über die zweckdienlichere Form der
Novelle bei jedem scheinbaren Anlaß zu erneuern. Die Wirkungen der frischen
und sehr individuelle" Erzühluugsknnst Richts können durch ein mögliches
Mißverständnis seiner Nvvellentheorie schließlich mahl in Abrede gestellt werden,
und angesichts seiner neuesten fünf Novellen entsteht viel mehr die Frage, wie
sie sich zik seinen vorangegangenen fünfundvierzig Geschichten, als wie sie sich
zu seiner Anschauung vorn Wesen und von der Vortragsweise der besten Novelle
verhalten. Und da ist es denn hocherfreulich sagen zu können, daß die ge¬
winnendsten und tüchtigsten Eigenschaften des Erzählers Riese sich auch in
diesem letzten Bande wiederfinden. Warum er ihn "Lebensrätsel" nennt, sagt
er uns am Schlüsse seiner Vorrede: "Ein religiöses Gemüt kennt keinen Zufall;
denn der Zufall ist ihm gerade das Notwendigste, über unserm freien Willen
stehend, im Willen Gottes, das kleine Rätsel im großen Weltenrätsel. Und
so giebt jede rechte Novelle bei aller klarsten Lösung der psychologischen
Probleme -- gleichviel ob sie mit unsern Grillen und Launen spielt oder die
dämonischen Tiefen der Leidenschaft enthüllt -- dem. Leser doch immer auch
Zugleich ein Lebensrätsel auf. In diesem Sinne wählte ich den Titel dieses
letzten Bandes und schloß das Gesamtwert, welches den Leser durch tausend
Jahre führt, mit einer Rittergeschichte, die aber heute wie gestern, die zu allen
Zeiten spielt, sie heißt die Gerechtigkeit Gottes."

Vor allem ist es die unverwüstliche Frische des Erfinders und Erzählers,
die uus in diesen Novellen, geradezu siegend und leuchtend aber aus der in
die Mitte gestellten "Fürst und Kanzler," entgegenschaut und herzerquickend
wirkt. Die Geschichte wird sicher mit allgemeiner Zustimmung den längst an¬
erkannten Meisterstücke" Richis angereiht werden, sie spielt ans dem Boden,
der Riehl besonders vertraut ist und dessen lebendige Anschauung ihn vor
jedem Schritt nach der "Butzenscheiben-Novellistik" ein- für allemal bewahrt
hat. Ein Prachtstück aus dem kleinstaatlichen Leben des Halbjährhunderts
nach dem dreißigjährigen Kriege, eine Geschichte, die namentlich in ihrem Grund-
motiv und ihrer ersten Hülste sich zur lebendigsten Wirkung erhebt, in der
der Gegensatz zwischen dem fürstlich gewaltthätigen Markgrafen Philipp und
seinem Kanzler auch die weitere Wendung und das Stück abenteuerlicher
Pädagogik begreiflich machte, mit welchem der glückliche Schluß der Handlung
herbeigeführt wird. Hier hat der Novellist Gelegenheit, seine besondre Kunst
zu entfalten, und hier grenzt doch wieder -- und das ist sehr bezeichnend --
die Ausführung in ihren ergreifendsten und anschaulichsten Szenen an jene
Erzählungsart, welche die farbige Ausmalung und die Wiedergabe der Stim¬
mungen zum Wesen der Novelle rechnet. Der Wolf- und Bärenkampf im
Binnenhofe des Schlosses, die Katastrophe im Hanse des Kanzlers, die Unter¬
redung zwischen dem als Calicant vermummten Doktor Behaim aus Nürn¬
berg und dem zornigen Markgrafen, die tolle Liebeswerbung Behaims um


Richis letztes Novellenbuch

Jedenfalls ist es müssig, den Streit über die zweckdienlichere Form der
Novelle bei jedem scheinbaren Anlaß zu erneuern. Die Wirkungen der frischen
und sehr individuelle» Erzühluugsknnst Richts können durch ein mögliches
Mißverständnis seiner Nvvellentheorie schließlich mahl in Abrede gestellt werden,
und angesichts seiner neuesten fünf Novellen entsteht viel mehr die Frage, wie
sie sich zik seinen vorangegangenen fünfundvierzig Geschichten, als wie sie sich
zu seiner Anschauung vorn Wesen und von der Vortragsweise der besten Novelle
verhalten. Und da ist es denn hocherfreulich sagen zu können, daß die ge¬
winnendsten und tüchtigsten Eigenschaften des Erzählers Riese sich auch in
diesem letzten Bande wiederfinden. Warum er ihn „Lebensrätsel" nennt, sagt
er uns am Schlüsse seiner Vorrede: „Ein religiöses Gemüt kennt keinen Zufall;
denn der Zufall ist ihm gerade das Notwendigste, über unserm freien Willen
stehend, im Willen Gottes, das kleine Rätsel im großen Weltenrätsel. Und
so giebt jede rechte Novelle bei aller klarsten Lösung der psychologischen
Probleme — gleichviel ob sie mit unsern Grillen und Launen spielt oder die
dämonischen Tiefen der Leidenschaft enthüllt — dem. Leser doch immer auch
Zugleich ein Lebensrätsel auf. In diesem Sinne wählte ich den Titel dieses
letzten Bandes und schloß das Gesamtwert, welches den Leser durch tausend
Jahre führt, mit einer Rittergeschichte, die aber heute wie gestern, die zu allen
Zeiten spielt, sie heißt die Gerechtigkeit Gottes."

Vor allem ist es die unverwüstliche Frische des Erfinders und Erzählers,
die uus in diesen Novellen, geradezu siegend und leuchtend aber aus der in
die Mitte gestellten „Fürst und Kanzler," entgegenschaut und herzerquickend
wirkt. Die Geschichte wird sicher mit allgemeiner Zustimmung den längst an¬
erkannten Meisterstücke» Richis angereiht werden, sie spielt ans dem Boden,
der Riehl besonders vertraut ist und dessen lebendige Anschauung ihn vor
jedem Schritt nach der „Butzenscheiben-Novellistik" ein- für allemal bewahrt
hat. Ein Prachtstück aus dem kleinstaatlichen Leben des Halbjährhunderts
nach dem dreißigjährigen Kriege, eine Geschichte, die namentlich in ihrem Grund-
motiv und ihrer ersten Hülste sich zur lebendigsten Wirkung erhebt, in der
der Gegensatz zwischen dem fürstlich gewaltthätigen Markgrafen Philipp und
seinem Kanzler auch die weitere Wendung und das Stück abenteuerlicher
Pädagogik begreiflich machte, mit welchem der glückliche Schluß der Handlung
herbeigeführt wird. Hier hat der Novellist Gelegenheit, seine besondre Kunst
zu entfalten, und hier grenzt doch wieder — und das ist sehr bezeichnend —
die Ausführung in ihren ergreifendsten und anschaulichsten Szenen an jene
Erzählungsart, welche die farbige Ausmalung und die Wiedergabe der Stim¬
mungen zum Wesen der Novelle rechnet. Der Wolf- und Bärenkampf im
Binnenhofe des Schlosses, die Katastrophe im Hanse des Kanzlers, die Unter¬
redung zwischen dem als Calicant vermummten Doktor Behaim aus Nürn¬
berg und dem zornigen Markgrafen, die tolle Liebeswerbung Behaims um


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[0044] Richis letztes Novellenbuch Jedenfalls ist es müssig, den Streit über die zweckdienlichere Form der Novelle bei jedem scheinbaren Anlaß zu erneuern. Die Wirkungen der frischen und sehr individuelle» Erzühluugsknnst Richts können durch ein mögliches Mißverständnis seiner Nvvellentheorie schließlich mahl in Abrede gestellt werden, und angesichts seiner neuesten fünf Novellen entsteht viel mehr die Frage, wie sie sich zik seinen vorangegangenen fünfundvierzig Geschichten, als wie sie sich zu seiner Anschauung vorn Wesen und von der Vortragsweise der besten Novelle verhalten. Und da ist es denn hocherfreulich sagen zu können, daß die ge¬ winnendsten und tüchtigsten Eigenschaften des Erzählers Riese sich auch in diesem letzten Bande wiederfinden. Warum er ihn „Lebensrätsel" nennt, sagt er uns am Schlüsse seiner Vorrede: „Ein religiöses Gemüt kennt keinen Zufall; denn der Zufall ist ihm gerade das Notwendigste, über unserm freien Willen stehend, im Willen Gottes, das kleine Rätsel im großen Weltenrätsel. Und so giebt jede rechte Novelle bei aller klarsten Lösung der psychologischen Probleme — gleichviel ob sie mit unsern Grillen und Launen spielt oder die dämonischen Tiefen der Leidenschaft enthüllt — dem. Leser doch immer auch Zugleich ein Lebensrätsel auf. In diesem Sinne wählte ich den Titel dieses letzten Bandes und schloß das Gesamtwert, welches den Leser durch tausend Jahre führt, mit einer Rittergeschichte, die aber heute wie gestern, die zu allen Zeiten spielt, sie heißt die Gerechtigkeit Gottes." Vor allem ist es die unverwüstliche Frische des Erfinders und Erzählers, die uus in diesen Novellen, geradezu siegend und leuchtend aber aus der in die Mitte gestellten „Fürst und Kanzler," entgegenschaut und herzerquickend wirkt. Die Geschichte wird sicher mit allgemeiner Zustimmung den längst an¬ erkannten Meisterstücke» Richis angereiht werden, sie spielt ans dem Boden, der Riehl besonders vertraut ist und dessen lebendige Anschauung ihn vor jedem Schritt nach der „Butzenscheiben-Novellistik" ein- für allemal bewahrt hat. Ein Prachtstück aus dem kleinstaatlichen Leben des Halbjährhunderts nach dem dreißigjährigen Kriege, eine Geschichte, die namentlich in ihrem Grund- motiv und ihrer ersten Hülste sich zur lebendigsten Wirkung erhebt, in der der Gegensatz zwischen dem fürstlich gewaltthätigen Markgrafen Philipp und seinem Kanzler auch die weitere Wendung und das Stück abenteuerlicher Pädagogik begreiflich machte, mit welchem der glückliche Schluß der Handlung herbeigeführt wird. Hier hat der Novellist Gelegenheit, seine besondre Kunst zu entfalten, und hier grenzt doch wieder — und das ist sehr bezeichnend — die Ausführung in ihren ergreifendsten und anschaulichsten Szenen an jene Erzählungsart, welche die farbige Ausmalung und die Wiedergabe der Stim¬ mungen zum Wesen der Novelle rechnet. Der Wolf- und Bärenkampf im Binnenhofe des Schlosses, die Katastrophe im Hanse des Kanzlers, die Unter¬ redung zwischen dem als Calicant vermummten Doktor Behaim aus Nürn¬ berg und dem zornigen Markgrafen, die tolle Liebeswerbung Behaims um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/44>, abgerufen am 29.06.2024.