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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Harte Aöpfe

Weibe, den Kampf der Logik mit der Sitte gethan habe. Dieser Kampf mag
sich selten so scharf und so unglücklich abgespielt haben, wie im Leben dieses
hochbegabten, stolzen und intelligenten Menschen.

Es war im Sommer des Jahres 1883. Ich hatte ihm bei einer schweren
Operation assistirt, und wir gingen, um einen zweiten Fall gemeinschaftlich in
Behandlung zu nehmen. Unterwegs schlug ich ihm vor, ein wenig zu essen;
die Hand eines Hungernden ist unsicher, sagte ich; ich bin seit sieben Uhr
in Thätigkeit, und ich bin hungrig.

Wie Sie wollen, antwortete er, ich bin noch nicht zum Essen aufgelegt,
und mein Kopf ist im allgemeinen frischer, so lange der Magen nichts zu thun
hat; aber es ist gut, wenn jeder von uns in seiner Weise vorbereitet ist, also
werde ich mit Vergnügen auf Sie warten und Ihnen zusehen.

Wir traten in die nächste gute Restauration und ließen uns nieder. Es
war kurz vor elf Uhr, das Gastzimmer noch wenig gefüllt, nur an einem Tische
neben uns saß eine schon etwas geräuschvolle Gesellschaft hinter dem Frühtrunk.
Einige von den Herren kannte ich, zwei waren mir fremd. Unter den letztern
siel mir einer sofort durch sein eigentümlich aufgeregtes Aussehen auf; es kam
mir vor, als sei er blaß geworden, wie wir eintraten, und als hätten seine
Augen das besondere Funkeln angenommen, das die Irrsinnigen zuweilen
zeigen, wenn ihnen ein böser Einfall kommt. Ich machte Venarius auf ihn
aufmerksam; der schaute gleichgültig nach ihm auf und meinte: Der Mann hat
vielleicht eine Nacht des Zechens hinter sich.

Der Besprochene aber hatte den Blick meines Kollegen aufgefangen, und
diesmal wurde er deutlich blasser; mit einem Ruck erhob er sich und trat wie
den rempelnder Student auf uns zu. Sind Sie Herr Doktor Venarius?
fragte er.

Jawohl, lautete die Antwort, wünschen Sie etwas von mir?

Das werden Sie gleich sehen, sprach der Fremde, und blitzschnell, ehe
jemand sein Vorhaben voraussehen konnte, hatte er seinen Handschuh genommen
und den Doktor damit ins Gesicht geschlagen.

^ Nicht bloß ich war überrascht; auch am Nebentische sprang man in die
Höhe. Darrenbach, was machen Sie? wurde gerufen, und einer von seinen
freunden faßte deu Beleidiger beim Arm, um ihn zurückzuziehen. In Venarius'
Gesicht spiegelte sich im ersten Augenblick nichts als maßlose Überraschung,
ann ein flammender Zorn, aber wenige Sekunden später stand er vollkommen
^lhig da und sagte, halb zu mir gewendet: Ich glaube wirklich, Kollege, der
Herr ist uicht bei Sinnen; wollen Sie das nicht näher untersuchen.

Nicht nötig, erwiderte der andre, ich weiß genau, was ich gethan habe;
"as weitere wird Ihnen meine Karte sagen. Damit zog er eine Visitenkarte
aus der Brieftasche und reichte sie dem Doktor hin. Der warf sie kühl auf
. en Tisch und sprach: Ich habe jetzt keine Zeit, mich mit einem Verrückten zu


Grenzboten I 138!) 54
Harte Aöpfe

Weibe, den Kampf der Logik mit der Sitte gethan habe. Dieser Kampf mag
sich selten so scharf und so unglücklich abgespielt haben, wie im Leben dieses
hochbegabten, stolzen und intelligenten Menschen.

Es war im Sommer des Jahres 1883. Ich hatte ihm bei einer schweren
Operation assistirt, und wir gingen, um einen zweiten Fall gemeinschaftlich in
Behandlung zu nehmen. Unterwegs schlug ich ihm vor, ein wenig zu essen;
die Hand eines Hungernden ist unsicher, sagte ich; ich bin seit sieben Uhr
in Thätigkeit, und ich bin hungrig.

Wie Sie wollen, antwortete er, ich bin noch nicht zum Essen aufgelegt,
und mein Kopf ist im allgemeinen frischer, so lange der Magen nichts zu thun
hat; aber es ist gut, wenn jeder von uns in seiner Weise vorbereitet ist, also
werde ich mit Vergnügen auf Sie warten und Ihnen zusehen.

Wir traten in die nächste gute Restauration und ließen uns nieder. Es
war kurz vor elf Uhr, das Gastzimmer noch wenig gefüllt, nur an einem Tische
neben uns saß eine schon etwas geräuschvolle Gesellschaft hinter dem Frühtrunk.
Einige von den Herren kannte ich, zwei waren mir fremd. Unter den letztern
siel mir einer sofort durch sein eigentümlich aufgeregtes Aussehen auf; es kam
mir vor, als sei er blaß geworden, wie wir eintraten, und als hätten seine
Augen das besondere Funkeln angenommen, das die Irrsinnigen zuweilen
zeigen, wenn ihnen ein böser Einfall kommt. Ich machte Venarius auf ihn
aufmerksam; der schaute gleichgültig nach ihm auf und meinte: Der Mann hat
vielleicht eine Nacht des Zechens hinter sich.

Der Besprochene aber hatte den Blick meines Kollegen aufgefangen, und
diesmal wurde er deutlich blasser; mit einem Ruck erhob er sich und trat wie
den rempelnder Student auf uns zu. Sind Sie Herr Doktor Venarius?
fragte er.

Jawohl, lautete die Antwort, wünschen Sie etwas von mir?

Das werden Sie gleich sehen, sprach der Fremde, und blitzschnell, ehe
jemand sein Vorhaben voraussehen konnte, hatte er seinen Handschuh genommen
und den Doktor damit ins Gesicht geschlagen.

^ Nicht bloß ich war überrascht; auch am Nebentische sprang man in die
Höhe. Darrenbach, was machen Sie? wurde gerufen, und einer von seinen
freunden faßte deu Beleidiger beim Arm, um ihn zurückzuziehen. In Venarius'
Gesicht spiegelte sich im ersten Augenblick nichts als maßlose Überraschung,
ann ein flammender Zorn, aber wenige Sekunden später stand er vollkommen
^lhig da und sagte, halb zu mir gewendet: Ich glaube wirklich, Kollege, der
Herr ist uicht bei Sinnen; wollen Sie das nicht näher untersuchen.

Nicht nötig, erwiderte der andre, ich weiß genau, was ich gethan habe;
"as weitere wird Ihnen meine Karte sagen. Damit zog er eine Visitenkarte
aus der Brieftasche und reichte sie dem Doktor hin. Der warf sie kühl auf
. en Tisch und sprach: Ich habe jetzt keine Zeit, mich mit einem Verrückten zu


Grenzboten I 138!) 54
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[0433] Harte Aöpfe Weibe, den Kampf der Logik mit der Sitte gethan habe. Dieser Kampf mag sich selten so scharf und so unglücklich abgespielt haben, wie im Leben dieses hochbegabten, stolzen und intelligenten Menschen. Es war im Sommer des Jahres 1883. Ich hatte ihm bei einer schweren Operation assistirt, und wir gingen, um einen zweiten Fall gemeinschaftlich in Behandlung zu nehmen. Unterwegs schlug ich ihm vor, ein wenig zu essen; die Hand eines Hungernden ist unsicher, sagte ich; ich bin seit sieben Uhr in Thätigkeit, und ich bin hungrig. Wie Sie wollen, antwortete er, ich bin noch nicht zum Essen aufgelegt, und mein Kopf ist im allgemeinen frischer, so lange der Magen nichts zu thun hat; aber es ist gut, wenn jeder von uns in seiner Weise vorbereitet ist, also werde ich mit Vergnügen auf Sie warten und Ihnen zusehen. Wir traten in die nächste gute Restauration und ließen uns nieder. Es war kurz vor elf Uhr, das Gastzimmer noch wenig gefüllt, nur an einem Tische neben uns saß eine schon etwas geräuschvolle Gesellschaft hinter dem Frühtrunk. Einige von den Herren kannte ich, zwei waren mir fremd. Unter den letztern siel mir einer sofort durch sein eigentümlich aufgeregtes Aussehen auf; es kam mir vor, als sei er blaß geworden, wie wir eintraten, und als hätten seine Augen das besondere Funkeln angenommen, das die Irrsinnigen zuweilen zeigen, wenn ihnen ein böser Einfall kommt. Ich machte Venarius auf ihn aufmerksam; der schaute gleichgültig nach ihm auf und meinte: Der Mann hat vielleicht eine Nacht des Zechens hinter sich. Der Besprochene aber hatte den Blick meines Kollegen aufgefangen, und diesmal wurde er deutlich blasser; mit einem Ruck erhob er sich und trat wie den rempelnder Student auf uns zu. Sind Sie Herr Doktor Venarius? fragte er. Jawohl, lautete die Antwort, wünschen Sie etwas von mir? Das werden Sie gleich sehen, sprach der Fremde, und blitzschnell, ehe jemand sein Vorhaben voraussehen konnte, hatte er seinen Handschuh genommen und den Doktor damit ins Gesicht geschlagen. ^ Nicht bloß ich war überrascht; auch am Nebentische sprang man in die Höhe. Darrenbach, was machen Sie? wurde gerufen, und einer von seinen freunden faßte deu Beleidiger beim Arm, um ihn zurückzuziehen. In Venarius' Gesicht spiegelte sich im ersten Augenblick nichts als maßlose Überraschung, ann ein flammender Zorn, aber wenige Sekunden später stand er vollkommen ^lhig da und sagte, halb zu mir gewendet: Ich glaube wirklich, Kollege, der Herr ist uicht bei Sinnen; wollen Sie das nicht näher untersuchen. Nicht nötig, erwiderte der andre, ich weiß genau, was ich gethan habe; "as weitere wird Ihnen meine Karte sagen. Damit zog er eine Visitenkarte aus der Brieftasche und reichte sie dem Doktor hin. Der warf sie kühl auf . en Tisch und sprach: Ich habe jetzt keine Zeit, mich mit einem Verrückten zu Grenzboten I 138!) 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/433>, abgerufen am 29.06.2024.