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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Die jüngste Schule

Vor allem muß bemerkt werden, dnß "die Moderne" nicht etwa eine
Dame ist, die sich nach der neuesten Mode trägt, sondern das Gegenteil von
Antike, also die neuere Zeit, die neuere Weltanschauung u. s. w. Schön, also
ungefähr dasselbe wie Renaissance? Beileibe nicht! Die Renaissance mit all
ihren Nachzüglern ist ja Vergangenheit, die "Moderne" jedoch ist Gegenwart,
ob Gegenwart an sich oder mir die gegenwärtige Gegenwart, das -- werden
wir vielleicht später erfahren. Zuvörderst spricht die Moderne anch "modernes"
Deutsch, das altväterischen Leuten nicht immer verständlich ist. "Richard
Eckstein Nachfolger" -- ein sonderbare Vorname "Eckstein"; oder ist Herr
R. Eckstein ein Nachfolger? Wessen denn? Und in welcher Beziehung zu ihm
stehen die beiden noch nußer ihm genannten Herren? Sollten sie etwa Ecksteins
Nachfolger sein? "Nicht genug, ihr laßt mich verhungern, so verlangt ihr
noch unnatürliche Kraftanstrengungen." Wenn das auch modernes Deutsch ist,
so muß es nicht weit von der polnischen Grenze zu Hause sein. "Als der
große Einheitskrieg dnrchruugen war." Alle Wetter, was die "Moderne" alles
vollbringt, sie durchringt einen Krieg; das heißt nicht, daß sie einen Ring
durch den Krieg zieht, aber, was es heißt, das ahnt wohl nur ein Moderner.
Doch kommen wir zur Sache.

"Die antikisirende Richtung der deutschen Litteratur war unter (so!)
Winckelmann und Lessing Zukunft, wurde Gegenwart mit Goethe und Schiller
und sank zwischen beider Todesjahr ins Grab." Zwischen beiden Jahren, un¬
gefähr 1818. Von da ab scheint eine Zeitlang gnr keine Litteratur gewesen
zu sein, denn erst 183!! beginnt "die Zukunft der liberalisirenden Epigvnen-
setigkeit, unter deren Bann die Muse deutscher Dichtkunst noch heute schmachtet,"
1848 wurde sie Gegenwart, und seit 1870 "ist sie Vergangenheit, d. l). ein-
balsamirte Leiche." Dann abermals nichts, bis 1881 Ernst von Wildenbruch
in seinen "Karolingern" den Versuch einer nationalen Dichtung machte, und
1882 die Brüder Hart das Programm der "Moderne" aufstellten. "Das Heil
kommt nicht aus Ägypten und Hellas, sondern aus der germanischen Volks¬
seele, wir bedürfen einer echt nationalen Dichtung nicht dem Stoffe, sondern
dem Geiste nach. ES gilt, wieder nimt'rupfen an den jungen Goethe und
seine Zeit, und wir brauchen keine weitere Fvrmenglätte, sondern mehr Tiefe,
mehr Glied, mehr Größe." Das ist klar und einfach, und wenn die Dichter
diese mäßigen Forderungen nicht erfüllen, so müssen sie sich vor Ehren-Schinock
schämen. So gut er tief oder brillant schrieb, wie es sein Redakteur verlangte,
werden sie doch werden können wie der junge Goethe, nur tiefer, glühender
und größer? Ganz so rasch, wie erwünscht, ging es freilich nicht. Wolfgang
Kirchbach kam nicht "über die Tendenz und theoretische Symbolisirung hinaus
zu wahrer künstlerischer Gestaltung," Heiberg ist "kein mächtiger Bahnbrecher."
Zu Weihnachten 1884 erschien endlich der Wahre, Karl Henckell, der Mit¬
herausgeber einer Sammlung lyrischer Gedichte, die, "sagen wir es kurz heraus


Die jüngste Schule

Vor allem muß bemerkt werden, dnß „die Moderne" nicht etwa eine
Dame ist, die sich nach der neuesten Mode trägt, sondern das Gegenteil von
Antike, also die neuere Zeit, die neuere Weltanschauung u. s. w. Schön, also
ungefähr dasselbe wie Renaissance? Beileibe nicht! Die Renaissance mit all
ihren Nachzüglern ist ja Vergangenheit, die „Moderne" jedoch ist Gegenwart,
ob Gegenwart an sich oder mir die gegenwärtige Gegenwart, das — werden
wir vielleicht später erfahren. Zuvörderst spricht die Moderne anch „modernes"
Deutsch, das altväterischen Leuten nicht immer verständlich ist. „Richard
Eckstein Nachfolger" — ein sonderbare Vorname „Eckstein"; oder ist Herr
R. Eckstein ein Nachfolger? Wessen denn? Und in welcher Beziehung zu ihm
stehen die beiden noch nußer ihm genannten Herren? Sollten sie etwa Ecksteins
Nachfolger sein? „Nicht genug, ihr laßt mich verhungern, so verlangt ihr
noch unnatürliche Kraftanstrengungen." Wenn das auch modernes Deutsch ist,
so muß es nicht weit von der polnischen Grenze zu Hause sein. „Als der
große Einheitskrieg dnrchruugen war." Alle Wetter, was die „Moderne" alles
vollbringt, sie durchringt einen Krieg; das heißt nicht, daß sie einen Ring
durch den Krieg zieht, aber, was es heißt, das ahnt wohl nur ein Moderner.
Doch kommen wir zur Sache.

„Die antikisirende Richtung der deutschen Litteratur war unter (so!)
Winckelmann und Lessing Zukunft, wurde Gegenwart mit Goethe und Schiller
und sank zwischen beider Todesjahr ins Grab." Zwischen beiden Jahren, un¬
gefähr 1818. Von da ab scheint eine Zeitlang gnr keine Litteratur gewesen
zu sein, denn erst 183!! beginnt „die Zukunft der liberalisirenden Epigvnen-
setigkeit, unter deren Bann die Muse deutscher Dichtkunst noch heute schmachtet,"
1848 wurde sie Gegenwart, und seit 1870 „ist sie Vergangenheit, d. l). ein-
balsamirte Leiche." Dann abermals nichts, bis 1881 Ernst von Wildenbruch
in seinen „Karolingern" den Versuch einer nationalen Dichtung machte, und
1882 die Brüder Hart das Programm der „Moderne" aufstellten. „Das Heil
kommt nicht aus Ägypten und Hellas, sondern aus der germanischen Volks¬
seele, wir bedürfen einer echt nationalen Dichtung nicht dem Stoffe, sondern
dem Geiste nach. ES gilt, wieder nimt'rupfen an den jungen Goethe und
seine Zeit, und wir brauchen keine weitere Fvrmenglätte, sondern mehr Tiefe,
mehr Glied, mehr Größe." Das ist klar und einfach, und wenn die Dichter
diese mäßigen Forderungen nicht erfüllen, so müssen sie sich vor Ehren-Schinock
schämen. So gut er tief oder brillant schrieb, wie es sein Redakteur verlangte,
werden sie doch werden können wie der junge Goethe, nur tiefer, glühender
und größer? Ganz so rasch, wie erwünscht, ging es freilich nicht. Wolfgang
Kirchbach kam nicht „über die Tendenz und theoretische Symbolisirung hinaus
zu wahrer künstlerischer Gestaltung," Heiberg ist „kein mächtiger Bahnbrecher."
Zu Weihnachten 1884 erschien endlich der Wahre, Karl Henckell, der Mit¬
herausgeber einer Sammlung lyrischer Gedichte, die, „sagen wir es kurz heraus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/36>, abgerufen am 29.06.2024.