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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Frau Gottsched,

Als Schriftstellerin entfaltete Frau Gottsched eine fast unglaubliche Thä¬
tigkeit. Es würde jedoch hier zu weit führen, alle ihre selbständigen Werke, ihre
Übersetzungen, Kritiken u. s. w. aufzuzählen. Zunächst nahm ihr Gatte ihren
Fleiß und ihr Geschick in Anspruch zur Förderung der Arbeiten, durch die er
auf die Entwicklung der deutscheu Litteratur einzuwirken suchte. Als er den
außerordentlich reichen Bildungsstoff, der in dem Wörterbuche des französischen
Gelehrten Bayle vorlag, auch den Deutschen zugänglich mache" wollte, zog er
neben andern Mitarbeitern auch seine Gattin mit heran. Nicht nur hat sie
einzelne Artikel des Wörterbuches ganz selbständig übersetzt, sondern sie beteiligte
sich auch bei der Durchsicht der eingegangenen Übersetzungen und bei der Über¬
wachung des Druckes. Wenn Beitrüge der Mitarbeiter eingegangen waren, so
las sie sie vor, während ihr Gatte den französischen Text vor sich liegen hatte.
Notwendig erscheinende Abänderungen wurden dann gemeinsam beraten, und
gar oft ging der bessere Vorschlag zu solchen von der Frau Professorin ans.
Bei der Durchsicht der Druckbogen wurden die Rollen vertauscht; Gottsched las
die Bogen, und die Gattin verfolgte daneben den Grundtext.

Ganz selbständig übersetzte Frau Gottsched die in Paris in elf Bänden
erschienene Geschichte der königlichen ^.v^äsinie ä"zö M8orivtions se dsllss lottrss,
sowie eine zweibändige Ausgabe größerer selbständiger Schriften dieser Akademie.
Länger als nenn Jahre hat diese Arbeit sie beschäftigt; man darf aber nicht
meinen, daß sie dabei eine große innere Befriedigung gehabt habe. Sie wurde
dadurch zur Beschäftigung mit Gegenständen veranlaßt, die ihrem Gesichtskreise
und ihrem Interesse oft gleich fern lagen, und in vertrauten Briefen klagt sie
über die Last dieser Arbeit, die sie vorzugsweise nur dem Gatten zu Gefallen
übernommen hatte.

In einem Briefe an Frau Nunkel, eine ihrer besten Freundinnen, schreibt
sie am 24. März 1764 u. a.: "Nein, beste Freundin! Ich kann mich nicht
überwinden, Ihnen den Sokrates und Plato, die mich bisher in der Geduld
geübet, zuzuschicken. Sollte ich Sie mit zwey und dreyßig gedruckten Bogen ,
Plagen? So viel beträgt meine Arbeit von der Neujahrsmcsse bis hierher.
Ich will Ihnen den ganzen Inhalt sagen. Er betrifft lauter griechische, römische,
egyptische und. kurz zu sagen, barbarische Alterthümer, das ganze Werk ist
voller kritischer Grillen. Mitten unter denselben finden Sie etwa auf dreh
Bogen ein trockenes metaphysisches Gespräch des Sokrates mit seinem Schüler
Thcätetus. die mit einander zanken, was das Wissen ist und ob es etwas
anderes als empfinden sey. Nein, ich verehre Sie viel zu sehr, und Ihre Zeit
ist mir viel zu schätzbar, um Sie mit Lesung einer Schrift zu plagen, die mir
selbst zum Ekel geworden ist. Nie habe ich einen ärgeren Sophisten und einen
dünneren Lehrling gesehen. Lassen Sie uns lieber freundschaftliche Briefe
wechseln."

Mehr Freude gewährte ihr die Übersetzung zweier englischen moralischen


Grenzboten III. 1888. 76
Frau Gottsched,

Als Schriftstellerin entfaltete Frau Gottsched eine fast unglaubliche Thä¬
tigkeit. Es würde jedoch hier zu weit führen, alle ihre selbständigen Werke, ihre
Übersetzungen, Kritiken u. s. w. aufzuzählen. Zunächst nahm ihr Gatte ihren
Fleiß und ihr Geschick in Anspruch zur Förderung der Arbeiten, durch die er
auf die Entwicklung der deutscheu Litteratur einzuwirken suchte. Als er den
außerordentlich reichen Bildungsstoff, der in dem Wörterbuche des französischen
Gelehrten Bayle vorlag, auch den Deutschen zugänglich mache» wollte, zog er
neben andern Mitarbeitern auch seine Gattin mit heran. Nicht nur hat sie
einzelne Artikel des Wörterbuches ganz selbständig übersetzt, sondern sie beteiligte
sich auch bei der Durchsicht der eingegangenen Übersetzungen und bei der Über¬
wachung des Druckes. Wenn Beitrüge der Mitarbeiter eingegangen waren, so
las sie sie vor, während ihr Gatte den französischen Text vor sich liegen hatte.
Notwendig erscheinende Abänderungen wurden dann gemeinsam beraten, und
gar oft ging der bessere Vorschlag zu solchen von der Frau Professorin ans.
Bei der Durchsicht der Druckbogen wurden die Rollen vertauscht; Gottsched las
die Bogen, und die Gattin verfolgte daneben den Grundtext.

Ganz selbständig übersetzte Frau Gottsched die in Paris in elf Bänden
erschienene Geschichte der königlichen ^.v^äsinie ä«zö M8orivtions se dsllss lottrss,
sowie eine zweibändige Ausgabe größerer selbständiger Schriften dieser Akademie.
Länger als nenn Jahre hat diese Arbeit sie beschäftigt; man darf aber nicht
meinen, daß sie dabei eine große innere Befriedigung gehabt habe. Sie wurde
dadurch zur Beschäftigung mit Gegenständen veranlaßt, die ihrem Gesichtskreise
und ihrem Interesse oft gleich fern lagen, und in vertrauten Briefen klagt sie
über die Last dieser Arbeit, die sie vorzugsweise nur dem Gatten zu Gefallen
übernommen hatte.

In einem Briefe an Frau Nunkel, eine ihrer besten Freundinnen, schreibt
sie am 24. März 1764 u. a.: „Nein, beste Freundin! Ich kann mich nicht
überwinden, Ihnen den Sokrates und Plato, die mich bisher in der Geduld
geübet, zuzuschicken. Sollte ich Sie mit zwey und dreyßig gedruckten Bogen ,
Plagen? So viel beträgt meine Arbeit von der Neujahrsmcsse bis hierher.
Ich will Ihnen den ganzen Inhalt sagen. Er betrifft lauter griechische, römische,
egyptische und. kurz zu sagen, barbarische Alterthümer, das ganze Werk ist
voller kritischer Grillen. Mitten unter denselben finden Sie etwa auf dreh
Bogen ein trockenes metaphysisches Gespräch des Sokrates mit seinem Schüler
Thcätetus. die mit einander zanken, was das Wissen ist und ob es etwas
anderes als empfinden sey. Nein, ich verehre Sie viel zu sehr, und Ihre Zeit
ist mir viel zu schätzbar, um Sie mit Lesung einer Schrift zu plagen, die mir
selbst zum Ekel geworden ist. Nie habe ich einen ärgeren Sophisten und einen
dünneren Lehrling gesehen. Lassen Sie uns lieber freundschaftliche Briefe
wechseln."

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[0609] Frau Gottsched, Als Schriftstellerin entfaltete Frau Gottsched eine fast unglaubliche Thä¬ tigkeit. Es würde jedoch hier zu weit führen, alle ihre selbständigen Werke, ihre Übersetzungen, Kritiken u. s. w. aufzuzählen. Zunächst nahm ihr Gatte ihren Fleiß und ihr Geschick in Anspruch zur Förderung der Arbeiten, durch die er auf die Entwicklung der deutscheu Litteratur einzuwirken suchte. Als er den außerordentlich reichen Bildungsstoff, der in dem Wörterbuche des französischen Gelehrten Bayle vorlag, auch den Deutschen zugänglich mache» wollte, zog er neben andern Mitarbeitern auch seine Gattin mit heran. Nicht nur hat sie einzelne Artikel des Wörterbuches ganz selbständig übersetzt, sondern sie beteiligte sich auch bei der Durchsicht der eingegangenen Übersetzungen und bei der Über¬ wachung des Druckes. Wenn Beitrüge der Mitarbeiter eingegangen waren, so las sie sie vor, während ihr Gatte den französischen Text vor sich liegen hatte. Notwendig erscheinende Abänderungen wurden dann gemeinsam beraten, und gar oft ging der bessere Vorschlag zu solchen von der Frau Professorin ans. Bei der Durchsicht der Druckbogen wurden die Rollen vertauscht; Gottsched las die Bogen, und die Gattin verfolgte daneben den Grundtext. Ganz selbständig übersetzte Frau Gottsched die in Paris in elf Bänden erschienene Geschichte der königlichen ^.v^äsinie ä«zö M8orivtions se dsllss lottrss, sowie eine zweibändige Ausgabe größerer selbständiger Schriften dieser Akademie. Länger als nenn Jahre hat diese Arbeit sie beschäftigt; man darf aber nicht meinen, daß sie dabei eine große innere Befriedigung gehabt habe. Sie wurde dadurch zur Beschäftigung mit Gegenständen veranlaßt, die ihrem Gesichtskreise und ihrem Interesse oft gleich fern lagen, und in vertrauten Briefen klagt sie über die Last dieser Arbeit, die sie vorzugsweise nur dem Gatten zu Gefallen übernommen hatte. In einem Briefe an Frau Nunkel, eine ihrer besten Freundinnen, schreibt sie am 24. März 1764 u. a.: „Nein, beste Freundin! Ich kann mich nicht überwinden, Ihnen den Sokrates und Plato, die mich bisher in der Geduld geübet, zuzuschicken. Sollte ich Sie mit zwey und dreyßig gedruckten Bogen , Plagen? So viel beträgt meine Arbeit von der Neujahrsmcsse bis hierher. Ich will Ihnen den ganzen Inhalt sagen. Er betrifft lauter griechische, römische, egyptische und. kurz zu sagen, barbarische Alterthümer, das ganze Werk ist voller kritischer Grillen. Mitten unter denselben finden Sie etwa auf dreh Bogen ein trockenes metaphysisches Gespräch des Sokrates mit seinem Schüler Thcätetus. die mit einander zanken, was das Wissen ist und ob es etwas anderes als empfinden sey. Nein, ich verehre Sie viel zu sehr, und Ihre Zeit ist mir viel zu schätzbar, um Sie mit Lesung einer Schrift zu plagen, die mir selbst zum Ekel geworden ist. Nie habe ich einen ärgeren Sophisten und einen dünneren Lehrling gesehen. Lassen Sie uns lieber freundschaftliche Briefe wechseln." Mehr Freude gewährte ihr die Übersetzung zweier englischen moralischen Grenzboten III. 1888. 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/609>, abgerufen am 22.07.2024.