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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Zur Philosophie der Umgangsformen.

Worten: jede Unterweisung, die bestimmt ist, den Geist zu bilden, muß aus¬
gehen von sorgfältiger Beobachtung der Thatsachen und einzudringen suchen in
den innern, tiefern Sinn derselben. Der gute Ton aber muß offenbar geistig
vermittelt sein, wenn er den Eindruck einer wirklich zum Wesen der Persönlich¬
keit gehörenden Eigenschaft machen soll. Man wird vielleicht einwenden, daß
der gesellschaftliche Takt, worauf alles ankommt, sich überhaupt nicht lehren
lasse, sondern nur äußere Gebräuche. Das ist aber falsch. Auch die äußer¬
lichsten Formen verlangen immer noch, daß man wisse, wo sie hingehören. Es
kann aber niemand in den Sinn kommen, in kasuistischer Weise alle Lebenslagen
aufzählen zu wollen, in der sich Bildung und Unbildung durch das Benehmen
unterscheidet, mit jedesmal hinzugefügter Anweisung: hier gilt die und die Regel.
Und wenn es möglich wäre, für die Schwierigkeiten, die im gesellschaftlichen
Verkehr auftreten können, stets im Gedächtnisse das Rezept bereit zu halten,
wie sie zu heben seien, so würde doch noch das Wort La Bruyere's Geltung
behalten: Ein Dummkopf tritt nicht ins Zimmer, steht nicht, setzt sich nicht wie
ein Mann von Verstand. Das bloß äußere Umlernen vermag am Dummkopf
nichts zu ändern. Takt aber kann, wenn nicht gelernt, so doch bis zu einem
hohen Grade ausgebildet werden, und wäre es auch uur der Takt des Schwei¬
gens, der oft so viel und noch mehr wert ist, als die köstlichsten Eigenschaften
des Geistes.

Eine Zusammenstellung des Brauches der gebildeten Gesellschaft bei Be¬
grüßungen, bei Besuchen, beim Essen und Trinken u. s. w. hat an sich einen
Wert; in praktischer Hinsicht wird dieser umso größer sein, je sorgfältiger das
Allgemein giltige hervorgehoben, je knapper die Regel gefaßt ist. Aber eine
solche Darstellung muß sich bewußt bleiben, daß damit noch lange nicht der
gute Ton, das korrekte und empfehlende Betragen in guter und gebildeter Ge¬
sellschaft gelehrt wird. Dem Bedürfnis einer Unterweisung, die über die
Wissenschaft der Handhabung von Messer und Gabel hinausgeht, wird jedoch
dann am wenigsten entsprochen, wenn nun als "guter Ton" alles Mögliche
angepriesen wird, was an allgemeinen Lebens- und Klugheitsregeln, an haus¬
wirtschaftlichen Erfahrungssätzen, an modischen Vorschriften über Vriefkvuvcrts
und Namenszüge zusammengerafft werden kann. Die Brücke, welche hinüber¬
führt von einer rein äußerlichen Kenntnis der gesellschaftlichen Gebräuche zu einer
praktischen Philosophie des Umgangs mit Menschen, besteht in einer methodischen
Anleitung zum Selbstauffinden des gesellschaftlich Zweckmäßiger. Goethe sagt
im "Faust": So bald du dir vertraust, so bald weißt du zu leben. Selbst¬
vertrauen ist allerdings erste Bedingung eines vorteilhaften Auftretens. Wie
sollen andre dem trauen, der nicht vermag, zu seiner Persönlichkeit selbst sich
ein Herz zu fassen? Aber es genügt daran nicht. Noch zwei andre Eigen¬
schaften, die dem Selbst entspringen, sind nicht minder erforderlich: Selbst¬
denken und Selbstbeherrschung. Wer nicht stets die Augen offen hält, wer


Zur Philosophie der Umgangsformen.

Worten: jede Unterweisung, die bestimmt ist, den Geist zu bilden, muß aus¬
gehen von sorgfältiger Beobachtung der Thatsachen und einzudringen suchen in
den innern, tiefern Sinn derselben. Der gute Ton aber muß offenbar geistig
vermittelt sein, wenn er den Eindruck einer wirklich zum Wesen der Persönlich¬
keit gehörenden Eigenschaft machen soll. Man wird vielleicht einwenden, daß
der gesellschaftliche Takt, worauf alles ankommt, sich überhaupt nicht lehren
lasse, sondern nur äußere Gebräuche. Das ist aber falsch. Auch die äußer¬
lichsten Formen verlangen immer noch, daß man wisse, wo sie hingehören. Es
kann aber niemand in den Sinn kommen, in kasuistischer Weise alle Lebenslagen
aufzählen zu wollen, in der sich Bildung und Unbildung durch das Benehmen
unterscheidet, mit jedesmal hinzugefügter Anweisung: hier gilt die und die Regel.
Und wenn es möglich wäre, für die Schwierigkeiten, die im gesellschaftlichen
Verkehr auftreten können, stets im Gedächtnisse das Rezept bereit zu halten,
wie sie zu heben seien, so würde doch noch das Wort La Bruyere's Geltung
behalten: Ein Dummkopf tritt nicht ins Zimmer, steht nicht, setzt sich nicht wie
ein Mann von Verstand. Das bloß äußere Umlernen vermag am Dummkopf
nichts zu ändern. Takt aber kann, wenn nicht gelernt, so doch bis zu einem
hohen Grade ausgebildet werden, und wäre es auch uur der Takt des Schwei¬
gens, der oft so viel und noch mehr wert ist, als die köstlichsten Eigenschaften
des Geistes.

Eine Zusammenstellung des Brauches der gebildeten Gesellschaft bei Be¬
grüßungen, bei Besuchen, beim Essen und Trinken u. s. w. hat an sich einen
Wert; in praktischer Hinsicht wird dieser umso größer sein, je sorgfältiger das
Allgemein giltige hervorgehoben, je knapper die Regel gefaßt ist. Aber eine
solche Darstellung muß sich bewußt bleiben, daß damit noch lange nicht der
gute Ton, das korrekte und empfehlende Betragen in guter und gebildeter Ge¬
sellschaft gelehrt wird. Dem Bedürfnis einer Unterweisung, die über die
Wissenschaft der Handhabung von Messer und Gabel hinausgeht, wird jedoch
dann am wenigsten entsprochen, wenn nun als „guter Ton" alles Mögliche
angepriesen wird, was an allgemeinen Lebens- und Klugheitsregeln, an haus¬
wirtschaftlichen Erfahrungssätzen, an modischen Vorschriften über Vriefkvuvcrts
und Namenszüge zusammengerafft werden kann. Die Brücke, welche hinüber¬
führt von einer rein äußerlichen Kenntnis der gesellschaftlichen Gebräuche zu einer
praktischen Philosophie des Umgangs mit Menschen, besteht in einer methodischen
Anleitung zum Selbstauffinden des gesellschaftlich Zweckmäßiger. Goethe sagt
im „Faust": So bald du dir vertraust, so bald weißt du zu leben. Selbst¬
vertrauen ist allerdings erste Bedingung eines vorteilhaften Auftretens. Wie
sollen andre dem trauen, der nicht vermag, zu seiner Persönlichkeit selbst sich
ein Herz zu fassen? Aber es genügt daran nicht. Noch zwei andre Eigen¬
schaften, die dem Selbst entspringen, sind nicht minder erforderlich: Selbst¬
denken und Selbstbeherrschung. Wer nicht stets die Augen offen hält, wer


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[0562] Zur Philosophie der Umgangsformen. Worten: jede Unterweisung, die bestimmt ist, den Geist zu bilden, muß aus¬ gehen von sorgfältiger Beobachtung der Thatsachen und einzudringen suchen in den innern, tiefern Sinn derselben. Der gute Ton aber muß offenbar geistig vermittelt sein, wenn er den Eindruck einer wirklich zum Wesen der Persönlich¬ keit gehörenden Eigenschaft machen soll. Man wird vielleicht einwenden, daß der gesellschaftliche Takt, worauf alles ankommt, sich überhaupt nicht lehren lasse, sondern nur äußere Gebräuche. Das ist aber falsch. Auch die äußer¬ lichsten Formen verlangen immer noch, daß man wisse, wo sie hingehören. Es kann aber niemand in den Sinn kommen, in kasuistischer Weise alle Lebenslagen aufzählen zu wollen, in der sich Bildung und Unbildung durch das Benehmen unterscheidet, mit jedesmal hinzugefügter Anweisung: hier gilt die und die Regel. Und wenn es möglich wäre, für die Schwierigkeiten, die im gesellschaftlichen Verkehr auftreten können, stets im Gedächtnisse das Rezept bereit zu halten, wie sie zu heben seien, so würde doch noch das Wort La Bruyere's Geltung behalten: Ein Dummkopf tritt nicht ins Zimmer, steht nicht, setzt sich nicht wie ein Mann von Verstand. Das bloß äußere Umlernen vermag am Dummkopf nichts zu ändern. Takt aber kann, wenn nicht gelernt, so doch bis zu einem hohen Grade ausgebildet werden, und wäre es auch uur der Takt des Schwei¬ gens, der oft so viel und noch mehr wert ist, als die köstlichsten Eigenschaften des Geistes. Eine Zusammenstellung des Brauches der gebildeten Gesellschaft bei Be¬ grüßungen, bei Besuchen, beim Essen und Trinken u. s. w. hat an sich einen Wert; in praktischer Hinsicht wird dieser umso größer sein, je sorgfältiger das Allgemein giltige hervorgehoben, je knapper die Regel gefaßt ist. Aber eine solche Darstellung muß sich bewußt bleiben, daß damit noch lange nicht der gute Ton, das korrekte und empfehlende Betragen in guter und gebildeter Ge¬ sellschaft gelehrt wird. Dem Bedürfnis einer Unterweisung, die über die Wissenschaft der Handhabung von Messer und Gabel hinausgeht, wird jedoch dann am wenigsten entsprochen, wenn nun als „guter Ton" alles Mögliche angepriesen wird, was an allgemeinen Lebens- und Klugheitsregeln, an haus¬ wirtschaftlichen Erfahrungssätzen, an modischen Vorschriften über Vriefkvuvcrts und Namenszüge zusammengerafft werden kann. Die Brücke, welche hinüber¬ führt von einer rein äußerlichen Kenntnis der gesellschaftlichen Gebräuche zu einer praktischen Philosophie des Umgangs mit Menschen, besteht in einer methodischen Anleitung zum Selbstauffinden des gesellschaftlich Zweckmäßiger. Goethe sagt im „Faust": So bald du dir vertraust, so bald weißt du zu leben. Selbst¬ vertrauen ist allerdings erste Bedingung eines vorteilhaften Auftretens. Wie sollen andre dem trauen, der nicht vermag, zu seiner Persönlichkeit selbst sich ein Herz zu fassen? Aber es genügt daran nicht. Noch zwei andre Eigen¬ schaften, die dem Selbst entspringen, sind nicht minder erforderlich: Selbst¬ denken und Selbstbeherrschung. Wer nicht stets die Augen offen hält, wer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/562>, abgerufen am 22.07.2024.