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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

dient, das Recht dem Volke zu verkümmern. Glaubt man etwa, daß, wenn
ein Frankfurter Bürger an einer leidigen Zustellungsfrage seinen Prozeß ver¬
loren hat, man ihm sagen könnte, es müsse ihm doch zum Troste gereichen,
daß dasselbe auch einem Bürger von Konstanz und von Gumbinnen alle Tage
begegnen könne? Als verständiger Mann wird er antworten: Umso schlimmer,
wenn man solche schnöde Einrichtungen, welche die Menschen um Geld und Gut
bringen, für ganz Deutschland geschaffen hat.

Hätte man sich entschlossen, auf dem Wege der Einzelgesetzgebung vorzu¬
schreiten, so hätte man zunächst Gegenstände auswählen können, bei denen vor¬
zugsweise ein Bedürfnis für einheitliche Rechtsgestaltung vorliegt. Es würden
dies voraussichtlich auch gerade solche gewesen sein, die sich vorzugsweise zur
positiven Ordnung durch Gesetz eignen. Hätte man alljährlich ein oder zwei
Gesetze dieser Art bearbeiten lassen, so würden auch die Faktoren unsrer Gesetz¬
gebung eine wirklich nutzbringende Thätigkeit bei ihnen auszuüben imstande ge¬
wesen sein. Unser Volk, und namentlich auch unser Juristcnstand, würden dann nach
und nach in die Einheit hineingewachsen sein, was weit wohlthätiger gewirkt hätte,
als wenn man ihnen jetzt ein ganzes neues Gesetzbuch über den Kopf gießt. Wäre
in dieser Weise in den fünfzehn Jahren, seit denen das Gesetz vom 2V. Dezember
1873 besteht, vorgegangen worden, so könnten wir jetzt schon die Hälfte von dem,
was in dem Entwürfe wirklich von Wert ist, als einheitliches Recht besitzen.
Auch heute noch ließen sich ganze Kapitel aus dem Entwürfe herausschneiden,
um als Spezialgesetze verwendet zu werden. Wenn dann neben diesem Vor¬
schreiten der Reichsgesetzgebung zugleich die Landesgesetzgebungen sich die Mühe
hätten geben wollen, in den aus früherer Zeit überkommenen, teilweise recht
wüsten Rechtszuständen ihrer Länder einigermaßen aufzuräumen, so würden wir
auf diese Weise zu einer vernünftigen Rechtseinheit gekommen sein, ohne so
vieles Wertlose, dessen Folgen sich gar nicht überblicken lassen, mit in den Kauf
nehmen zu müssen. Eine wirkliche Rechtseinheit, d. h. eine volle Übereinstimmung
der Rechtsanwendung in allen Teilen des Reiches, ist ohnehin eine Ideal, das
sich nie verwirklichen wird. Namentlich wird mindestens noch ein Menschenalter
hindurch auch das einheitliche Zivilgesetzbuch von dem landrechtlichen Juristen
ganz anders verstanden werden, als von dem gemeinrechtlichen, und wieder
anders von dem Juristen des französischen Rechtes. Auch darin haben wir
an dem Zivilprozeß das lebendige Beispiel.

Statt in der gedachten Weise zu verfahren, hat man -- gleichsam ü, könnts
xsrcw -- zur Anfertigung eines Zivilgesetzbuches Auftrag gegeben. Nach einer
langen Reihe von Jahren liegt jetzt -- ich glaube, daß dies wohl ziemlich allgemein
anerkannt werden wird -- ein wenig ansprechendes Werk vor. Soll dieses nun
doch zum Gesetze erhoben und damit die ganze Rechtsentwicklung in Deutschland
zum Abschluß gebracht werden? Dann würden wir neben dem übel ausgefallenen
Zivilprozeß auch noch ein unbefriedigendes materielles Recht haben. Für den


Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

dient, das Recht dem Volke zu verkümmern. Glaubt man etwa, daß, wenn
ein Frankfurter Bürger an einer leidigen Zustellungsfrage seinen Prozeß ver¬
loren hat, man ihm sagen könnte, es müsse ihm doch zum Troste gereichen,
daß dasselbe auch einem Bürger von Konstanz und von Gumbinnen alle Tage
begegnen könne? Als verständiger Mann wird er antworten: Umso schlimmer,
wenn man solche schnöde Einrichtungen, welche die Menschen um Geld und Gut
bringen, für ganz Deutschland geschaffen hat.

Hätte man sich entschlossen, auf dem Wege der Einzelgesetzgebung vorzu¬
schreiten, so hätte man zunächst Gegenstände auswählen können, bei denen vor¬
zugsweise ein Bedürfnis für einheitliche Rechtsgestaltung vorliegt. Es würden
dies voraussichtlich auch gerade solche gewesen sein, die sich vorzugsweise zur
positiven Ordnung durch Gesetz eignen. Hätte man alljährlich ein oder zwei
Gesetze dieser Art bearbeiten lassen, so würden auch die Faktoren unsrer Gesetz¬
gebung eine wirklich nutzbringende Thätigkeit bei ihnen auszuüben imstande ge¬
wesen sein. Unser Volk, und namentlich auch unser Juristcnstand, würden dann nach
und nach in die Einheit hineingewachsen sein, was weit wohlthätiger gewirkt hätte,
als wenn man ihnen jetzt ein ganzes neues Gesetzbuch über den Kopf gießt. Wäre
in dieser Weise in den fünfzehn Jahren, seit denen das Gesetz vom 2V. Dezember
1873 besteht, vorgegangen worden, so könnten wir jetzt schon die Hälfte von dem,
was in dem Entwürfe wirklich von Wert ist, als einheitliches Recht besitzen.
Auch heute noch ließen sich ganze Kapitel aus dem Entwürfe herausschneiden,
um als Spezialgesetze verwendet zu werden. Wenn dann neben diesem Vor¬
schreiten der Reichsgesetzgebung zugleich die Landesgesetzgebungen sich die Mühe
hätten geben wollen, in den aus früherer Zeit überkommenen, teilweise recht
wüsten Rechtszuständen ihrer Länder einigermaßen aufzuräumen, so würden wir
auf diese Weise zu einer vernünftigen Rechtseinheit gekommen sein, ohne so
vieles Wertlose, dessen Folgen sich gar nicht überblicken lassen, mit in den Kauf
nehmen zu müssen. Eine wirkliche Rechtseinheit, d. h. eine volle Übereinstimmung
der Rechtsanwendung in allen Teilen des Reiches, ist ohnehin eine Ideal, das
sich nie verwirklichen wird. Namentlich wird mindestens noch ein Menschenalter
hindurch auch das einheitliche Zivilgesetzbuch von dem landrechtlichen Juristen
ganz anders verstanden werden, als von dem gemeinrechtlichen, und wieder
anders von dem Juristen des französischen Rechtes. Auch darin haben wir
an dem Zivilprozeß das lebendige Beispiel.

Statt in der gedachten Weise zu verfahren, hat man — gleichsam ü, könnts
xsrcw — zur Anfertigung eines Zivilgesetzbuches Auftrag gegeben. Nach einer
langen Reihe von Jahren liegt jetzt — ich glaube, daß dies wohl ziemlich allgemein
anerkannt werden wird — ein wenig ansprechendes Werk vor. Soll dieses nun
doch zum Gesetze erhoben und damit die ganze Rechtsentwicklung in Deutschland
zum Abschluß gebracht werden? Dann würden wir neben dem übel ausgefallenen
Zivilprozeß auch noch ein unbefriedigendes materielles Recht haben. Für den


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[0467] Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung. dient, das Recht dem Volke zu verkümmern. Glaubt man etwa, daß, wenn ein Frankfurter Bürger an einer leidigen Zustellungsfrage seinen Prozeß ver¬ loren hat, man ihm sagen könnte, es müsse ihm doch zum Troste gereichen, daß dasselbe auch einem Bürger von Konstanz und von Gumbinnen alle Tage begegnen könne? Als verständiger Mann wird er antworten: Umso schlimmer, wenn man solche schnöde Einrichtungen, welche die Menschen um Geld und Gut bringen, für ganz Deutschland geschaffen hat. Hätte man sich entschlossen, auf dem Wege der Einzelgesetzgebung vorzu¬ schreiten, so hätte man zunächst Gegenstände auswählen können, bei denen vor¬ zugsweise ein Bedürfnis für einheitliche Rechtsgestaltung vorliegt. Es würden dies voraussichtlich auch gerade solche gewesen sein, die sich vorzugsweise zur positiven Ordnung durch Gesetz eignen. Hätte man alljährlich ein oder zwei Gesetze dieser Art bearbeiten lassen, so würden auch die Faktoren unsrer Gesetz¬ gebung eine wirklich nutzbringende Thätigkeit bei ihnen auszuüben imstande ge¬ wesen sein. Unser Volk, und namentlich auch unser Juristcnstand, würden dann nach und nach in die Einheit hineingewachsen sein, was weit wohlthätiger gewirkt hätte, als wenn man ihnen jetzt ein ganzes neues Gesetzbuch über den Kopf gießt. Wäre in dieser Weise in den fünfzehn Jahren, seit denen das Gesetz vom 2V. Dezember 1873 besteht, vorgegangen worden, so könnten wir jetzt schon die Hälfte von dem, was in dem Entwürfe wirklich von Wert ist, als einheitliches Recht besitzen. Auch heute noch ließen sich ganze Kapitel aus dem Entwürfe herausschneiden, um als Spezialgesetze verwendet zu werden. Wenn dann neben diesem Vor¬ schreiten der Reichsgesetzgebung zugleich die Landesgesetzgebungen sich die Mühe hätten geben wollen, in den aus früherer Zeit überkommenen, teilweise recht wüsten Rechtszuständen ihrer Länder einigermaßen aufzuräumen, so würden wir auf diese Weise zu einer vernünftigen Rechtseinheit gekommen sein, ohne so vieles Wertlose, dessen Folgen sich gar nicht überblicken lassen, mit in den Kauf nehmen zu müssen. Eine wirkliche Rechtseinheit, d. h. eine volle Übereinstimmung der Rechtsanwendung in allen Teilen des Reiches, ist ohnehin eine Ideal, das sich nie verwirklichen wird. Namentlich wird mindestens noch ein Menschenalter hindurch auch das einheitliche Zivilgesetzbuch von dem landrechtlichen Juristen ganz anders verstanden werden, als von dem gemeinrechtlichen, und wieder anders von dem Juristen des französischen Rechtes. Auch darin haben wir an dem Zivilprozeß das lebendige Beispiel. Statt in der gedachten Weise zu verfahren, hat man — gleichsam ü, könnts xsrcw — zur Anfertigung eines Zivilgesetzbuches Auftrag gegeben. Nach einer langen Reihe von Jahren liegt jetzt — ich glaube, daß dies wohl ziemlich allgemein anerkannt werden wird — ein wenig ansprechendes Werk vor. Soll dieses nun doch zum Gesetze erhoben und damit die ganze Rechtsentwicklung in Deutschland zum Abschluß gebracht werden? Dann würden wir neben dem übel ausgefallenen Zivilprozeß auch noch ein unbefriedigendes materielles Recht haben. Für den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/467>, abgerufen am 22.07.2024.