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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

zugung entfernen würde, eine völlige Aufhebung des Privateigentums oder nur
die gänzliche Beseitigung seines politischen Einflusses im Auge gehabt hat.
Jedenfalls waren die praktischen Maßregeln, die er empfahl, um dem Privilegium
des Kapitalbesitzes ein Ende zu machen, in keiner Weise dazu angethan, die
bestehende privatrechtliche Ordnung zu zerstören. Mit staatlicher Unterstützung
gegründete Produktivgenossenschaften sollten den unter dem Joch des "ehernen
Lohngesetzes" schmachtenden Sklaven der Arbeit aus seinem Elend und aus
seiner Knechtschaft befreie", indem sie ihn zum freien, gleichberechtigten Mit¬
besitzer genossenschaftlicher Unternehmungen machten. Ist es denn aber unter
der Herrschaft der "kapitalistischen" Rechtsordnung irgend jemand verwehrt,
sich mit einer größern oder geringern Anzahl von Berufsgenossen zusammen
zu thun, um irgendwelche Produktion gemeinsam zu betreiben? Und wenn
durch Vervielfältigung derartiger Unternehmungen die mit der Anhäufung großer
Massen von Lohnarbeitern in den Jndustriemittelpunkten unleugbar verbundenen
Mißstünde gemildert oder beseitigt werden könnten, wäre es da nicht ganz ge¬
rechtfertigt, wenn sich der Staat die Förderung solcher Assoziationen angelegen
sein ließe? Wenn es aber gelingen sollte, die Zahl dieser selbständig produ-
zirenden Arbeitergruppen in die Hunderte und Tausende zu bringen, wäre damit
das Geringste geändert an der Vertragsfreiheit, an der freien Bestimmung der
Preise, an allen den Rechten, die die Grundlagen unsrer bürgerlichen Gesell¬
schaftsordnung bilden? Übrigens legte Lassalle selbst auf diese ganze ökono-
nomische Verbrämung seiner Agitation geringen Wert. Er befaßte sich mit ihr,
weil man "dem Mob etwas bieten müsse." Zu klar stand vor seinem hellen
Geiste die Erkenntnis, daß der Kern aller dieser als sozialistisch verschenken
Bestrebungen ein staatsrechtlicher Gedanke, also eine politische, eine Macht¬
frage sei.

Der Verteidigung der bestehenden Ordnung wäre sicherlich ein großer Dienst
geleistet, wenn diese Wahrheit mehr ins Licht gesetzt und ihr im allgemeinen
Bewußtsein mehr Eingang verschafft würde. Unsre nationalökonomischen Pro¬
fessoren haben über die "Quintessenz" des Sozialismus viel Zutreffendes und
Aufklärendes gesagt, die Hauptsache aber haben sie nicht erwähnt, daß nämlich
der Sozialismus an sich mit der Nationalökonomie gar nichts zu schaffen hat.
^alle^ as es.it ist und bleibt das Ziel aller sozialistischen Bestrebungen, mögen
sie auch zunächst diese oder jene Forderung, die mehr einen wirtschaftlichen
Charakter an sich zu tragen scheint, in den Vordergrund stellen. Wer aber die
thatsächliche Gleichheit, die Gleichheit des Lebensgenusses, als oberstes Grund¬
recht der staatlich verbundenen Gesellschaft aufstellt, sei es, daß er ihm eine
naturrechtliche oder eine geschichtsphilosophische Begründung giebt, der kann
gar keine andre Absicht haben, als sich der Staatsgewalt zu bemächtigen und
jenes Grundrecht praktisch zum Staatszweck zu machen. Wie bei jeder tiefer
greifenden Umgestaltung staatlicher Einrichtungen kommen hier natürlich auch


Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

zugung entfernen würde, eine völlige Aufhebung des Privateigentums oder nur
die gänzliche Beseitigung seines politischen Einflusses im Auge gehabt hat.
Jedenfalls waren die praktischen Maßregeln, die er empfahl, um dem Privilegium
des Kapitalbesitzes ein Ende zu machen, in keiner Weise dazu angethan, die
bestehende privatrechtliche Ordnung zu zerstören. Mit staatlicher Unterstützung
gegründete Produktivgenossenschaften sollten den unter dem Joch des „ehernen
Lohngesetzes" schmachtenden Sklaven der Arbeit aus seinem Elend und aus
seiner Knechtschaft befreie», indem sie ihn zum freien, gleichberechtigten Mit¬
besitzer genossenschaftlicher Unternehmungen machten. Ist es denn aber unter
der Herrschaft der „kapitalistischen" Rechtsordnung irgend jemand verwehrt,
sich mit einer größern oder geringern Anzahl von Berufsgenossen zusammen
zu thun, um irgendwelche Produktion gemeinsam zu betreiben? Und wenn
durch Vervielfältigung derartiger Unternehmungen die mit der Anhäufung großer
Massen von Lohnarbeitern in den Jndustriemittelpunkten unleugbar verbundenen
Mißstünde gemildert oder beseitigt werden könnten, wäre es da nicht ganz ge¬
rechtfertigt, wenn sich der Staat die Förderung solcher Assoziationen angelegen
sein ließe? Wenn es aber gelingen sollte, die Zahl dieser selbständig produ-
zirenden Arbeitergruppen in die Hunderte und Tausende zu bringen, wäre damit
das Geringste geändert an der Vertragsfreiheit, an der freien Bestimmung der
Preise, an allen den Rechten, die die Grundlagen unsrer bürgerlichen Gesell¬
schaftsordnung bilden? Übrigens legte Lassalle selbst auf diese ganze ökono-
nomische Verbrämung seiner Agitation geringen Wert. Er befaßte sich mit ihr,
weil man „dem Mob etwas bieten müsse." Zu klar stand vor seinem hellen
Geiste die Erkenntnis, daß der Kern aller dieser als sozialistisch verschenken
Bestrebungen ein staatsrechtlicher Gedanke, also eine politische, eine Macht¬
frage sei.

Der Verteidigung der bestehenden Ordnung wäre sicherlich ein großer Dienst
geleistet, wenn diese Wahrheit mehr ins Licht gesetzt und ihr im allgemeinen
Bewußtsein mehr Eingang verschafft würde. Unsre nationalökonomischen Pro¬
fessoren haben über die „Quintessenz" des Sozialismus viel Zutreffendes und
Aufklärendes gesagt, die Hauptsache aber haben sie nicht erwähnt, daß nämlich
der Sozialismus an sich mit der Nationalökonomie gar nichts zu schaffen hat.
^alle^ as es.it ist und bleibt das Ziel aller sozialistischen Bestrebungen, mögen
sie auch zunächst diese oder jene Forderung, die mehr einen wirtschaftlichen
Charakter an sich zu tragen scheint, in den Vordergrund stellen. Wer aber die
thatsächliche Gleichheit, die Gleichheit des Lebensgenusses, als oberstes Grund¬
recht der staatlich verbundenen Gesellschaft aufstellt, sei es, daß er ihm eine
naturrechtliche oder eine geschichtsphilosophische Begründung giebt, der kann
gar keine andre Absicht haben, als sich der Staatsgewalt zu bemächtigen und
jenes Grundrecht praktisch zum Staatszweck zu machen. Wie bei jeder tiefer
greifenden Umgestaltung staatlicher Einrichtungen kommen hier natürlich auch


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[0455] Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip. zugung entfernen würde, eine völlige Aufhebung des Privateigentums oder nur die gänzliche Beseitigung seines politischen Einflusses im Auge gehabt hat. Jedenfalls waren die praktischen Maßregeln, die er empfahl, um dem Privilegium des Kapitalbesitzes ein Ende zu machen, in keiner Weise dazu angethan, die bestehende privatrechtliche Ordnung zu zerstören. Mit staatlicher Unterstützung gegründete Produktivgenossenschaften sollten den unter dem Joch des „ehernen Lohngesetzes" schmachtenden Sklaven der Arbeit aus seinem Elend und aus seiner Knechtschaft befreie», indem sie ihn zum freien, gleichberechtigten Mit¬ besitzer genossenschaftlicher Unternehmungen machten. Ist es denn aber unter der Herrschaft der „kapitalistischen" Rechtsordnung irgend jemand verwehrt, sich mit einer größern oder geringern Anzahl von Berufsgenossen zusammen zu thun, um irgendwelche Produktion gemeinsam zu betreiben? Und wenn durch Vervielfältigung derartiger Unternehmungen die mit der Anhäufung großer Massen von Lohnarbeitern in den Jndustriemittelpunkten unleugbar verbundenen Mißstünde gemildert oder beseitigt werden könnten, wäre es da nicht ganz ge¬ rechtfertigt, wenn sich der Staat die Förderung solcher Assoziationen angelegen sein ließe? Wenn es aber gelingen sollte, die Zahl dieser selbständig produ- zirenden Arbeitergruppen in die Hunderte und Tausende zu bringen, wäre damit das Geringste geändert an der Vertragsfreiheit, an der freien Bestimmung der Preise, an allen den Rechten, die die Grundlagen unsrer bürgerlichen Gesell¬ schaftsordnung bilden? Übrigens legte Lassalle selbst auf diese ganze ökono- nomische Verbrämung seiner Agitation geringen Wert. Er befaßte sich mit ihr, weil man „dem Mob etwas bieten müsse." Zu klar stand vor seinem hellen Geiste die Erkenntnis, daß der Kern aller dieser als sozialistisch verschenken Bestrebungen ein staatsrechtlicher Gedanke, also eine politische, eine Macht¬ frage sei. Der Verteidigung der bestehenden Ordnung wäre sicherlich ein großer Dienst geleistet, wenn diese Wahrheit mehr ins Licht gesetzt und ihr im allgemeinen Bewußtsein mehr Eingang verschafft würde. Unsre nationalökonomischen Pro¬ fessoren haben über die „Quintessenz" des Sozialismus viel Zutreffendes und Aufklärendes gesagt, die Hauptsache aber haben sie nicht erwähnt, daß nämlich der Sozialismus an sich mit der Nationalökonomie gar nichts zu schaffen hat. ^alle^ as es.it ist und bleibt das Ziel aller sozialistischen Bestrebungen, mögen sie auch zunächst diese oder jene Forderung, die mehr einen wirtschaftlichen Charakter an sich zu tragen scheint, in den Vordergrund stellen. Wer aber die thatsächliche Gleichheit, die Gleichheit des Lebensgenusses, als oberstes Grund¬ recht der staatlich verbundenen Gesellschaft aufstellt, sei es, daß er ihm eine naturrechtliche oder eine geschichtsphilosophische Begründung giebt, der kann gar keine andre Absicht haben, als sich der Staatsgewalt zu bemächtigen und jenes Grundrecht praktisch zum Staatszweck zu machen. Wie bei jeder tiefer greifenden Umgestaltung staatlicher Einrichtungen kommen hier natürlich auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/455>, abgerufen am 24.08.2024.