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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

Jahre 1848 gemacht worden? Mit großer Klarheit und juristischer Schärfe
ist zuerst von Professor Anton Menger ("Das Recht auf den vollen Arbeits¬
ertrag," Stuttgart, 1886) ausgeführt worden, daß die sämtlichen aus dem
Drange nach Ausgleichung des Lebensgenusses herrührenden Forderungen des
Sozialismus sich in zwei Grundgedanken zusammenfassen lassen. Es wird be¬
ansprucht entweder das Recht auf Existenz oder das Recht auf den vollen
Arbeitsertrag, in neuerer Zeit meistens eine mehr oder minder glückliche Ver¬
bindung von beiden. Das Recht auf Arbeit ist eine Vermittlung zwischen dem
sozialistischen Rechte der Existenz, nach welchem das Bedürfnis zum Maßstabe
der Güterverteilung gemacht werden soll, und der Güterverteilung auf Grund
des heutigen Privatrechts. Babeuf war ganz allgemein vom Rechte der Existenz
ausgegangen. Er pflichtet dem Satze bei, daß der Kodex des bürgerliche"
Gleichheitsrechtes su xarlg-vt 8M8 vösss an äroit, as xroxrists nous g. ravi
oelrä ä'exi8ehr. Die ausschließende Geltendmachung des Eigentumsrechtes beraubt
den Besitzlosen sogar des Rechtes zu leben. Die Aufhebung dieser, bekannt¬
lich von Malthus in schroffster Weise ausgesprochenen Folge des schrankenlos
waltenden Privateigentumsrechtes könnte bewirkt werden durch ein staatlich
gewährleistetes "Existenzminimum." Ein Gesetz gegen das Verhungernlassen,
das den in unsern heutigen Kulturstaaten bestehenden Unterstützungsgesetzen zum
Verwechseln ähnlich sehen würde, genügt aber den Babouvisten, deren Absehen
auf "thatsächliche Gleichheit" gerichtet ist, bei weitem nicht. Schon einige Jahre
vor der Revolution hatte Brissot, der spätere Girondistenführer, in einer Schrift
"Über Eigentum und Diebstahl" gesagt: "Wenn vierzig Thaler zureichen, um
unser Dasein zu erhalten, so ist es offenbarer Diebstahl, zweihundert zu besitzen."
Diesen Gedanken nimmt Babeuf in seinem Tribun an, xsuxls auf, indem er
ausführt: "Alles, was ein Mitglied des gesellschaftlichen Körpers besitzt über
die zur Befriedigung seiner täglichen Bedürfnisse zureichende Summe hinaus,
ist das Erzeugnis eines an den übrigen Gesellschaftsgliedern begangenen Dieb¬
stahls, wodurch notwendigerweise eine größere oder geringere Anzahl ihres
verhältnismäßigen Anteils an der gemeinsamen Gütermasse beraubt wird."
Offenbar eine ganz roh kommunistische Auffassung, welche die große Frage der
Produktion und ihres Verhältnisses zur Konsumtion ganz außer Acht läßt, in
der vorhandenen Gütermasse nur Verbrauchsgüter erblickt, und die Bedürfnisse
des Lebensunterhaltes nach Art und Umfang als feststehend a"nimmt. Bei
solcher Rohheit der Anschauung konnten die Nachfolger nicht stehen bleiben.
Sobald diese, wie die Anhänger Saint-Simons thaten, den Fortschritt in ihren
Gedankenkreis aufnahmen, konnte unmöglich mehr das Bedürfnis als feststehende
Größe angenommen und zum Maßstabe des Anspruches gemacht werden. Ist
es doch eine zu augenfällige Thatsache, daß die steigende Entwicklung der Ge¬
sellschaft auch die Bedürfnisse teils vermehrt, teils verfeinert. Die Saint-
Simonisten fanden daher den Maßstab gleichmessender Gerechtigkeit nicht in


Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

Jahre 1848 gemacht worden? Mit großer Klarheit und juristischer Schärfe
ist zuerst von Professor Anton Menger („Das Recht auf den vollen Arbeits¬
ertrag," Stuttgart, 1886) ausgeführt worden, daß die sämtlichen aus dem
Drange nach Ausgleichung des Lebensgenusses herrührenden Forderungen des
Sozialismus sich in zwei Grundgedanken zusammenfassen lassen. Es wird be¬
ansprucht entweder das Recht auf Existenz oder das Recht auf den vollen
Arbeitsertrag, in neuerer Zeit meistens eine mehr oder minder glückliche Ver¬
bindung von beiden. Das Recht auf Arbeit ist eine Vermittlung zwischen dem
sozialistischen Rechte der Existenz, nach welchem das Bedürfnis zum Maßstabe
der Güterverteilung gemacht werden soll, und der Güterverteilung auf Grund
des heutigen Privatrechts. Babeuf war ganz allgemein vom Rechte der Existenz
ausgegangen. Er pflichtet dem Satze bei, daß der Kodex des bürgerliche»
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den Besitzlosen sogar des Rechtes zu leben. Die Aufhebung dieser, bekannt¬
lich von Malthus in schroffster Weise ausgesprochenen Folge des schrankenlos
waltenden Privateigentumsrechtes könnte bewirkt werden durch ein staatlich
gewährleistetes „Existenzminimum." Ein Gesetz gegen das Verhungernlassen,
das den in unsern heutigen Kulturstaaten bestehenden Unterstützungsgesetzen zum
Verwechseln ähnlich sehen würde, genügt aber den Babouvisten, deren Absehen
auf „thatsächliche Gleichheit" gerichtet ist, bei weitem nicht. Schon einige Jahre
vor der Revolution hatte Brissot, der spätere Girondistenführer, in einer Schrift
„Über Eigentum und Diebstahl" gesagt: „Wenn vierzig Thaler zureichen, um
unser Dasein zu erhalten, so ist es offenbarer Diebstahl, zweihundert zu besitzen."
Diesen Gedanken nimmt Babeuf in seinem Tribun an, xsuxls auf, indem er
ausführt: „Alles, was ein Mitglied des gesellschaftlichen Körpers besitzt über
die zur Befriedigung seiner täglichen Bedürfnisse zureichende Summe hinaus,
ist das Erzeugnis eines an den übrigen Gesellschaftsgliedern begangenen Dieb¬
stahls, wodurch notwendigerweise eine größere oder geringere Anzahl ihres
verhältnismäßigen Anteils an der gemeinsamen Gütermasse beraubt wird."
Offenbar eine ganz roh kommunistische Auffassung, welche die große Frage der
Produktion und ihres Verhältnisses zur Konsumtion ganz außer Acht läßt, in
der vorhandenen Gütermasse nur Verbrauchsgüter erblickt, und die Bedürfnisse
des Lebensunterhaltes nach Art und Umfang als feststehend a»nimmt. Bei
solcher Rohheit der Anschauung konnten die Nachfolger nicht stehen bleiben.
Sobald diese, wie die Anhänger Saint-Simons thaten, den Fortschritt in ihren
Gedankenkreis aufnahmen, konnte unmöglich mehr das Bedürfnis als feststehende
Größe angenommen und zum Maßstabe des Anspruches gemacht werden. Ist
es doch eine zu augenfällige Thatsache, daß die steigende Entwicklung der Ge¬
sellschaft auch die Bedürfnisse teils vermehrt, teils verfeinert. Die Saint-
Simonisten fanden daher den Maßstab gleichmessender Gerechtigkeit nicht in


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[0452] Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip. Jahre 1848 gemacht worden? Mit großer Klarheit und juristischer Schärfe ist zuerst von Professor Anton Menger („Das Recht auf den vollen Arbeits¬ ertrag," Stuttgart, 1886) ausgeführt worden, daß die sämtlichen aus dem Drange nach Ausgleichung des Lebensgenusses herrührenden Forderungen des Sozialismus sich in zwei Grundgedanken zusammenfassen lassen. Es wird be¬ ansprucht entweder das Recht auf Existenz oder das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, in neuerer Zeit meistens eine mehr oder minder glückliche Ver¬ bindung von beiden. Das Recht auf Arbeit ist eine Vermittlung zwischen dem sozialistischen Rechte der Existenz, nach welchem das Bedürfnis zum Maßstabe der Güterverteilung gemacht werden soll, und der Güterverteilung auf Grund des heutigen Privatrechts. Babeuf war ganz allgemein vom Rechte der Existenz ausgegangen. Er pflichtet dem Satze bei, daß der Kodex des bürgerliche» Gleichheitsrechtes su xarlg-vt 8M8 vösss an äroit, as xroxrists nous g. ravi oelrä ä'exi8ehr. Die ausschließende Geltendmachung des Eigentumsrechtes beraubt den Besitzlosen sogar des Rechtes zu leben. Die Aufhebung dieser, bekannt¬ lich von Malthus in schroffster Weise ausgesprochenen Folge des schrankenlos waltenden Privateigentumsrechtes könnte bewirkt werden durch ein staatlich gewährleistetes „Existenzminimum." Ein Gesetz gegen das Verhungernlassen, das den in unsern heutigen Kulturstaaten bestehenden Unterstützungsgesetzen zum Verwechseln ähnlich sehen würde, genügt aber den Babouvisten, deren Absehen auf „thatsächliche Gleichheit" gerichtet ist, bei weitem nicht. Schon einige Jahre vor der Revolution hatte Brissot, der spätere Girondistenführer, in einer Schrift „Über Eigentum und Diebstahl" gesagt: „Wenn vierzig Thaler zureichen, um unser Dasein zu erhalten, so ist es offenbarer Diebstahl, zweihundert zu besitzen." Diesen Gedanken nimmt Babeuf in seinem Tribun an, xsuxls auf, indem er ausführt: „Alles, was ein Mitglied des gesellschaftlichen Körpers besitzt über die zur Befriedigung seiner täglichen Bedürfnisse zureichende Summe hinaus, ist das Erzeugnis eines an den übrigen Gesellschaftsgliedern begangenen Dieb¬ stahls, wodurch notwendigerweise eine größere oder geringere Anzahl ihres verhältnismäßigen Anteils an der gemeinsamen Gütermasse beraubt wird." Offenbar eine ganz roh kommunistische Auffassung, welche die große Frage der Produktion und ihres Verhältnisses zur Konsumtion ganz außer Acht läßt, in der vorhandenen Gütermasse nur Verbrauchsgüter erblickt, und die Bedürfnisse des Lebensunterhaltes nach Art und Umfang als feststehend a»nimmt. Bei solcher Rohheit der Anschauung konnten die Nachfolger nicht stehen bleiben. Sobald diese, wie die Anhänger Saint-Simons thaten, den Fortschritt in ihren Gedankenkreis aufnahmen, konnte unmöglich mehr das Bedürfnis als feststehende Größe angenommen und zum Maßstabe des Anspruches gemacht werden. Ist es doch eine zu augenfällige Thatsache, daß die steigende Entwicklung der Ge¬ sellschaft auch die Bedürfnisse teils vermehrt, teils verfeinert. Die Saint- Simonisten fanden daher den Maßstab gleichmessender Gerechtigkeit nicht in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/452>, abgerufen am 22.07.2024.