Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

Durch Reybauds Ltuciss sur los R6korin,a,tsur8 on LoviÄistös inoäsruss
ist die Bezeichnung "Sozialisten, Sozialismus" in Aufnahme gekommen. Unter
diesem Namen pflegte man nun alles zu begreifen, was irgendwie den Be¬
strebungen verwandt schien, die dnrch Reform gesellschaftlicher Anschauungen
oder Einrichtungen eine Verbesserung in der Lage der zurückgesetzten und not¬
leidenden Klassen herbeiführen wollten. Über Goethes Sozialismus, der an¬
geblich im "Wilhelm Meister" stecken soll, sind Bücher geschrieben worden. Ein
sozialer Verbesserungsgedanke, irgend eine Reformphantasie bedürfte höchstens
noch eines gewissen utopischen Anstriches, um sofort als sozialistisch klassifizirt
zu werden. Da ist es denn kein Wunder, daß der rote Faden eines gemein¬
samen Prinzips, der durch das unabsehbare Labyrinth der sozialistischen Litteratur
hindurchführen konnte, mehr und mehr den Blicken entschwand, oft ganz ver¬
loren ging. Man hielt oft für Hauptsache, was nur Beiwerk oder Verbrämung
war. Der Sozialismus trat in poetischem Gewände auf und versprach "Zucker¬
erbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen." Einem spekulativen So¬
zialismus huldigte unsre Philosophie in Fichtes "Geschlossenem Handelsstaat."
Die humanitäre Spielart vertrat in Deutschland schon in den dreißiger Jahren
der Schneider Weitling, dessen Schrift: "Die Menschheit, wie sie ist, und wie
sie sein sollte" im Jahre 1838 erschien. Die große sozialistische Gedankenfabrik,
die auch für den Export arbeitete, stand freilich nicht auf deutschem Boden,
sondern in Frankreich, in Paris. Das "Gehirn der Welt" widmete sich eine
Zeit lang mit Vorliebe der Erzeugung sozialistischer Ideen oder auch Phan¬
tastereien. Die Februarrevolution von 1848 hat das Verdienst, wenigstens
gezeigt zu haben, welche von diesen Ideen man ernsthaft genug nahm, um
zur Durchsetzung oder Verteidigung derselben die Flinte zu ergreifen und auf
die Barrikade zu steigen. Es war vor allem das "Recht auf Arbeit," dessen
Anerkennung das für einen Augenblick siegreiche Proletariat erzwang. Das
ökonomische Grundrecht, das durch die berühmte Proklamation vom 25. Februar
1848 der besitzlosen Klasse zugesprochen wurde, war in folgender Fassung aus¬
gedrückt: "Die provisorische Regierung der französischen Republik verpflichtet
sich, die Existenz des Arbeiters durch die Arbeit zu gewährleisten; sie ver¬
pflichtet sich, allen Bürgern Arbeit zu garantiren." Scheinbar war auch hier
die französische Gesetzgebung von der preußischen längst überholt. Das preußische
Landrecht bestimmt in Teil II, Tit. 19 ZZ 1 und 2: "Dem Staate kommt es zu,
für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren
Unterhalt nicht selbst verschaffen, ihn auch nicht von andern Personen, welche
nach besondern Gesetzen dazu verpflichtet sind, erhalten können. Denjenigen,
welchen es nur an Mitteln und Gelegenheit, ihren und der Ihrigen Unterhalt
zu verdienen, mangelt, sollen Arbeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten an¬
gemessen sind, angewiesen werden." Die Verpflichtung des Staates zur Armen¬
unterstützung ist hier in Worten ausgedrückt, die, wenn sie im Sinne der


Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

Durch Reybauds Ltuciss sur los R6korin,a,tsur8 on LoviÄistös inoäsruss
ist die Bezeichnung „Sozialisten, Sozialismus" in Aufnahme gekommen. Unter
diesem Namen pflegte man nun alles zu begreifen, was irgendwie den Be¬
strebungen verwandt schien, die dnrch Reform gesellschaftlicher Anschauungen
oder Einrichtungen eine Verbesserung in der Lage der zurückgesetzten und not¬
leidenden Klassen herbeiführen wollten. Über Goethes Sozialismus, der an¬
geblich im „Wilhelm Meister" stecken soll, sind Bücher geschrieben worden. Ein
sozialer Verbesserungsgedanke, irgend eine Reformphantasie bedürfte höchstens
noch eines gewissen utopischen Anstriches, um sofort als sozialistisch klassifizirt
zu werden. Da ist es denn kein Wunder, daß der rote Faden eines gemein¬
samen Prinzips, der durch das unabsehbare Labyrinth der sozialistischen Litteratur
hindurchführen konnte, mehr und mehr den Blicken entschwand, oft ganz ver¬
loren ging. Man hielt oft für Hauptsache, was nur Beiwerk oder Verbrämung
war. Der Sozialismus trat in poetischem Gewände auf und versprach „Zucker¬
erbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen." Einem spekulativen So¬
zialismus huldigte unsre Philosophie in Fichtes „Geschlossenem Handelsstaat."
Die humanitäre Spielart vertrat in Deutschland schon in den dreißiger Jahren
der Schneider Weitling, dessen Schrift: „Die Menschheit, wie sie ist, und wie
sie sein sollte" im Jahre 1838 erschien. Die große sozialistische Gedankenfabrik,
die auch für den Export arbeitete, stand freilich nicht auf deutschem Boden,
sondern in Frankreich, in Paris. Das „Gehirn der Welt" widmete sich eine
Zeit lang mit Vorliebe der Erzeugung sozialistischer Ideen oder auch Phan¬
tastereien. Die Februarrevolution von 1848 hat das Verdienst, wenigstens
gezeigt zu haben, welche von diesen Ideen man ernsthaft genug nahm, um
zur Durchsetzung oder Verteidigung derselben die Flinte zu ergreifen und auf
die Barrikade zu steigen. Es war vor allem das „Recht auf Arbeit," dessen
Anerkennung das für einen Augenblick siegreiche Proletariat erzwang. Das
ökonomische Grundrecht, das durch die berühmte Proklamation vom 25. Februar
1848 der besitzlosen Klasse zugesprochen wurde, war in folgender Fassung aus¬
gedrückt: „Die provisorische Regierung der französischen Republik verpflichtet
sich, die Existenz des Arbeiters durch die Arbeit zu gewährleisten; sie ver¬
pflichtet sich, allen Bürgern Arbeit zu garantiren." Scheinbar war auch hier
die französische Gesetzgebung von der preußischen längst überholt. Das preußische
Landrecht bestimmt in Teil II, Tit. 19 ZZ 1 und 2: „Dem Staate kommt es zu,
für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren
Unterhalt nicht selbst verschaffen, ihn auch nicht von andern Personen, welche
nach besondern Gesetzen dazu verpflichtet sind, erhalten können. Denjenigen,
welchen es nur an Mitteln und Gelegenheit, ihren und der Ihrigen Unterhalt
zu verdienen, mangelt, sollen Arbeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten an¬
gemessen sind, angewiesen werden." Die Verpflichtung des Staates zur Armen¬
unterstützung ist hier in Worten ausgedrückt, die, wenn sie im Sinne der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0450" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289573"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1528" next="#ID_1529"> Durch Reybauds Ltuciss sur los R6korin,a,tsur8 on LoviÄistös inoäsruss<lb/>
ist die Bezeichnung &#x201E;Sozialisten, Sozialismus" in Aufnahme gekommen. Unter<lb/>
diesem Namen pflegte man nun alles zu begreifen, was irgendwie den Be¬<lb/>
strebungen verwandt schien, die dnrch Reform gesellschaftlicher Anschauungen<lb/>
oder Einrichtungen eine Verbesserung in der Lage der zurückgesetzten und not¬<lb/>
leidenden Klassen herbeiführen wollten. Über Goethes Sozialismus, der an¬<lb/>
geblich im &#x201E;Wilhelm Meister" stecken soll, sind Bücher geschrieben worden. Ein<lb/>
sozialer Verbesserungsgedanke, irgend eine Reformphantasie bedürfte höchstens<lb/>
noch eines gewissen utopischen Anstriches, um sofort als sozialistisch klassifizirt<lb/>
zu werden. Da ist es denn kein Wunder, daß der rote Faden eines gemein¬<lb/>
samen Prinzips, der durch das unabsehbare Labyrinth der sozialistischen Litteratur<lb/>
hindurchführen konnte, mehr und mehr den Blicken entschwand, oft ganz ver¬<lb/>
loren ging. Man hielt oft für Hauptsache, was nur Beiwerk oder Verbrämung<lb/>
war. Der Sozialismus trat in poetischem Gewände auf und versprach &#x201E;Zucker¬<lb/>
erbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen." Einem spekulativen So¬<lb/>
zialismus huldigte unsre Philosophie in Fichtes &#x201E;Geschlossenem Handelsstaat."<lb/>
Die humanitäre Spielart vertrat in Deutschland schon in den dreißiger Jahren<lb/>
der Schneider Weitling, dessen Schrift: &#x201E;Die Menschheit, wie sie ist, und wie<lb/>
sie sein sollte" im Jahre 1838 erschien. Die große sozialistische Gedankenfabrik,<lb/>
die auch für den Export arbeitete, stand freilich nicht auf deutschem Boden,<lb/>
sondern in Frankreich, in Paris. Das &#x201E;Gehirn der Welt" widmete sich eine<lb/>
Zeit lang mit Vorliebe der Erzeugung sozialistischer Ideen oder auch Phan¬<lb/>
tastereien. Die Februarrevolution von 1848 hat das Verdienst, wenigstens<lb/>
gezeigt zu haben, welche von diesen Ideen man ernsthaft genug nahm, um<lb/>
zur Durchsetzung oder Verteidigung derselben die Flinte zu ergreifen und auf<lb/>
die Barrikade zu steigen. Es war vor allem das &#x201E;Recht auf Arbeit," dessen<lb/>
Anerkennung das für einen Augenblick siegreiche Proletariat erzwang. Das<lb/>
ökonomische Grundrecht, das durch die berühmte Proklamation vom 25. Februar<lb/>
1848 der besitzlosen Klasse zugesprochen wurde, war in folgender Fassung aus¬<lb/>
gedrückt: &#x201E;Die provisorische Regierung der französischen Republik verpflichtet<lb/>
sich, die Existenz des Arbeiters durch die Arbeit zu gewährleisten; sie ver¬<lb/>
pflichtet sich, allen Bürgern Arbeit zu garantiren." Scheinbar war auch hier<lb/>
die französische Gesetzgebung von der preußischen längst überholt. Das preußische<lb/>
Landrecht bestimmt in Teil II, Tit. 19 ZZ 1 und 2: &#x201E;Dem Staate kommt es zu,<lb/>
für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren<lb/>
Unterhalt nicht selbst verschaffen, ihn auch nicht von andern Personen, welche<lb/>
nach besondern Gesetzen dazu verpflichtet sind, erhalten können. Denjenigen,<lb/>
welchen es nur an Mitteln und Gelegenheit, ihren und der Ihrigen Unterhalt<lb/>
zu verdienen, mangelt, sollen Arbeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten an¬<lb/>
gemessen sind, angewiesen werden." Die Verpflichtung des Staates zur Armen¬<lb/>
unterstützung ist hier in Worten ausgedrückt, die, wenn sie im Sinne der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0450] Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip. Durch Reybauds Ltuciss sur los R6korin,a,tsur8 on LoviÄistös inoäsruss ist die Bezeichnung „Sozialisten, Sozialismus" in Aufnahme gekommen. Unter diesem Namen pflegte man nun alles zu begreifen, was irgendwie den Be¬ strebungen verwandt schien, die dnrch Reform gesellschaftlicher Anschauungen oder Einrichtungen eine Verbesserung in der Lage der zurückgesetzten und not¬ leidenden Klassen herbeiführen wollten. Über Goethes Sozialismus, der an¬ geblich im „Wilhelm Meister" stecken soll, sind Bücher geschrieben worden. Ein sozialer Verbesserungsgedanke, irgend eine Reformphantasie bedürfte höchstens noch eines gewissen utopischen Anstriches, um sofort als sozialistisch klassifizirt zu werden. Da ist es denn kein Wunder, daß der rote Faden eines gemein¬ samen Prinzips, der durch das unabsehbare Labyrinth der sozialistischen Litteratur hindurchführen konnte, mehr und mehr den Blicken entschwand, oft ganz ver¬ loren ging. Man hielt oft für Hauptsache, was nur Beiwerk oder Verbrämung war. Der Sozialismus trat in poetischem Gewände auf und versprach „Zucker¬ erbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen." Einem spekulativen So¬ zialismus huldigte unsre Philosophie in Fichtes „Geschlossenem Handelsstaat." Die humanitäre Spielart vertrat in Deutschland schon in den dreißiger Jahren der Schneider Weitling, dessen Schrift: „Die Menschheit, wie sie ist, und wie sie sein sollte" im Jahre 1838 erschien. Die große sozialistische Gedankenfabrik, die auch für den Export arbeitete, stand freilich nicht auf deutschem Boden, sondern in Frankreich, in Paris. Das „Gehirn der Welt" widmete sich eine Zeit lang mit Vorliebe der Erzeugung sozialistischer Ideen oder auch Phan¬ tastereien. Die Februarrevolution von 1848 hat das Verdienst, wenigstens gezeigt zu haben, welche von diesen Ideen man ernsthaft genug nahm, um zur Durchsetzung oder Verteidigung derselben die Flinte zu ergreifen und auf die Barrikade zu steigen. Es war vor allem das „Recht auf Arbeit," dessen Anerkennung das für einen Augenblick siegreiche Proletariat erzwang. Das ökonomische Grundrecht, das durch die berühmte Proklamation vom 25. Februar 1848 der besitzlosen Klasse zugesprochen wurde, war in folgender Fassung aus¬ gedrückt: „Die provisorische Regierung der französischen Republik verpflichtet sich, die Existenz des Arbeiters durch die Arbeit zu gewährleisten; sie ver¬ pflichtet sich, allen Bürgern Arbeit zu garantiren." Scheinbar war auch hier die französische Gesetzgebung von der preußischen längst überholt. Das preußische Landrecht bestimmt in Teil II, Tit. 19 ZZ 1 und 2: „Dem Staate kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen, ihn auch nicht von andern Personen, welche nach besondern Gesetzen dazu verpflichtet sind, erhalten können. Denjenigen, welchen es nur an Mitteln und Gelegenheit, ihren und der Ihrigen Unterhalt zu verdienen, mangelt, sollen Arbeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten an¬ gemessen sind, angewiesen werden." Die Verpflichtung des Staates zur Armen¬ unterstützung ist hier in Worten ausgedrückt, die, wenn sie im Sinne der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/450
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/450>, abgerufen am 22.07.2024.