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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

Tiefe Pflegt aber der Strahl bewußten Erkennens nicht zu dringen. So werden
wir auch keine juristische Bestimmtheit der Begriffe verlangen, wenn auf dem
Banner der Revolution von 1789 die Dreizahl der Worte prangte: I,ibkrt6,
6Muth, tratsmits. Wenn wir die "Rechtsphilosophie der Revolution" näher
betrachten, wie sie namentlich in des Abbe Sieyds bekannter Broschüre vom
dritten Stande und i" der Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt,
so sehen wir, daß die Losung: "Freiheit und Gleichheit" vollständig genügend
ist, um die Quintessenz der Nevvlutionsgedanken in kurzen Schlagwörtern zu¬
sammenzufassen. Die "Brüderlichkeit" ist hinzugefügt worden in einem dunkeln
Drange, das Wesen der zu erstrebenden Gleichheit näher zu bestimmen. Es
sollte ausgesprochen werden, daß das Ideal, welches vorschwebte, nicht die
Gleichheit des einsam irrenden Wilden sei, sondern die soziale Gleichheit, nicht
die Gleichheit im Naturzustande, sondern Gleichheit in enger Kulturgemeinschaft.
Damit ist freilich ein großes Wort ausgesprochen, und voraussichtlich werden
noch Jahrhunderte harten Ringens vergehen, ehe die Realdialektik der Geschichte
in befriedigender Weise über den Widerspruch hinwegkommt, der in den Worten
liegt: "Gleichheit in der Kulturgemeinschaft." Denn das innerste Wesen aller
Kulturentwicklung ist ein Herausarbeiten der Ungleichheit.

Indessen, so mächtig auch der Drang sein mag, individuelle Kräfte zu ent¬
falten, nicht minder stark und untilgbar waltet der Trieb, im Geltendmachen
der Persönlichkeit es jedem gleichzuthun, freiwillig hinter keinen zurückzutreten.
Hierauf beruht der demokratische Zug der Zeit, dessen siegreiches Vordringen,
als Thatsache, auch von den konservativsten Beurteilern nicht bezweifelt wird.
"Einer bin auch ich" hatte zu Anfang des Jahrhunderts Ludwig Uhland mit
dem Trotz des Schwaben und des Demokraten gerufen, und heute macht das
allgemeine Stimmrecht dem Reichsbürger zur Pflicht, dieses politischen Waid¬
spruches eingedenk zu sein. Wenn auf der Tribüne des deutschen Reichstages
ein Drechsler oder Zigarrenmacher das Wort ergreifen kann, während Barone,
Kommerzienräte und Professoren aufmerksam zuhören, so bedarf es weiter keines
Beweises, daß die Ungleichheit, die sich als notwendige Folge aus gesteigerter
Kulturentwicklung ergiebt, von einer siegreichen Tendenz der Gleichheit über¬
wogen wird.

Welcher Art ist nun die Gleichheit, die in dem Jahrhundert, seit die Ba¬
stille dem Erdboden gleichgemacht worden ist, so gewaltige Fortschritte gemacht
hat? Welches sind die charakteristischen Züge derjenigen, welche als Idealbild
gesellschaftlicher Zukunft heute so manchem aus dem Volke verlockend erscheint?
Gehen wir auf 1789 zurück, als das Jahr, da zum erstenmale neben der Freiheit
die Gleichheit als oberstes Prinzip staatlicher Ordnung öffentlich ausgerufen
und anerkannt wurde. Im Artikel 1 ihrer Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte verkündet die verfassunggebeude Versammlung: I^Sö lloinmes
NÄissMt et äsen<zur"zue Ubres se eZaux en äroits. In Artikel 2 wird die Er-


Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

Tiefe Pflegt aber der Strahl bewußten Erkennens nicht zu dringen. So werden
wir auch keine juristische Bestimmtheit der Begriffe verlangen, wenn auf dem
Banner der Revolution von 1789 die Dreizahl der Worte prangte: I,ibkrt6,
6Muth, tratsmits. Wenn wir die „Rechtsphilosophie der Revolution" näher
betrachten, wie sie namentlich in des Abbe Sieyds bekannter Broschüre vom
dritten Stande und i» der Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt,
so sehen wir, daß die Losung: „Freiheit und Gleichheit" vollständig genügend
ist, um die Quintessenz der Nevvlutionsgedanken in kurzen Schlagwörtern zu¬
sammenzufassen. Die „Brüderlichkeit" ist hinzugefügt worden in einem dunkeln
Drange, das Wesen der zu erstrebenden Gleichheit näher zu bestimmen. Es
sollte ausgesprochen werden, daß das Ideal, welches vorschwebte, nicht die
Gleichheit des einsam irrenden Wilden sei, sondern die soziale Gleichheit, nicht
die Gleichheit im Naturzustande, sondern Gleichheit in enger Kulturgemeinschaft.
Damit ist freilich ein großes Wort ausgesprochen, und voraussichtlich werden
noch Jahrhunderte harten Ringens vergehen, ehe die Realdialektik der Geschichte
in befriedigender Weise über den Widerspruch hinwegkommt, der in den Worten
liegt: „Gleichheit in der Kulturgemeinschaft." Denn das innerste Wesen aller
Kulturentwicklung ist ein Herausarbeiten der Ungleichheit.

Indessen, so mächtig auch der Drang sein mag, individuelle Kräfte zu ent¬
falten, nicht minder stark und untilgbar waltet der Trieb, im Geltendmachen
der Persönlichkeit es jedem gleichzuthun, freiwillig hinter keinen zurückzutreten.
Hierauf beruht der demokratische Zug der Zeit, dessen siegreiches Vordringen,
als Thatsache, auch von den konservativsten Beurteilern nicht bezweifelt wird.
„Einer bin auch ich" hatte zu Anfang des Jahrhunderts Ludwig Uhland mit
dem Trotz des Schwaben und des Demokraten gerufen, und heute macht das
allgemeine Stimmrecht dem Reichsbürger zur Pflicht, dieses politischen Waid¬
spruches eingedenk zu sein. Wenn auf der Tribüne des deutschen Reichstages
ein Drechsler oder Zigarrenmacher das Wort ergreifen kann, während Barone,
Kommerzienräte und Professoren aufmerksam zuhören, so bedarf es weiter keines
Beweises, daß die Ungleichheit, die sich als notwendige Folge aus gesteigerter
Kulturentwicklung ergiebt, von einer siegreichen Tendenz der Gleichheit über¬
wogen wird.

Welcher Art ist nun die Gleichheit, die in dem Jahrhundert, seit die Ba¬
stille dem Erdboden gleichgemacht worden ist, so gewaltige Fortschritte gemacht
hat? Welches sind die charakteristischen Züge derjenigen, welche als Idealbild
gesellschaftlicher Zukunft heute so manchem aus dem Volke verlockend erscheint?
Gehen wir auf 1789 zurück, als das Jahr, da zum erstenmale neben der Freiheit
die Gleichheit als oberstes Prinzip staatlicher Ordnung öffentlich ausgerufen
und anerkannt wurde. Im Artikel 1 ihrer Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte verkündet die verfassunggebeude Versammlung: I^Sö lloinmes
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[0448] Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip. Tiefe Pflegt aber der Strahl bewußten Erkennens nicht zu dringen. So werden wir auch keine juristische Bestimmtheit der Begriffe verlangen, wenn auf dem Banner der Revolution von 1789 die Dreizahl der Worte prangte: I,ibkrt6, 6Muth, tratsmits. Wenn wir die „Rechtsphilosophie der Revolution" näher betrachten, wie sie namentlich in des Abbe Sieyds bekannter Broschüre vom dritten Stande und i» der Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt, so sehen wir, daß die Losung: „Freiheit und Gleichheit" vollständig genügend ist, um die Quintessenz der Nevvlutionsgedanken in kurzen Schlagwörtern zu¬ sammenzufassen. Die „Brüderlichkeit" ist hinzugefügt worden in einem dunkeln Drange, das Wesen der zu erstrebenden Gleichheit näher zu bestimmen. Es sollte ausgesprochen werden, daß das Ideal, welches vorschwebte, nicht die Gleichheit des einsam irrenden Wilden sei, sondern die soziale Gleichheit, nicht die Gleichheit im Naturzustande, sondern Gleichheit in enger Kulturgemeinschaft. Damit ist freilich ein großes Wort ausgesprochen, und voraussichtlich werden noch Jahrhunderte harten Ringens vergehen, ehe die Realdialektik der Geschichte in befriedigender Weise über den Widerspruch hinwegkommt, der in den Worten liegt: „Gleichheit in der Kulturgemeinschaft." Denn das innerste Wesen aller Kulturentwicklung ist ein Herausarbeiten der Ungleichheit. Indessen, so mächtig auch der Drang sein mag, individuelle Kräfte zu ent¬ falten, nicht minder stark und untilgbar waltet der Trieb, im Geltendmachen der Persönlichkeit es jedem gleichzuthun, freiwillig hinter keinen zurückzutreten. Hierauf beruht der demokratische Zug der Zeit, dessen siegreiches Vordringen, als Thatsache, auch von den konservativsten Beurteilern nicht bezweifelt wird. „Einer bin auch ich" hatte zu Anfang des Jahrhunderts Ludwig Uhland mit dem Trotz des Schwaben und des Demokraten gerufen, und heute macht das allgemeine Stimmrecht dem Reichsbürger zur Pflicht, dieses politischen Waid¬ spruches eingedenk zu sein. Wenn auf der Tribüne des deutschen Reichstages ein Drechsler oder Zigarrenmacher das Wort ergreifen kann, während Barone, Kommerzienräte und Professoren aufmerksam zuhören, so bedarf es weiter keines Beweises, daß die Ungleichheit, die sich als notwendige Folge aus gesteigerter Kulturentwicklung ergiebt, von einer siegreichen Tendenz der Gleichheit über¬ wogen wird. Welcher Art ist nun die Gleichheit, die in dem Jahrhundert, seit die Ba¬ stille dem Erdboden gleichgemacht worden ist, so gewaltige Fortschritte gemacht hat? Welches sind die charakteristischen Züge derjenigen, welche als Idealbild gesellschaftlicher Zukunft heute so manchem aus dem Volke verlockend erscheint? Gehen wir auf 1789 zurück, als das Jahr, da zum erstenmale neben der Freiheit die Gleichheit als oberstes Prinzip staatlicher Ordnung öffentlich ausgerufen und anerkannt wurde. Im Artikel 1 ihrer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verkündet die verfassunggebeude Versammlung: I^Sö lloinmes NÄissMt et äsen<zur«zue Ubres se eZaux en äroits. In Artikel 2 wird die Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/448>, abgerufen am 22.07.2024.