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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

der Erde wählt; von ihm aus erscheinen die irdischen Dinge armselig und
gering.

Arglos war man also wieder auf den Weltgeist der Jdealphilosophen ge¬
diehen, nur mit dem Unterschiede, daß er nicht mehr nebelig unklar einher¬
schwebte, sondern es sich in Frack und weißer Binde hoch oben bequem gemacht
hatte. Er guckte selbstbewußt wie aus einem Lufballon herunter, ohne zu er¬
wägen, daß die Entfernung am klaren Schauen verhindert, daß dnrch sie ein
Bismarck gleich einem Herrn Meyer erscheint, oder richtiger, beide gar nicht
mehr, sondern nur noch ein Klecks auf dem Plauetcnballc, ein Klecks, genannt
Berlin.

Einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart, Jakob Burckhardt, äußerte
einmal gegen die übertriebenen Klagen Libris, daß die Italiener der Renaissance
die Naturkunde zu sehr vor dem Humanismus hätten zurücktreten lassen: "So
sehr es zu bedauern sein mag, daß das hochbegabte Volk nicht einen größeren
Teil seiner Kraft auf die Naturwissenschaften wandte, so glauben wir doch,
daß dasselbe noch wichtigere Ziele hatte und teilweise erreichte."

Suchen wir das Auseinanderstreben der beiden Wissenschaften zu ergründen.
Beruht es auf dem Gegenstande? auf der Methode? auf beidem? Die Natur-
wissenschaft verlangt: voraussetzungslos beobachten, das Beobachtungsmaterial
suchen und finden, wo und wie mans braucht, das Veobachtungsergebnis mathe¬
matisch exakt erfassen und die Schlüsse nur auf erwiesene Thatsachen bauen.
Alles dies paßt auch auf die Geschichte, vorausgesetzt, daß man nur dort mathe¬
matisch exakt erfaßt und sich bestimmt ausdrückt, wo dies möglich ist. In der
Naturwissenschaft sowohl wie in der Geschichte bleiben unendlich viele Fragen un¬
gelöst oder ihre Beantwortung höchstens wahrscheinlich und möglich. Die Methode
mithin birgt nicht den Unterschied. Wie steht es mit dem Gegenstande? Die Natur¬
wissenschaften haben es mit leblosen oder solchen belebten Dingen zu thun, bei denen
die Eigenart in Gruppe und Nasse versinkt. Die Geschichte bezieht sich auf Wesen
sinnlicher Wahrnehmung, von denen die Masse zwar einer Herde vergleichbar
sein mag, welche geboren wird, lebt und stirbt. Aber daneben wirken Geister
und Mächte höherer Art, die, stufenweise seltener werdend, emporsteigen, wie
zur Spitze einer Pyramide; und sie sind es, die in steter Wechselwirkung mit
niederen Reihenfolgen den Gang der Ereignisse bestimmen. Hier also liegt
ein Grundunterschied. Geist, Absichten, Wünsche und Hoffnungen fügen sich
nicht immer der statistischen Formel, und wenn sie sich zu fügen scheinen, so
fragt es sich sehr, ob es nicht nur Schein ist. "An die Stelle des Zählens,
Messens und Wagens muß die schildernde Beobachtung treten." Und noch
mehr: die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit ihren Körpern unmittelbar,
der Historiker nur mittelbar, nur insofern er Überbleibsel oder Nachrichten von
ihnen oder über sie besitzt. Hier liegt die zweite Grundverschiedenheit, denn
wie viel unzulänglicher sind solche Äußerungen nicht als das Ding selbst, wie


Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

der Erde wählt; von ihm aus erscheinen die irdischen Dinge armselig und
gering.

Arglos war man also wieder auf den Weltgeist der Jdealphilosophen ge¬
diehen, nur mit dem Unterschiede, daß er nicht mehr nebelig unklar einher¬
schwebte, sondern es sich in Frack und weißer Binde hoch oben bequem gemacht
hatte. Er guckte selbstbewußt wie aus einem Lufballon herunter, ohne zu er¬
wägen, daß die Entfernung am klaren Schauen verhindert, daß dnrch sie ein
Bismarck gleich einem Herrn Meyer erscheint, oder richtiger, beide gar nicht
mehr, sondern nur noch ein Klecks auf dem Plauetcnballc, ein Klecks, genannt
Berlin.

Einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart, Jakob Burckhardt, äußerte
einmal gegen die übertriebenen Klagen Libris, daß die Italiener der Renaissance
die Naturkunde zu sehr vor dem Humanismus hätten zurücktreten lassen: „So
sehr es zu bedauern sein mag, daß das hochbegabte Volk nicht einen größeren
Teil seiner Kraft auf die Naturwissenschaften wandte, so glauben wir doch,
daß dasselbe noch wichtigere Ziele hatte und teilweise erreichte."

Suchen wir das Auseinanderstreben der beiden Wissenschaften zu ergründen.
Beruht es auf dem Gegenstande? auf der Methode? auf beidem? Die Natur-
wissenschaft verlangt: voraussetzungslos beobachten, das Beobachtungsmaterial
suchen und finden, wo und wie mans braucht, das Veobachtungsergebnis mathe¬
matisch exakt erfassen und die Schlüsse nur auf erwiesene Thatsachen bauen.
Alles dies paßt auch auf die Geschichte, vorausgesetzt, daß man nur dort mathe¬
matisch exakt erfaßt und sich bestimmt ausdrückt, wo dies möglich ist. In der
Naturwissenschaft sowohl wie in der Geschichte bleiben unendlich viele Fragen un¬
gelöst oder ihre Beantwortung höchstens wahrscheinlich und möglich. Die Methode
mithin birgt nicht den Unterschied. Wie steht es mit dem Gegenstande? Die Natur¬
wissenschaften haben es mit leblosen oder solchen belebten Dingen zu thun, bei denen
die Eigenart in Gruppe und Nasse versinkt. Die Geschichte bezieht sich auf Wesen
sinnlicher Wahrnehmung, von denen die Masse zwar einer Herde vergleichbar
sein mag, welche geboren wird, lebt und stirbt. Aber daneben wirken Geister
und Mächte höherer Art, die, stufenweise seltener werdend, emporsteigen, wie
zur Spitze einer Pyramide; und sie sind es, die in steter Wechselwirkung mit
niederen Reihenfolgen den Gang der Ereignisse bestimmen. Hier also liegt
ein Grundunterschied. Geist, Absichten, Wünsche und Hoffnungen fügen sich
nicht immer der statistischen Formel, und wenn sie sich zu fügen scheinen, so
fragt es sich sehr, ob es nicht nur Schein ist. „An die Stelle des Zählens,
Messens und Wagens muß die schildernde Beobachtung treten." Und noch
mehr: die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit ihren Körpern unmittelbar,
der Historiker nur mittelbar, nur insofern er Überbleibsel oder Nachrichten von
ihnen oder über sie besitzt. Hier liegt die zweite Grundverschiedenheit, denn
wie viel unzulänglicher sind solche Äußerungen nicht als das Ding selbst, wie


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[0356] Gefahren in der Geschichtswissenschaft. der Erde wählt; von ihm aus erscheinen die irdischen Dinge armselig und gering. Arglos war man also wieder auf den Weltgeist der Jdealphilosophen ge¬ diehen, nur mit dem Unterschiede, daß er nicht mehr nebelig unklar einher¬ schwebte, sondern es sich in Frack und weißer Binde hoch oben bequem gemacht hatte. Er guckte selbstbewußt wie aus einem Lufballon herunter, ohne zu er¬ wägen, daß die Entfernung am klaren Schauen verhindert, daß dnrch sie ein Bismarck gleich einem Herrn Meyer erscheint, oder richtiger, beide gar nicht mehr, sondern nur noch ein Klecks auf dem Plauetcnballc, ein Klecks, genannt Berlin. Einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart, Jakob Burckhardt, äußerte einmal gegen die übertriebenen Klagen Libris, daß die Italiener der Renaissance die Naturkunde zu sehr vor dem Humanismus hätten zurücktreten lassen: „So sehr es zu bedauern sein mag, daß das hochbegabte Volk nicht einen größeren Teil seiner Kraft auf die Naturwissenschaften wandte, so glauben wir doch, daß dasselbe noch wichtigere Ziele hatte und teilweise erreichte." Suchen wir das Auseinanderstreben der beiden Wissenschaften zu ergründen. Beruht es auf dem Gegenstande? auf der Methode? auf beidem? Die Natur- wissenschaft verlangt: voraussetzungslos beobachten, das Beobachtungsmaterial suchen und finden, wo und wie mans braucht, das Veobachtungsergebnis mathe¬ matisch exakt erfassen und die Schlüsse nur auf erwiesene Thatsachen bauen. Alles dies paßt auch auf die Geschichte, vorausgesetzt, daß man nur dort mathe¬ matisch exakt erfaßt und sich bestimmt ausdrückt, wo dies möglich ist. In der Naturwissenschaft sowohl wie in der Geschichte bleiben unendlich viele Fragen un¬ gelöst oder ihre Beantwortung höchstens wahrscheinlich und möglich. Die Methode mithin birgt nicht den Unterschied. Wie steht es mit dem Gegenstande? Die Natur¬ wissenschaften haben es mit leblosen oder solchen belebten Dingen zu thun, bei denen die Eigenart in Gruppe und Nasse versinkt. Die Geschichte bezieht sich auf Wesen sinnlicher Wahrnehmung, von denen die Masse zwar einer Herde vergleichbar sein mag, welche geboren wird, lebt und stirbt. Aber daneben wirken Geister und Mächte höherer Art, die, stufenweise seltener werdend, emporsteigen, wie zur Spitze einer Pyramide; und sie sind es, die in steter Wechselwirkung mit niederen Reihenfolgen den Gang der Ereignisse bestimmen. Hier also liegt ein Grundunterschied. Geist, Absichten, Wünsche und Hoffnungen fügen sich nicht immer der statistischen Formel, und wenn sie sich zu fügen scheinen, so fragt es sich sehr, ob es nicht nur Schein ist. „An die Stelle des Zählens, Messens und Wagens muß die schildernde Beobachtung treten." Und noch mehr: die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit ihren Körpern unmittelbar, der Historiker nur mittelbar, nur insofern er Überbleibsel oder Nachrichten von ihnen oder über sie besitzt. Hier liegt die zweite Grundverschiedenheit, denn wie viel unzulänglicher sind solche Äußerungen nicht als das Ding selbst, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/356>, abgerufen am 22.07.2024.