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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

Person; indem sie sich den Gesetzen unterwirft, verschwindet der Gegensatz von Frei¬
heit und Notwendigkeit; der Staat und dessen Gesetz bilden ihm die rettende Lö¬
sung. Ihm ist Geschichte der Entwicklungsgang des Weltgeistes, als dessen
Wesen die sich selbst bestimmende Freiheit des Bewußtseins dasteht, sodaß der
Inhalt der Geschichte nichts andres sein kann, als der Fortschritt im Bewußt¬
sein der Freiheit. Nur das gilt ihm als Geschichte, was in der Entwicklung
des Weltgeistes eine wesentliche Epoche ausmacht.

Diese Männer begaben sich mit falsch übertragener Methode an die That¬
sachen, weil sie von der Philosophie ausgingen, statt von der Geschichte; die
Philosophie konstruirt, die Dinge der Geschichte ereignen sich. Nicht ein histo¬
rischer, sondern ein philosophischer Vorwurf ist der Kern ihrer Gedanken: das
Problem der Freiheit und Notwendigkeit. Deren Ausgleich im Staate erken¬
nend, überschätzten sie diesen, unterschätzten sie die nichtstaatlichen Bethätigungen
in Gewerbe, Religion, Kunst und Wissenschaft. Es ist eine Betrachtungsweise,
die eigentlich nur dadurch verständlich wird, daß ihre Vertreter zunächst den
preußischen Staat vor Augen hatten, worin sie lebten und wirkten. Darüber
verkannten sie, daß der Kulturstaat als solcher sich keineswegs immer mit den
Bedürfnissen seiner Bürger deckt, daß das Ideale nicht der bloße Staat, sondern
der Nationalstaat ist, sein Znsammenfall mit dem Volkstum. Nehmen wir ein
bestimmtes Beispiel, etwa Österreich: es wurde zufällig zusammenerobcrt und
-geheiratet, voll Haß und Erbitterung stehen sich innerhalb desselben die ver-
schiednen Nationalitäten gegenüber, und doch soll sich in seiner Rechtsordnung die
sittliche Vereinigung der subjektiven Freiheit mit der objektiven Notwendigkeit
des Gesetzes vollziehen! Ja auch der Nationalstaat bleibt unvollkommen, so¬
bald er nicht auf dem Volkstum beruht. Das Frankreich Ludwigs XV. war
gewiß ein Kulturstaat und doch so sehr der Freiheit und Gesetzlichkeit bar, daß
es ausmündete in die Revolution.

Alle die angeführten Aufstellungen sind von der Blässe des Gedankens an¬
gekränkelt; nicht aus dein vollen Menschenleben, im Überblicke über Triebe und
Leidenschaften gewann man sein Ergebnis, sondern als gute Philosophen setzten
sich die Herren nieder, schufen ans den Tiefen des Bewußtseins ihr System,
und ließen über das Ganze die nebelig unklare Gestalt des Weltgeistes walten.

Anders die sozialistisch-naturwissenschaftliche Richtung; sie wollte aus dem
Zusammenfluß einzelner Beobachtungen zu allgemeinen Gesetzen gelangen, sie
fußte auf der Masse, dem Streite der Interessen.

Im Gefängnisse der Revolution suchte sich der Marquis von Condorcet
durch seine DeMssö et'un tadlöim distoricius ass xrog'roh as l'ösprit Imnitün
zu trösten. Er ordnete darin die geistigen Anlagen den äußern Natur¬
bedingungen gegenüber und fragte: Weshalb sollte das Prinzip der Naturwissen¬
schaften, daß die allgemeinen Gesetze, von denen die Erscheinungen des Weltalls
abhängen, notwendig und beständig sind, weniger giltig sein für die Entwicklung


Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

Person; indem sie sich den Gesetzen unterwirft, verschwindet der Gegensatz von Frei¬
heit und Notwendigkeit; der Staat und dessen Gesetz bilden ihm die rettende Lö¬
sung. Ihm ist Geschichte der Entwicklungsgang des Weltgeistes, als dessen
Wesen die sich selbst bestimmende Freiheit des Bewußtseins dasteht, sodaß der
Inhalt der Geschichte nichts andres sein kann, als der Fortschritt im Bewußt¬
sein der Freiheit. Nur das gilt ihm als Geschichte, was in der Entwicklung
des Weltgeistes eine wesentliche Epoche ausmacht.

Diese Männer begaben sich mit falsch übertragener Methode an die That¬
sachen, weil sie von der Philosophie ausgingen, statt von der Geschichte; die
Philosophie konstruirt, die Dinge der Geschichte ereignen sich. Nicht ein histo¬
rischer, sondern ein philosophischer Vorwurf ist der Kern ihrer Gedanken: das
Problem der Freiheit und Notwendigkeit. Deren Ausgleich im Staate erken¬
nend, überschätzten sie diesen, unterschätzten sie die nichtstaatlichen Bethätigungen
in Gewerbe, Religion, Kunst und Wissenschaft. Es ist eine Betrachtungsweise,
die eigentlich nur dadurch verständlich wird, daß ihre Vertreter zunächst den
preußischen Staat vor Augen hatten, worin sie lebten und wirkten. Darüber
verkannten sie, daß der Kulturstaat als solcher sich keineswegs immer mit den
Bedürfnissen seiner Bürger deckt, daß das Ideale nicht der bloße Staat, sondern
der Nationalstaat ist, sein Znsammenfall mit dem Volkstum. Nehmen wir ein
bestimmtes Beispiel, etwa Österreich: es wurde zufällig zusammenerobcrt und
-geheiratet, voll Haß und Erbitterung stehen sich innerhalb desselben die ver-
schiednen Nationalitäten gegenüber, und doch soll sich in seiner Rechtsordnung die
sittliche Vereinigung der subjektiven Freiheit mit der objektiven Notwendigkeit
des Gesetzes vollziehen! Ja auch der Nationalstaat bleibt unvollkommen, so¬
bald er nicht auf dem Volkstum beruht. Das Frankreich Ludwigs XV. war
gewiß ein Kulturstaat und doch so sehr der Freiheit und Gesetzlichkeit bar, daß
es ausmündete in die Revolution.

Alle die angeführten Aufstellungen sind von der Blässe des Gedankens an¬
gekränkelt; nicht aus dein vollen Menschenleben, im Überblicke über Triebe und
Leidenschaften gewann man sein Ergebnis, sondern als gute Philosophen setzten
sich die Herren nieder, schufen ans den Tiefen des Bewußtseins ihr System,
und ließen über das Ganze die nebelig unklare Gestalt des Weltgeistes walten.

Anders die sozialistisch-naturwissenschaftliche Richtung; sie wollte aus dem
Zusammenfluß einzelner Beobachtungen zu allgemeinen Gesetzen gelangen, sie
fußte auf der Masse, dem Streite der Interessen.

Im Gefängnisse der Revolution suchte sich der Marquis von Condorcet
durch seine DeMssö et'un tadlöim distoricius ass xrog'roh as l'ösprit Imnitün
zu trösten. Er ordnete darin die geistigen Anlagen den äußern Natur¬
bedingungen gegenüber und fragte: Weshalb sollte das Prinzip der Naturwissen¬
schaften, daß die allgemeinen Gesetze, von denen die Erscheinungen des Weltalls
abhängen, notwendig und beständig sind, weniger giltig sein für die Entwicklung


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[0354] Gefahren in der Geschichtswissenschaft. Person; indem sie sich den Gesetzen unterwirft, verschwindet der Gegensatz von Frei¬ heit und Notwendigkeit; der Staat und dessen Gesetz bilden ihm die rettende Lö¬ sung. Ihm ist Geschichte der Entwicklungsgang des Weltgeistes, als dessen Wesen die sich selbst bestimmende Freiheit des Bewußtseins dasteht, sodaß der Inhalt der Geschichte nichts andres sein kann, als der Fortschritt im Bewußt¬ sein der Freiheit. Nur das gilt ihm als Geschichte, was in der Entwicklung des Weltgeistes eine wesentliche Epoche ausmacht. Diese Männer begaben sich mit falsch übertragener Methode an die That¬ sachen, weil sie von der Philosophie ausgingen, statt von der Geschichte; die Philosophie konstruirt, die Dinge der Geschichte ereignen sich. Nicht ein histo¬ rischer, sondern ein philosophischer Vorwurf ist der Kern ihrer Gedanken: das Problem der Freiheit und Notwendigkeit. Deren Ausgleich im Staate erken¬ nend, überschätzten sie diesen, unterschätzten sie die nichtstaatlichen Bethätigungen in Gewerbe, Religion, Kunst und Wissenschaft. Es ist eine Betrachtungsweise, die eigentlich nur dadurch verständlich wird, daß ihre Vertreter zunächst den preußischen Staat vor Augen hatten, worin sie lebten und wirkten. Darüber verkannten sie, daß der Kulturstaat als solcher sich keineswegs immer mit den Bedürfnissen seiner Bürger deckt, daß das Ideale nicht der bloße Staat, sondern der Nationalstaat ist, sein Znsammenfall mit dem Volkstum. Nehmen wir ein bestimmtes Beispiel, etwa Österreich: es wurde zufällig zusammenerobcrt und -geheiratet, voll Haß und Erbitterung stehen sich innerhalb desselben die ver- schiednen Nationalitäten gegenüber, und doch soll sich in seiner Rechtsordnung die sittliche Vereinigung der subjektiven Freiheit mit der objektiven Notwendigkeit des Gesetzes vollziehen! Ja auch der Nationalstaat bleibt unvollkommen, so¬ bald er nicht auf dem Volkstum beruht. Das Frankreich Ludwigs XV. war gewiß ein Kulturstaat und doch so sehr der Freiheit und Gesetzlichkeit bar, daß es ausmündete in die Revolution. Alle die angeführten Aufstellungen sind von der Blässe des Gedankens an¬ gekränkelt; nicht aus dein vollen Menschenleben, im Überblicke über Triebe und Leidenschaften gewann man sein Ergebnis, sondern als gute Philosophen setzten sich die Herren nieder, schufen ans den Tiefen des Bewußtseins ihr System, und ließen über das Ganze die nebelig unklare Gestalt des Weltgeistes walten. Anders die sozialistisch-naturwissenschaftliche Richtung; sie wollte aus dem Zusammenfluß einzelner Beobachtungen zu allgemeinen Gesetzen gelangen, sie fußte auf der Masse, dem Streite der Interessen. Im Gefängnisse der Revolution suchte sich der Marquis von Condorcet durch seine DeMssö et'un tadlöim distoricius ass xrog'roh as l'ösprit Imnitün zu trösten. Er ordnete darin die geistigen Anlagen den äußern Natur¬ bedingungen gegenüber und fragte: Weshalb sollte das Prinzip der Naturwissen¬ schaften, daß die allgemeinen Gesetze, von denen die Erscheinungen des Weltalls abhängen, notwendig und beständig sind, weniger giltig sein für die Entwicklung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/354>, abgerufen am 22.07.2024.