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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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I^Immortel.

Die große Menge der Leser wird sich natürlich daran ergötzen und dem Ver¬
fasser auch dort Glauben schenken, wo er karikirt hat.

Der "Unsterbliche" im Mittelpunkte der Handlung, Mr. Leonard Astier-
Nehu, wird als ein Schwachkopf und Pantoffelheld erster Sorte dargestellt.
Nur durch seine Heirat mit der Tochter eines einflußreichen Akademikers, des
gegenwärtig mehr als achtzigjähriger Rehu, ist er in das Institut gekommen,
nachdem er bis dahin ein bescheidener Gymnasiallehrer in der Provinz gewesen
war. Er war dann zugleich in einem Ministerium angestellt und hat diese
Stellung durch eine unvorsichtige Äußerung gegen die Republik zu Gunsten des
Orleans verloren. Damit einen großen Teil der Einkünfte. Nun wartet er
auf den Tod des ständigen Sekretärs der Akademie: eine abscheuliche Erwartung,
die Daudet nicht wenig boshaft beleuchtet. Zum Unglück hat Leonard an dem
buckligen Buchbinder Fage einen Parasiten eigner Art gefunden. Dieser pumpt
ihn mit den gefälschten Briefen von Karl V. und Rabelais jämmerlich aus,
140 000 Franks hat er ihm schon herausgelockt und spät erst, nachdem Astier
die Sekretärstelle gewonnen hat, und die gesamte Akademie durch seine vermeint¬
liche Entdeckung bloßgestellt ist, wird der Betrug entdeckt. Die Gerichtsszene
mit dem rohen Gelächter des Publikums und der bissigen Ironie des Ver¬
teidigers ist eines der kostbarsten Kapitel des Buches. Astier aber wird auch
von andrer Seite fortwährend um Geld gepreßt, wogegen er sich nur mit haus¬
väterlicher Grobheit wahren kann. Sein Sohn Paul, der zu seinem tiefsten
Leid nicht Gelehrter, sondern Architekt geworden ist, ein flotter, leichtsinniger,
auf großem Fuße lebender, künstlerisch impotenter Streber, der die wenigen Er¬
folge nur der uneigennützigen Hilfe des Universalkünstlcrs Vedrine zu verdanken
hat, ist in ständiger Geldverlegenheit. Er wendet sich immer an die Mutter,
die ihm Geld giebt, so lange es überhaupt möglich ist, ja die sogar die kost¬
barsten Stücke ans der Autographensammlung ihres Gatten stiehlt, um dem
Jungen Geld zu schaffen. Dieser Diebstahl führt zur Entdeckung der Fälschungen.
Aber schließlich geht auch der Madame Astier der Faden aus, und da verlegen
sich Mutter und Sohn auf Heiratssachen. Sie will nämlich dadurch Geld ge¬
winnen, daß sie eine Ehe zwischen zwei ihr bekannten Leuten stiftet, wenn sie
auch dabei eine vertraute Freundin in gemeinster Weise verletzt; Paul will eine
ungeheuer reiche, junge und schöne Witwe erobern. Diese Witwe ist wieder ein
kostbares Original. Ihre Trauer ist maßlos und lächerlich überspannt. Sie
hat sich die Haare scheren lassen, geht nirgends hin, betet den ganzen Tag,
läuft täglich auf den ?örs 1a LKÄss, zerfließt in Thränen, das Gedeck ihres
Verstorbenen muß immer noch so auf den Tisch gebracht werden, als wenn er
mitäße, es soll überhaupt so sein, als wenn er wiederkäme, sein Hut, seine Hand¬
schuhe und sein Spazierstock liegen an derselben Stelle unberührt im Vorzimmer,
wo er sie hinzulegen pflegte, und doch ist die Wohnung düster wie ein Grab
gemacht. Um diese Fürstin Colette de Rosen bemühen sich Mutter und Sohn


I^Immortel.

Die große Menge der Leser wird sich natürlich daran ergötzen und dem Ver¬
fasser auch dort Glauben schenken, wo er karikirt hat.

Der „Unsterbliche" im Mittelpunkte der Handlung, Mr. Leonard Astier-
Nehu, wird als ein Schwachkopf und Pantoffelheld erster Sorte dargestellt.
Nur durch seine Heirat mit der Tochter eines einflußreichen Akademikers, des
gegenwärtig mehr als achtzigjähriger Rehu, ist er in das Institut gekommen,
nachdem er bis dahin ein bescheidener Gymnasiallehrer in der Provinz gewesen
war. Er war dann zugleich in einem Ministerium angestellt und hat diese
Stellung durch eine unvorsichtige Äußerung gegen die Republik zu Gunsten des
Orleans verloren. Damit einen großen Teil der Einkünfte. Nun wartet er
auf den Tod des ständigen Sekretärs der Akademie: eine abscheuliche Erwartung,
die Daudet nicht wenig boshaft beleuchtet. Zum Unglück hat Leonard an dem
buckligen Buchbinder Fage einen Parasiten eigner Art gefunden. Dieser pumpt
ihn mit den gefälschten Briefen von Karl V. und Rabelais jämmerlich aus,
140 000 Franks hat er ihm schon herausgelockt und spät erst, nachdem Astier
die Sekretärstelle gewonnen hat, und die gesamte Akademie durch seine vermeint¬
liche Entdeckung bloßgestellt ist, wird der Betrug entdeckt. Die Gerichtsszene
mit dem rohen Gelächter des Publikums und der bissigen Ironie des Ver¬
teidigers ist eines der kostbarsten Kapitel des Buches. Astier aber wird auch
von andrer Seite fortwährend um Geld gepreßt, wogegen er sich nur mit haus¬
väterlicher Grobheit wahren kann. Sein Sohn Paul, der zu seinem tiefsten
Leid nicht Gelehrter, sondern Architekt geworden ist, ein flotter, leichtsinniger,
auf großem Fuße lebender, künstlerisch impotenter Streber, der die wenigen Er¬
folge nur der uneigennützigen Hilfe des Universalkünstlcrs Vedrine zu verdanken
hat, ist in ständiger Geldverlegenheit. Er wendet sich immer an die Mutter,
die ihm Geld giebt, so lange es überhaupt möglich ist, ja die sogar die kost¬
barsten Stücke ans der Autographensammlung ihres Gatten stiehlt, um dem
Jungen Geld zu schaffen. Dieser Diebstahl führt zur Entdeckung der Fälschungen.
Aber schließlich geht auch der Madame Astier der Faden aus, und da verlegen
sich Mutter und Sohn auf Heiratssachen. Sie will nämlich dadurch Geld ge¬
winnen, daß sie eine Ehe zwischen zwei ihr bekannten Leuten stiftet, wenn sie
auch dabei eine vertraute Freundin in gemeinster Weise verletzt; Paul will eine
ungeheuer reiche, junge und schöne Witwe erobern. Diese Witwe ist wieder ein
kostbares Original. Ihre Trauer ist maßlos und lächerlich überspannt. Sie
hat sich die Haare scheren lassen, geht nirgends hin, betet den ganzen Tag,
läuft täglich auf den ?örs 1a LKÄss, zerfließt in Thränen, das Gedeck ihres
Verstorbenen muß immer noch so auf den Tisch gebracht werden, als wenn er
mitäße, es soll überhaupt so sein, als wenn er wiederkäme, sein Hut, seine Hand¬
schuhe und sein Spazierstock liegen an derselben Stelle unberührt im Vorzimmer,
wo er sie hinzulegen pflegte, und doch ist die Wohnung düster wie ein Grab
gemacht. Um diese Fürstin Colette de Rosen bemühen sich Mutter und Sohn


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[0268] I^Immortel. Die große Menge der Leser wird sich natürlich daran ergötzen und dem Ver¬ fasser auch dort Glauben schenken, wo er karikirt hat. Der „Unsterbliche" im Mittelpunkte der Handlung, Mr. Leonard Astier- Nehu, wird als ein Schwachkopf und Pantoffelheld erster Sorte dargestellt. Nur durch seine Heirat mit der Tochter eines einflußreichen Akademikers, des gegenwärtig mehr als achtzigjähriger Rehu, ist er in das Institut gekommen, nachdem er bis dahin ein bescheidener Gymnasiallehrer in der Provinz gewesen war. Er war dann zugleich in einem Ministerium angestellt und hat diese Stellung durch eine unvorsichtige Äußerung gegen die Republik zu Gunsten des Orleans verloren. Damit einen großen Teil der Einkünfte. Nun wartet er auf den Tod des ständigen Sekretärs der Akademie: eine abscheuliche Erwartung, die Daudet nicht wenig boshaft beleuchtet. Zum Unglück hat Leonard an dem buckligen Buchbinder Fage einen Parasiten eigner Art gefunden. Dieser pumpt ihn mit den gefälschten Briefen von Karl V. und Rabelais jämmerlich aus, 140 000 Franks hat er ihm schon herausgelockt und spät erst, nachdem Astier die Sekretärstelle gewonnen hat, und die gesamte Akademie durch seine vermeint¬ liche Entdeckung bloßgestellt ist, wird der Betrug entdeckt. Die Gerichtsszene mit dem rohen Gelächter des Publikums und der bissigen Ironie des Ver¬ teidigers ist eines der kostbarsten Kapitel des Buches. Astier aber wird auch von andrer Seite fortwährend um Geld gepreßt, wogegen er sich nur mit haus¬ väterlicher Grobheit wahren kann. Sein Sohn Paul, der zu seinem tiefsten Leid nicht Gelehrter, sondern Architekt geworden ist, ein flotter, leichtsinniger, auf großem Fuße lebender, künstlerisch impotenter Streber, der die wenigen Er¬ folge nur der uneigennützigen Hilfe des Universalkünstlcrs Vedrine zu verdanken hat, ist in ständiger Geldverlegenheit. Er wendet sich immer an die Mutter, die ihm Geld giebt, so lange es überhaupt möglich ist, ja die sogar die kost¬ barsten Stücke ans der Autographensammlung ihres Gatten stiehlt, um dem Jungen Geld zu schaffen. Dieser Diebstahl führt zur Entdeckung der Fälschungen. Aber schließlich geht auch der Madame Astier der Faden aus, und da verlegen sich Mutter und Sohn auf Heiratssachen. Sie will nämlich dadurch Geld ge¬ winnen, daß sie eine Ehe zwischen zwei ihr bekannten Leuten stiftet, wenn sie auch dabei eine vertraute Freundin in gemeinster Weise verletzt; Paul will eine ungeheuer reiche, junge und schöne Witwe erobern. Diese Witwe ist wieder ein kostbares Original. Ihre Trauer ist maßlos und lächerlich überspannt. Sie hat sich die Haare scheren lassen, geht nirgends hin, betet den ganzen Tag, läuft täglich auf den ?örs 1a LKÄss, zerfließt in Thränen, das Gedeck ihres Verstorbenen muß immer noch so auf den Tisch gebracht werden, als wenn er mitäße, es soll überhaupt so sein, als wenn er wiederkäme, sein Hut, seine Hand¬ schuhe und sein Spazierstock liegen an derselben Stelle unberührt im Vorzimmer, wo er sie hinzulegen pflegte, und doch ist die Wohnung düster wie ein Grab gemacht. Um diese Fürstin Colette de Rosen bemühen sich Mutter und Sohn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/268>, abgerufen am 22.07.2024.