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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Sind die heutigen Arbeiterunterstützungsverbände Versicherungsgesellschaften?

Darnach beschränkt sich also die sogenannte Koalitionsfreiheit auf das
privatrechtliche Gebiet, wo es sich um die Regelung konkreter Arbeitsverhältnisse
zwischen beiderseits bestimmten Interessenten handelt. Sobald aber solche Koa¬
litionen darüber hinaus die Regelung der Arbeitsbedingungen für einen ganzen
Gewerbszweig, sei es am einzelnen Platze oder im ganzen Reichsgebiete (Normal¬
tarif) bezwecken, so verfolgen sie nicht mehr private -- auf den Nechtskreis be¬
stimmter Personen beschränkte --, sondern öffentliche Angelegenheiten und fallen
unter die öffentlich-rechtlichen Beschränkungen der Landesgesetzgebung, also auch
die vereinsgesetzlichen Bestimmungen; insbesondre trifft dies nach der vor¬
gedachten Entscheidung dann zu, wenn sie die Organe und die Thätigkeit des
Staates für ihre Zwecke in Anspruch nehmen und sich so in "politische" Vereine
umwandeln.

Nach derselben Entscheidung sind ferner für die Beurteilung des Rechts¬
charakters von Vereinen nicht lediglich die allgemeine Tendenz und das letzte
Ziel, sondern zugleich Form und Mittel der Vereinsbestrebungen entscheidend.
Wenn also Vereine als Mittel zum Zweck Versicherungen betreiben, müssen
sie sich auch die Behandlung nach den Versicherungsgesetzen gefallen lassen. Die
dagegen versuchte Berufung auf die Verfassung ist ganz verfehlt, weil diese
(Art. 30) "das Recht, sich in Gesellschaften zu vereinigen," nur insoweit gewährt,
als deren "Zwecke den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen"; jeder nicht genehmigte
Versicherungsbetrieb ist aber verboten und strafbar. Überdies weist der Wort¬
laut des Art. 30, wie die Überschrift der dazu erlassenen Verordnung vom
11. März 18S0 ("über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ord¬
nung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes")
darauf hin, daß diese Vorschriften dem Gebiete der Sicherheitspolizei angehören,
während wir es hier -- wenn man die staatliche Aufsichtsführung über Ver¬
sicherungsgesellschaften überhaupt als eine "polizeiliche" Thätigkeit bezeichnen
will -- lediglich mit der Wohlfahrtspolizei zu thun haben. Beide sind durch¬
aus nicht mit einander zu verwechseln.

Bezweckt die Sicherheits- oder eigentliche Polizei die öffentliche Rechtsord¬
nung gegen eigenmächtige Eingriffe oder Störungen zu schützen (A. L.-R. II. 17,
Z 10), so sucht die Wohlfahrtspolizei bloße Mißbräuche zu verhindern, die an
sich noch nicht die öffentliche Rechtsordnung, wohl aber die materielle Wohl¬
fahrt mehr oder minder bestimmt umgrenzter Interessenkreise gefährden (A. L.-N.
II. 6, M 2, 4). Behandelt die erstere meist Rechtsfragen, so die letztere mehr
Zweckmäßigkeitsfragen, weshalb ganz folgerichtig gegen etwaige Übergriffe dort
der Rechtsweg, hier die bloße Aufsichtsbeschwerde gegeben ist. Der Unterschied
läßt sich am einfachsten dahin ausdrücken, daß die Sicherheitspolizei vornehmlich
dem Staate, die Wohlfahrtspolizei der Gesellschaft dient, sofern man unter Staat
die politische, unter Gesellschaft die wirtschaftliche Organisation der gesamten
Staatsbürgerschaft versteht, deren Gliederung dort räumlich, hier beruflich ist.


Sind die heutigen Arbeiterunterstützungsverbände Versicherungsgesellschaften?

Darnach beschränkt sich also die sogenannte Koalitionsfreiheit auf das
privatrechtliche Gebiet, wo es sich um die Regelung konkreter Arbeitsverhältnisse
zwischen beiderseits bestimmten Interessenten handelt. Sobald aber solche Koa¬
litionen darüber hinaus die Regelung der Arbeitsbedingungen für einen ganzen
Gewerbszweig, sei es am einzelnen Platze oder im ganzen Reichsgebiete (Normal¬
tarif) bezwecken, so verfolgen sie nicht mehr private — auf den Nechtskreis be¬
stimmter Personen beschränkte —, sondern öffentliche Angelegenheiten und fallen
unter die öffentlich-rechtlichen Beschränkungen der Landesgesetzgebung, also auch
die vereinsgesetzlichen Bestimmungen; insbesondre trifft dies nach der vor¬
gedachten Entscheidung dann zu, wenn sie die Organe und die Thätigkeit des
Staates für ihre Zwecke in Anspruch nehmen und sich so in „politische" Vereine
umwandeln.

Nach derselben Entscheidung sind ferner für die Beurteilung des Rechts¬
charakters von Vereinen nicht lediglich die allgemeine Tendenz und das letzte
Ziel, sondern zugleich Form und Mittel der Vereinsbestrebungen entscheidend.
Wenn also Vereine als Mittel zum Zweck Versicherungen betreiben, müssen
sie sich auch die Behandlung nach den Versicherungsgesetzen gefallen lassen. Die
dagegen versuchte Berufung auf die Verfassung ist ganz verfehlt, weil diese
(Art. 30) „das Recht, sich in Gesellschaften zu vereinigen," nur insoweit gewährt,
als deren „Zwecke den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen"; jeder nicht genehmigte
Versicherungsbetrieb ist aber verboten und strafbar. Überdies weist der Wort¬
laut des Art. 30, wie die Überschrift der dazu erlassenen Verordnung vom
11. März 18S0 („über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ord¬
nung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes")
darauf hin, daß diese Vorschriften dem Gebiete der Sicherheitspolizei angehören,
während wir es hier — wenn man die staatliche Aufsichtsführung über Ver¬
sicherungsgesellschaften überhaupt als eine „polizeiliche" Thätigkeit bezeichnen
will — lediglich mit der Wohlfahrtspolizei zu thun haben. Beide sind durch¬
aus nicht mit einander zu verwechseln.

Bezweckt die Sicherheits- oder eigentliche Polizei die öffentliche Rechtsord¬
nung gegen eigenmächtige Eingriffe oder Störungen zu schützen (A. L.-R. II. 17,
Z 10), so sucht die Wohlfahrtspolizei bloße Mißbräuche zu verhindern, die an
sich noch nicht die öffentliche Rechtsordnung, wohl aber die materielle Wohl¬
fahrt mehr oder minder bestimmt umgrenzter Interessenkreise gefährden (A. L.-N.
II. 6, M 2, 4). Behandelt die erstere meist Rechtsfragen, so die letztere mehr
Zweckmäßigkeitsfragen, weshalb ganz folgerichtig gegen etwaige Übergriffe dort
der Rechtsweg, hier die bloße Aufsichtsbeschwerde gegeben ist. Der Unterschied
läßt sich am einfachsten dahin ausdrücken, daß die Sicherheitspolizei vornehmlich
dem Staate, die Wohlfahrtspolizei der Gesellschaft dient, sofern man unter Staat
die politische, unter Gesellschaft die wirtschaftliche Organisation der gesamten
Staatsbürgerschaft versteht, deren Gliederung dort räumlich, hier beruflich ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/215>, abgerufen am 22.07.2024.