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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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bei Tausenden und Abertausenden der Fall? Sprechen nicht Leute, die sonst
ganz verständig sind, tagtäglich den Leitartikeln ihres Leibblattes nach, und sind
höchlichst verwundert, wenn sie hören, daß die Dinge sich in Wahrheit ganz
anders verhalten, oder daß sie in einem ganz andern Lichte erscheinen können?

Welche tief niederschlagenden Beobachtungen hat man in dieser Beziehung
allein während der letzten zehn bis zwölf Monate anstellen können! Ich will
nicht innere Angelegenheit berühren, deren Auseinandersetzungen für einen
Leserkreis in Deutschland sehr weitläufig werden müßte, sondern nur unsre Be¬
ziehungen zu Deutschland. Es ist uns nicht leicht geworden, wir waren ge¬
nötigt, alte Lieblingswünsche zum Schweigen zu verurteilen und Erinnerungen
niederzukämpfen. Aber heute sind wir, d. h. die Deutschösterreicher, mit Aus¬
schluß des Häufleins verstockter Klerikalen, mit dem Verstände und dem Herzen
bei dem Bündnisse. Unsre Zeitungen versichern von sich dasselbe. Sie erkennen
auch an hohen Feiertagen die überwältigende Größe des deutschen Kanzlers an.
An den Werktagen aber beten die meisten gehorsam das Gerede der Berliner
Oppositionspresse nach. Diese edeln Blätter haben im Kaiserstaate schwerlich
andre Abonnenten als die Zeitungsredaktionen, und doch kennt sie jeder dem
Namen nach, denn es vergeht kein Tag, wo nicht die Weisheit der "Freisin¬
nigen Zeitung" und des "Berliner Tageblattes" uns aufgetischt würde. Wie
das zugeht? Der einfache Grund ist, daß mit geringen Ausnahmen die Zei-
t>- > ^nden geschrieben werden, die immer "freisinnig" sind, soweit es
sich irgend mit dem Geschäft verträgt, und Freisinn und Geschäft vertragen sich
in der Regel fehr gut, weil der Österreicher im allgemeinen wirklich freisinnig
>c und der Deutschösterreicher erst recht unter der Herrschaft der Slawen. Nun
wußte die Berliner Oppositionspresse genau, was sie that, als sie den unglück¬
lichen Fürsten, der sich von Eugen Richter und Genossen als ihr Fürstenideal
verherrlichen lassen mußte, im Lichte eines Philosemiten erscheinen ließen und
seinen Nachfolger in den fürchterlichen Verdacht brachten, ein aufrichtiger Christ,
ja wohl gar ein Antisemit zu sein. Sofort stand das Urteil über beide Per¬
sönlichkeiten fest. Wir bekamen über die Krankheit des Kaisers Friedrich fast
nur zu lesen, was das Mackenziesche Preßbüreau verbreitete; ja noch gegenüber
dem Gutachten der ausgezeichnetsten deutschen Ärzte, denen sich der berühmteste
Spezialist an der Wiener Universität, Professor von Schroeter, anschließt, haben
große Blätter die Stirn, für den Engländer und seine Beschützer Partei zu er¬
greifen. Als jeder Deutschfühlende durch die Frage aufs tiefste erregt wurde,
ob wegen einer Prinzenheirat nicht nur der Schöpfer des deutschen Reiches ver¬
drängt, sondern zugleich seine Schöpfung bedroht und der europäische Friede
leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden solle, da war die Haltung derselben Zei¬
tungen so schmählich, daß die Empörung sich endlich Bahn brach, und die
Furcht vor dem Abfall ihrer Abonnenten wie im Hochsommer 1870 die Treff¬
licher zum Einlenken bestimmte. Das Auftreten der "Norddeutschen Allgemeinen


bei Tausenden und Abertausenden der Fall? Sprechen nicht Leute, die sonst
ganz verständig sind, tagtäglich den Leitartikeln ihres Leibblattes nach, und sind
höchlichst verwundert, wenn sie hören, daß die Dinge sich in Wahrheit ganz
anders verhalten, oder daß sie in einem ganz andern Lichte erscheinen können?

Welche tief niederschlagenden Beobachtungen hat man in dieser Beziehung
allein während der letzten zehn bis zwölf Monate anstellen können! Ich will
nicht innere Angelegenheit berühren, deren Auseinandersetzungen für einen
Leserkreis in Deutschland sehr weitläufig werden müßte, sondern nur unsre Be¬
ziehungen zu Deutschland. Es ist uns nicht leicht geworden, wir waren ge¬
nötigt, alte Lieblingswünsche zum Schweigen zu verurteilen und Erinnerungen
niederzukämpfen. Aber heute sind wir, d. h. die Deutschösterreicher, mit Aus¬
schluß des Häufleins verstockter Klerikalen, mit dem Verstände und dem Herzen
bei dem Bündnisse. Unsre Zeitungen versichern von sich dasselbe. Sie erkennen
auch an hohen Feiertagen die überwältigende Größe des deutschen Kanzlers an.
An den Werktagen aber beten die meisten gehorsam das Gerede der Berliner
Oppositionspresse nach. Diese edeln Blätter haben im Kaiserstaate schwerlich
andre Abonnenten als die Zeitungsredaktionen, und doch kennt sie jeder dem
Namen nach, denn es vergeht kein Tag, wo nicht die Weisheit der „Freisin¬
nigen Zeitung" und des „Berliner Tageblattes" uns aufgetischt würde. Wie
das zugeht? Der einfache Grund ist, daß mit geringen Ausnahmen die Zei-
t>- > ^nden geschrieben werden, die immer „freisinnig" sind, soweit es
sich irgend mit dem Geschäft verträgt, und Freisinn und Geschäft vertragen sich
in der Regel fehr gut, weil der Österreicher im allgemeinen wirklich freisinnig
>c und der Deutschösterreicher erst recht unter der Herrschaft der Slawen. Nun
wußte die Berliner Oppositionspresse genau, was sie that, als sie den unglück¬
lichen Fürsten, der sich von Eugen Richter und Genossen als ihr Fürstenideal
verherrlichen lassen mußte, im Lichte eines Philosemiten erscheinen ließen und
seinen Nachfolger in den fürchterlichen Verdacht brachten, ein aufrichtiger Christ,
ja wohl gar ein Antisemit zu sein. Sofort stand das Urteil über beide Per¬
sönlichkeiten fest. Wir bekamen über die Krankheit des Kaisers Friedrich fast
nur zu lesen, was das Mackenziesche Preßbüreau verbreitete; ja noch gegenüber
dem Gutachten der ausgezeichnetsten deutschen Ärzte, denen sich der berühmteste
Spezialist an der Wiener Universität, Professor von Schroeter, anschließt, haben
große Blätter die Stirn, für den Engländer und seine Beschützer Partei zu er¬
greifen. Als jeder Deutschfühlende durch die Frage aufs tiefste erregt wurde,
ob wegen einer Prinzenheirat nicht nur der Schöpfer des deutschen Reiches ver¬
drängt, sondern zugleich seine Schöpfung bedroht und der europäische Friede
leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden solle, da war die Haltung derselben Zei¬
tungen so schmählich, daß die Empörung sich endlich Bahn brach, und die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/203>, abgerufen am 22.07.2024.