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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Kleinere Mitteilungen.

Handnahme der Kurzsichtigkeit und des hierdurch veranlaßten Brillentragens. Ist
es doch schon so weit gekommen, daß in den obersten Klassen unsrer höhern Schulen
mehr als die Hälfte der Schüler nicht mehr im Besitz der natürlichen Sehkraft ist,
und daß daher die Brille, diese leidige Brücke blöder Augen, die leider schon in
den untern Klassen hie und da auftritt, je höher hinauf, desto stärkere Verbreitung
findet. So hat nun sich bei uns in Deutschland fast daran gewöhnt, die Brille
als die unvermeidliche Mitgift eines gelehrten Jünglings anzusehen und nimmt
an den zahllosen Brillenträgern keinen Anstoß mehr. Daß andre Völker darüber
anders denken, ergiebt sich daraus, daß englische und französische Witzblätter, wo
sie einen Deutschen als Zerrbild darstellen "vollen, ihm stets eine Brille ans die
Nase setze", offenbar in der Absicht, ihn schon dadurch als lächerliche Figur zu be¬
zeichnen.

Daß man vor sechzig bis siebzig Jahren auch bei uns das Brillentragen
noch nicht so gleichgiltig aufnahm wie jetzt, beweist das Beispiel Goethes, dem bei
seinem stark ausgeprägten Natursinn alles, was das schöne Bild des Menschen
entstellt, höchlichst zuwider war, und der daher gegen Brillenträger eine unüber¬
windliche Abneigung empfand. Er spricht das in verschiednen Stellen seiner Werke
aus. So in dem Gedichte:


Feindseliger Blick.
Du kommst doch über so viele hinaus,
Warum bist du gleich äußeren Hans,
Warum gleich aus dem Häuschen,
Wenn eiuer dir mit Brillen spricht?
Du machst ein ganz verflucht Gesicht
N"d bist so still wie Mäuschen. Das scheint doch wirklich sonnenklar!
Ich geh mit Zügen frei und bar,
Mit freien, treuen Blicken;
Der hat eine Maske vorgethan,
Mit Späherblicken kommt er an.
Darein sollt' ich mich schicken? Was ist denn aber beim Gespräch,
Das Herz und Geist erfüllet,
Als daß ein echtes Wortgepriig
Von Ang zu Auge quittee!
Kommt jener nun mit Gläsern dort,
So bin ich stille, stille;
Ich rede kein verniinftig Wort
Mit einem dnrch die Brille.

In den "Wahlverwandtschaften" (II. 5) schreibt Ottilie in ihr Tagebuch: "Es
käme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches Gemach, wenn er
wüßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn einzusehen und uns mit ihm
zu unterhalten.""

In den "Wanderjahren (I, 10) äußert Wilhelm Meister: "Erlauben Sie
mir es auszusprechen, ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden,
daß diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu Hilfe kommen, keine sittlich
günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich
für klüger, als er ist: denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner innern
Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu,
deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, inneres Wahres mit diesem von außen
herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen. So oft ich durch eine Brille


Kleinere Mitteilungen.

Handnahme der Kurzsichtigkeit und des hierdurch veranlaßten Brillentragens. Ist
es doch schon so weit gekommen, daß in den obersten Klassen unsrer höhern Schulen
mehr als die Hälfte der Schüler nicht mehr im Besitz der natürlichen Sehkraft ist,
und daß daher die Brille, diese leidige Brücke blöder Augen, die leider schon in
den untern Klassen hie und da auftritt, je höher hinauf, desto stärkere Verbreitung
findet. So hat nun sich bei uns in Deutschland fast daran gewöhnt, die Brille
als die unvermeidliche Mitgift eines gelehrten Jünglings anzusehen und nimmt
an den zahllosen Brillenträgern keinen Anstoß mehr. Daß andre Völker darüber
anders denken, ergiebt sich daraus, daß englische und französische Witzblätter, wo
sie einen Deutschen als Zerrbild darstellen »vollen, ihm stets eine Brille ans die
Nase setze», offenbar in der Absicht, ihn schon dadurch als lächerliche Figur zu be¬
zeichnen.

Daß man vor sechzig bis siebzig Jahren auch bei uns das Brillentragen
noch nicht so gleichgiltig aufnahm wie jetzt, beweist das Beispiel Goethes, dem bei
seinem stark ausgeprägten Natursinn alles, was das schöne Bild des Menschen
entstellt, höchlichst zuwider war, und der daher gegen Brillenträger eine unüber¬
windliche Abneigung empfand. Er spricht das in verschiednen Stellen seiner Werke
aus. So in dem Gedichte:


Feindseliger Blick.
Du kommst doch über so viele hinaus,
Warum bist du gleich äußeren Hans,
Warum gleich aus dem Häuschen,
Wenn eiuer dir mit Brillen spricht?
Du machst ein ganz verflucht Gesicht
N»d bist so still wie Mäuschen. Das scheint doch wirklich sonnenklar!
Ich geh mit Zügen frei und bar,
Mit freien, treuen Blicken;
Der hat eine Maske vorgethan,
Mit Späherblicken kommt er an.
Darein sollt' ich mich schicken? Was ist denn aber beim Gespräch,
Das Herz und Geist erfüllet,
Als daß ein echtes Wortgepriig
Von Ang zu Auge quittee!
Kommt jener nun mit Gläsern dort,
So bin ich stille, stille;
Ich rede kein verniinftig Wort
Mit einem dnrch die Brille.

In den „Wahlverwandtschaften" (II. 5) schreibt Ottilie in ihr Tagebuch: „Es
käme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches Gemach, wenn er
wüßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn einzusehen und uns mit ihm
zu unterhalten.""

In den „Wanderjahren (I, 10) äußert Wilhelm Meister: „Erlauben Sie
mir es auszusprechen, ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden,
daß diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu Hilfe kommen, keine sittlich
günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich
für klüger, als er ist: denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner innern
Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu,
deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, inneres Wahres mit diesem von außen
herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen. So oft ich durch eine Brille


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[0194] Kleinere Mitteilungen. Handnahme der Kurzsichtigkeit und des hierdurch veranlaßten Brillentragens. Ist es doch schon so weit gekommen, daß in den obersten Klassen unsrer höhern Schulen mehr als die Hälfte der Schüler nicht mehr im Besitz der natürlichen Sehkraft ist, und daß daher die Brille, diese leidige Brücke blöder Augen, die leider schon in den untern Klassen hie und da auftritt, je höher hinauf, desto stärkere Verbreitung findet. So hat nun sich bei uns in Deutschland fast daran gewöhnt, die Brille als die unvermeidliche Mitgift eines gelehrten Jünglings anzusehen und nimmt an den zahllosen Brillenträgern keinen Anstoß mehr. Daß andre Völker darüber anders denken, ergiebt sich daraus, daß englische und französische Witzblätter, wo sie einen Deutschen als Zerrbild darstellen »vollen, ihm stets eine Brille ans die Nase setze», offenbar in der Absicht, ihn schon dadurch als lächerliche Figur zu be¬ zeichnen. Daß man vor sechzig bis siebzig Jahren auch bei uns das Brillentragen noch nicht so gleichgiltig aufnahm wie jetzt, beweist das Beispiel Goethes, dem bei seinem stark ausgeprägten Natursinn alles, was das schöne Bild des Menschen entstellt, höchlichst zuwider war, und der daher gegen Brillenträger eine unüber¬ windliche Abneigung empfand. Er spricht das in verschiednen Stellen seiner Werke aus. So in dem Gedichte: Feindseliger Blick. Du kommst doch über so viele hinaus, Warum bist du gleich äußeren Hans, Warum gleich aus dem Häuschen, Wenn eiuer dir mit Brillen spricht? Du machst ein ganz verflucht Gesicht N»d bist so still wie Mäuschen. Das scheint doch wirklich sonnenklar! Ich geh mit Zügen frei und bar, Mit freien, treuen Blicken; Der hat eine Maske vorgethan, Mit Späherblicken kommt er an. Darein sollt' ich mich schicken? Was ist denn aber beim Gespräch, Das Herz und Geist erfüllet, Als daß ein echtes Wortgepriig Von Ang zu Auge quittee! Kommt jener nun mit Gläsern dort, So bin ich stille, stille; Ich rede kein verniinftig Wort Mit einem dnrch die Brille. In den „Wahlverwandtschaften" (II. 5) schreibt Ottilie in ihr Tagebuch: „Es käme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches Gemach, wenn er wüßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn einzusehen und uns mit ihm zu unterhalten."" In den „Wanderjahren (I, 10) äußert Wilhelm Meister: „Erlauben Sie mir es auszusprechen, ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu Hilfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist: denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner innern Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, inneres Wahres mit diesem von außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen. So oft ich durch eine Brille

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/194>, abgerufen am 22.07.2024.