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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Aber die Hoffnungen auf eine allgemeine Volkserhebung, welche die Partei an
die Ermordung des Czaren geknüpft hatte, erwiesen sich als Täuschungen.
Sowohl in den Städten als auf dem Lande blieb alles still, und seitdem ist
in der nihilistischen Bewegung offenbar ein Rückgang eingetreten, obwohl die
Sicherheitsmaßregeln, mit denen der neue Kaiser innerhalb seines Reichs um¬
geben wird, allein schon beweisen, daß die Gefahr noch heute fortdauert.
Wiederholt wurden 1882 noch nihilistische Verstecke, Dynamitvorräte und Bomben-
wertstätten entdeckt, mehrmals kam die Polizei nihilistischen Umtrieben in Be¬
amtenkreisen, unter Offizieren des Landheeres und der Kriegsflotte, auf Uni¬
versitäten und Militärschulen auf die Spur. Noch 1885 wurde der Polizeioberst
Sudejkin wegen Verrath gegen die Nihilisten, denen er sich scheinbar zugeneigt
hatte, ermordet, noch 1886 versuchten die Studenten, die der Partei angehörten, es
mit einem Attentate. Aber die Terroristen hatten 1385 nur noch über 16,000
Rubel Einnahmen zu quittiren, während sie 1870 allein für die Unterminirung
der Eisenbahn 40,000 Rubel ausgegeben hatten, und sie sind unzweifelhaft
durch Verrätereien von Mitgliedern und durch polizeiliche Verfolgungen ein¬
geschüchtert und in Verwirrung gebracht worden. Die tiefere Ursache des
Niederganges der Partei liegt aber in dem dauernden Umschwunge der gesell¬
schaftlichen Stimmung in Rußland. Indem der moralische Rückhalt, den die
radikale Propaganda früher bei einem erheblichen Teile der gebildeten Klassen
fand, ihr von der jetzigen Negierung allmählich entzogen wurde, verschlechterte
sich das Nekrutenmaterial der revolutionären Partei, und nur selten noch fanden
sich hier Charaktere, die mit heißer Leidenschaft kalte Selbstbeherrschung ver¬
einigten. Der heutige terroristische Nihilismus lebt von den Zinsen der Erfolge
von 1873 bis 1381. Aber obgleich die Glanzzeit der Partei vorüber ist,
vermag immerhin ein Zufall, ein glückender Griff der Leiter sie unter günstigen
Umständen wieder emporzubringen. Die entscheidende Probe für die Meinung,
daß die Gefahr überwunden sei, kann nur ein russischer Krieg und dessen Rück¬
wirkung auf die fortschrittliche Opposition liefern. Bleibt Friede, so ist unter
dem stetigen und festen Regiments auf eine sich nach und nach vollziehende
Beruhigung des revolutionären Geistes, der das jüngere Geschlecht seit Jahren
in Besitz genommen hat, mit großer Wahrscheinlichkeit zu rechnen.




Aber die Hoffnungen auf eine allgemeine Volkserhebung, welche die Partei an
die Ermordung des Czaren geknüpft hatte, erwiesen sich als Täuschungen.
Sowohl in den Städten als auf dem Lande blieb alles still, und seitdem ist
in der nihilistischen Bewegung offenbar ein Rückgang eingetreten, obwohl die
Sicherheitsmaßregeln, mit denen der neue Kaiser innerhalb seines Reichs um¬
geben wird, allein schon beweisen, daß die Gefahr noch heute fortdauert.
Wiederholt wurden 1882 noch nihilistische Verstecke, Dynamitvorräte und Bomben-
wertstätten entdeckt, mehrmals kam die Polizei nihilistischen Umtrieben in Be¬
amtenkreisen, unter Offizieren des Landheeres und der Kriegsflotte, auf Uni¬
versitäten und Militärschulen auf die Spur. Noch 1885 wurde der Polizeioberst
Sudejkin wegen Verrath gegen die Nihilisten, denen er sich scheinbar zugeneigt
hatte, ermordet, noch 1886 versuchten die Studenten, die der Partei angehörten, es
mit einem Attentate. Aber die Terroristen hatten 1385 nur noch über 16,000
Rubel Einnahmen zu quittiren, während sie 1870 allein für die Unterminirung
der Eisenbahn 40,000 Rubel ausgegeben hatten, und sie sind unzweifelhaft
durch Verrätereien von Mitgliedern und durch polizeiliche Verfolgungen ein¬
geschüchtert und in Verwirrung gebracht worden. Die tiefere Ursache des
Niederganges der Partei liegt aber in dem dauernden Umschwunge der gesell¬
schaftlichen Stimmung in Rußland. Indem der moralische Rückhalt, den die
radikale Propaganda früher bei einem erheblichen Teile der gebildeten Klassen
fand, ihr von der jetzigen Negierung allmählich entzogen wurde, verschlechterte
sich das Nekrutenmaterial der revolutionären Partei, und nur selten noch fanden
sich hier Charaktere, die mit heißer Leidenschaft kalte Selbstbeherrschung ver¬
einigten. Der heutige terroristische Nihilismus lebt von den Zinsen der Erfolge
von 1873 bis 1381. Aber obgleich die Glanzzeit der Partei vorüber ist,
vermag immerhin ein Zufall, ein glückender Griff der Leiter sie unter günstigen
Umständen wieder emporzubringen. Die entscheidende Probe für die Meinung,
daß die Gefahr überwunden sei, kann nur ein russischer Krieg und dessen Rück¬
wirkung auf die fortschrittliche Opposition liefern. Bleibt Friede, so ist unter
dem stetigen und festen Regiments auf eine sich nach und nach vollziehende
Beruhigung des revolutionären Geistes, der das jüngere Geschlecht seit Jahren
in Besitz genommen hat, mit großer Wahrscheinlichkeit zu rechnen.




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[0556] Aber die Hoffnungen auf eine allgemeine Volkserhebung, welche die Partei an die Ermordung des Czaren geknüpft hatte, erwiesen sich als Täuschungen. Sowohl in den Städten als auf dem Lande blieb alles still, und seitdem ist in der nihilistischen Bewegung offenbar ein Rückgang eingetreten, obwohl die Sicherheitsmaßregeln, mit denen der neue Kaiser innerhalb seines Reichs um¬ geben wird, allein schon beweisen, daß die Gefahr noch heute fortdauert. Wiederholt wurden 1882 noch nihilistische Verstecke, Dynamitvorräte und Bomben- wertstätten entdeckt, mehrmals kam die Polizei nihilistischen Umtrieben in Be¬ amtenkreisen, unter Offizieren des Landheeres und der Kriegsflotte, auf Uni¬ versitäten und Militärschulen auf die Spur. Noch 1885 wurde der Polizeioberst Sudejkin wegen Verrath gegen die Nihilisten, denen er sich scheinbar zugeneigt hatte, ermordet, noch 1886 versuchten die Studenten, die der Partei angehörten, es mit einem Attentate. Aber die Terroristen hatten 1385 nur noch über 16,000 Rubel Einnahmen zu quittiren, während sie 1870 allein für die Unterminirung der Eisenbahn 40,000 Rubel ausgegeben hatten, und sie sind unzweifelhaft durch Verrätereien von Mitgliedern und durch polizeiliche Verfolgungen ein¬ geschüchtert und in Verwirrung gebracht worden. Die tiefere Ursache des Niederganges der Partei liegt aber in dem dauernden Umschwunge der gesell¬ schaftlichen Stimmung in Rußland. Indem der moralische Rückhalt, den die radikale Propaganda früher bei einem erheblichen Teile der gebildeten Klassen fand, ihr von der jetzigen Negierung allmählich entzogen wurde, verschlechterte sich das Nekrutenmaterial der revolutionären Partei, und nur selten noch fanden sich hier Charaktere, die mit heißer Leidenschaft kalte Selbstbeherrschung ver¬ einigten. Der heutige terroristische Nihilismus lebt von den Zinsen der Erfolge von 1873 bis 1381. Aber obgleich die Glanzzeit der Partei vorüber ist, vermag immerhin ein Zufall, ein glückender Griff der Leiter sie unter günstigen Umständen wieder emporzubringen. Die entscheidende Probe für die Meinung, daß die Gefahr überwunden sei, kann nur ein russischer Krieg und dessen Rück¬ wirkung auf die fortschrittliche Opposition liefern. Bleibt Friede, so ist unter dem stetigen und festen Regiments auf eine sich nach und nach vollziehende Beruhigung des revolutionären Geistes, der das jüngere Geschlecht seit Jahren in Besitz genommen hat, mit großer Wahrscheinlichkeit zu rechnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/556>, abgerufen am 23.07.2024.