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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Berechtigungen.

und entfesselt die Leidenschaft bis zum völligen Selbstvergessen. Nichts
aber treibt mehr dazu, der Gefahr Trotz zu bieten, als das Beispiel. Geht
der Offizier mit Todesverachtung voran, so folgt der Soldat ebenso brav
Und in dieser Hinsicht steht der Einjährig-Freiwillige dem Offizier am.
nächsten.

Ans der andern Seite teile ich freilich in vollem Maße die Überzeugung,
daß in der deutschen Armee sowohl vom Offizier als vom Unteroffizier des
Dienstes zu viel verlangt wird, und daß in diesem Punkte Abhilfe dringend
notthnt. Aber nicht etwa durch Beschränkung der Ziele -- diese werden viel¬
mehr mit jedem Jahre höher gesteckt werden --, sondern durch Vermehrung der
Anzahl der Offiziere und Unteroffiziere. Daß dies eine unabweisbare und
nicht lange mehr hinauszuschiebende Notwendigkeit ist, weiß jeder, der einen
tiefern Blick in unsre militärischen Verhältnisse gethan hat. Heute erhebe ich
meine vereinzelte Stimme dafür -- bald werden es die Spatzen von den
Dächern pfeifen.

Zum Schluß berühre ich noch eine Frage von untergeordneter Bedeutung,
lediglich weil sie in der Unterredung zwischen dem Kultusminister und dem
Ausschuß für Schulreform zur Sprache gekommen ist. Soll die Befähigung
des Einjährig-Freiwilligen durch eine Prüfung dargethan werden, oder, wie es
jetzt meist der Fall ist, durch das Zeugnis über den einjährigen erfolgreichen Besuch
einer bestimmten Klasse einer Unterrichtsanstalt? Das erstere scheint einfacher und
gerechter, in Wahrheit ist es keins von beiden. Wer Gelegenheit gehabt hat,
den Prüfungen der Einjahrig-Freiwilligen beizuwohnen, der weiß, daß es kaum
etwas Traurigeres giebt. Die meisten der zu prüfenden haben es nicht erwarten
oder nicht erreichen können, die Lehranstalt bis zu der vom Gesetz bestimmten
Klasse zu durchlaufen; sie haben also auf eine andre Weise sich das zur Prüfung
nötige in den Kopf bringen müssen, z. B. auf einer sogenannten Presse.
Das ist dann aber auch darnach. Ich habe erlebt, daß ein junger Mann den
Rhein durch die ?orta ^6LtMg.1lo-i fließen ließ, ein andrer den Namen des
karthagischen Feldherrn im zweiten punischen Kriege nicht wußte, ein dritter
"meine Ahnen" rin nuZ3 Aufs übersetzte, ein vierter auf die Frage ans der
Geometrie: Kann ein Tisch, der auf drei Beinen steht, wackeln? mit größter
Treuherzigkeit Ja antwortete. Geben sich die Examinatoren auch die erdenklichste
Mühe, die leichtesten Fragen zu thun, legen sie den jungen Leuten selbst die
Antworten in den Mund, es hilft nichts, die Hälfte plumpst durch. Zieht
man nun ferner in Betracht, daß jede Prüfung im Grunde ein Hazardspiel ist,
daß der wirkliche Stand der Bildung und Begabung eines jungen Mannes
weit sichrer und gerechter durch die Lehrer der Anstalt beurteilt werden kann,
der er angehört hat, daß endlich die Prüfungen einen sehr bedeutenden Auf¬
wand an Zeit, Geld und Arbeitskraft erfordern, so dürfte es Wohl unzweifelhaft
zweckmüßiger erscheinen, als Regel beizubehalten, daß der Einjährig-Freiwillige


Die Berechtigungen.

und entfesselt die Leidenschaft bis zum völligen Selbstvergessen. Nichts
aber treibt mehr dazu, der Gefahr Trotz zu bieten, als das Beispiel. Geht
der Offizier mit Todesverachtung voran, so folgt der Soldat ebenso brav
Und in dieser Hinsicht steht der Einjährig-Freiwillige dem Offizier am.
nächsten.

Ans der andern Seite teile ich freilich in vollem Maße die Überzeugung,
daß in der deutschen Armee sowohl vom Offizier als vom Unteroffizier des
Dienstes zu viel verlangt wird, und daß in diesem Punkte Abhilfe dringend
notthnt. Aber nicht etwa durch Beschränkung der Ziele — diese werden viel¬
mehr mit jedem Jahre höher gesteckt werden —, sondern durch Vermehrung der
Anzahl der Offiziere und Unteroffiziere. Daß dies eine unabweisbare und
nicht lange mehr hinauszuschiebende Notwendigkeit ist, weiß jeder, der einen
tiefern Blick in unsre militärischen Verhältnisse gethan hat. Heute erhebe ich
meine vereinzelte Stimme dafür — bald werden es die Spatzen von den
Dächern pfeifen.

Zum Schluß berühre ich noch eine Frage von untergeordneter Bedeutung,
lediglich weil sie in der Unterredung zwischen dem Kultusminister und dem
Ausschuß für Schulreform zur Sprache gekommen ist. Soll die Befähigung
des Einjährig-Freiwilligen durch eine Prüfung dargethan werden, oder, wie es
jetzt meist der Fall ist, durch das Zeugnis über den einjährigen erfolgreichen Besuch
einer bestimmten Klasse einer Unterrichtsanstalt? Das erstere scheint einfacher und
gerechter, in Wahrheit ist es keins von beiden. Wer Gelegenheit gehabt hat,
den Prüfungen der Einjahrig-Freiwilligen beizuwohnen, der weiß, daß es kaum
etwas Traurigeres giebt. Die meisten der zu prüfenden haben es nicht erwarten
oder nicht erreichen können, die Lehranstalt bis zu der vom Gesetz bestimmten
Klasse zu durchlaufen; sie haben also auf eine andre Weise sich das zur Prüfung
nötige in den Kopf bringen müssen, z. B. auf einer sogenannten Presse.
Das ist dann aber auch darnach. Ich habe erlebt, daß ein junger Mann den
Rhein durch die ?orta ^6LtMg.1lo-i fließen ließ, ein andrer den Namen des
karthagischen Feldherrn im zweiten punischen Kriege nicht wußte, ein dritter
„meine Ahnen" rin nuZ3 Aufs übersetzte, ein vierter auf die Frage ans der
Geometrie: Kann ein Tisch, der auf drei Beinen steht, wackeln? mit größter
Treuherzigkeit Ja antwortete. Geben sich die Examinatoren auch die erdenklichste
Mühe, die leichtesten Fragen zu thun, legen sie den jungen Leuten selbst die
Antworten in den Mund, es hilft nichts, die Hälfte plumpst durch. Zieht
man nun ferner in Betracht, daß jede Prüfung im Grunde ein Hazardspiel ist,
daß der wirkliche Stand der Bildung und Begabung eines jungen Mannes
weit sichrer und gerechter durch die Lehrer der Anstalt beurteilt werden kann,
der er angehört hat, daß endlich die Prüfungen einen sehr bedeutenden Auf¬
wand an Zeit, Geld und Arbeitskraft erfordern, so dürfte es Wohl unzweifelhaft
zweckmüßiger erscheinen, als Regel beizubehalten, daß der Einjährig-Freiwillige


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[0466] Die Berechtigungen. und entfesselt die Leidenschaft bis zum völligen Selbstvergessen. Nichts aber treibt mehr dazu, der Gefahr Trotz zu bieten, als das Beispiel. Geht der Offizier mit Todesverachtung voran, so folgt der Soldat ebenso brav Und in dieser Hinsicht steht der Einjährig-Freiwillige dem Offizier am. nächsten. Ans der andern Seite teile ich freilich in vollem Maße die Überzeugung, daß in der deutschen Armee sowohl vom Offizier als vom Unteroffizier des Dienstes zu viel verlangt wird, und daß in diesem Punkte Abhilfe dringend notthnt. Aber nicht etwa durch Beschränkung der Ziele — diese werden viel¬ mehr mit jedem Jahre höher gesteckt werden —, sondern durch Vermehrung der Anzahl der Offiziere und Unteroffiziere. Daß dies eine unabweisbare und nicht lange mehr hinauszuschiebende Notwendigkeit ist, weiß jeder, der einen tiefern Blick in unsre militärischen Verhältnisse gethan hat. Heute erhebe ich meine vereinzelte Stimme dafür — bald werden es die Spatzen von den Dächern pfeifen. Zum Schluß berühre ich noch eine Frage von untergeordneter Bedeutung, lediglich weil sie in der Unterredung zwischen dem Kultusminister und dem Ausschuß für Schulreform zur Sprache gekommen ist. Soll die Befähigung des Einjährig-Freiwilligen durch eine Prüfung dargethan werden, oder, wie es jetzt meist der Fall ist, durch das Zeugnis über den einjährigen erfolgreichen Besuch einer bestimmten Klasse einer Unterrichtsanstalt? Das erstere scheint einfacher und gerechter, in Wahrheit ist es keins von beiden. Wer Gelegenheit gehabt hat, den Prüfungen der Einjahrig-Freiwilligen beizuwohnen, der weiß, daß es kaum etwas Traurigeres giebt. Die meisten der zu prüfenden haben es nicht erwarten oder nicht erreichen können, die Lehranstalt bis zu der vom Gesetz bestimmten Klasse zu durchlaufen; sie haben also auf eine andre Weise sich das zur Prüfung nötige in den Kopf bringen müssen, z. B. auf einer sogenannten Presse. Das ist dann aber auch darnach. Ich habe erlebt, daß ein junger Mann den Rhein durch die ?orta ^6LtMg.1lo-i fließen ließ, ein andrer den Namen des karthagischen Feldherrn im zweiten punischen Kriege nicht wußte, ein dritter „meine Ahnen" rin nuZ3 Aufs übersetzte, ein vierter auf die Frage ans der Geometrie: Kann ein Tisch, der auf drei Beinen steht, wackeln? mit größter Treuherzigkeit Ja antwortete. Geben sich die Examinatoren auch die erdenklichste Mühe, die leichtesten Fragen zu thun, legen sie den jungen Leuten selbst die Antworten in den Mund, es hilft nichts, die Hälfte plumpst durch. Zieht man nun ferner in Betracht, daß jede Prüfung im Grunde ein Hazardspiel ist, daß der wirkliche Stand der Bildung und Begabung eines jungen Mannes weit sichrer und gerechter durch die Lehrer der Anstalt beurteilt werden kann, der er angehört hat, daß endlich die Prüfungen einen sehr bedeutenden Auf¬ wand an Zeit, Geld und Arbeitskraft erfordern, so dürfte es Wohl unzweifelhaft zweckmüßiger erscheinen, als Regel beizubehalten, daß der Einjährig-Freiwillige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/466>, abgerufen am 22.07.2024.