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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der philosophie?zum''praktischen Leben.

in der Schule erzogen und gebildet werden soll, noch von den Zielen und
Zwecken, welche die Schule überhaupt erreichen kann. Denn solche Phrasen,
daß man tüchtige, brauchbare und gute Menschen bilden will, sind doch gar zu
allgemein und verschwommen. Wir haben es oft erlebt, daß über die Vor¬
züge der logischen Bildung des Geistes und der Bildung durch sinnliche An¬
schauung gestritten wurde. Die Verteidiger der erstern waren für den Un¬
terricht in den alten Sprachen, namentlich der lateinischen, die Gegner rühmten
den naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterricht als das allein selig
machende und wollten die Köpfe der Jugend vor dem schädlichen Einfluß un¬
nützer Belastung mit toten Sprachen beschützen. Aber weder die einen noch
die andern wußten, daß logische Bildung des Verstandes ohne Anschauung,
wenn auch nicht immer die Anschauung dnrch die fünf Sinne, gar nicht möglich
sei, und daß sinnliche Anschauung ohne Thätigkeit des Verstandes gar nicht
vorkommen kann, mit andren Worten, daß zu allem, was der Mensch lernt,
Sinn und Verstand gehört.

Seitdem man die Analyse des Erkenntnisvermögens von Kant nicht mehr
zum Ausgangspunkte aller Philosophie gemacht hat -- und das ist bekanntlich seit
Fichtes Zeit uicht mehr geschehen -- seitdem unsre Philosophen wieder für jeden
unkritischen Dogmatismus zugänglich geworden sind, seitdem ist auch die Ansicht
ausgebildet worden, daß sich der Verstand nicht nur an und mit der sinnlichen
Anschauung übe und ausbilde, sondern daß er ganz und gar aus ihr entspringe
und sich aus ihr entwickle. Ist doch das Wort Entwicklung biegsam und ge¬
schmeidig genug, um scheinbar alle Lücken unsrer Erkenntnis da auszufüllen,
wo unsre klaren Begriffe aufhören. Wenn diese Theorie Recht hätte, so würde
man natürlich den Verstand ganz nach Belieben ausbilden können, je nachdem
man den Sinnen dieses oder jenes Anschauungsmaterial darböte. Es würde
nur die Thatsache dabei vollkommen rätselhaft bleiben, daß alle Menschen dieser
Erde, selbst die Blödsinnigen und Geisteskranken, soweit sie überhaupt denken,
ohne Ausnahme nach denselben logischen Gesetzen denken. Man kann zwar
gegen diese Gesetze verstoßen und irren, aber schließlich beruht jede Verständigung
durch die Sprache, jeder Vertrag und alle Kultur auf der stillschweigenden An¬
erkennung jener logischen Gesetze, die uns Aristoteles mit vieler Mühe zu¬
sammengestellt hat. Da also die Theorie, daß die Logik sich aus der An¬
schauung erst entwickele, im Widerspruch steht mit allem, was wir sonst im
allgemeinen von den logischen Gesetzen und Verstandskräftcn wissen, so werden
wir von ihr bei der Festsetzung der Prinzipien des Schulunterrichts keinen Ge¬
brauch machen zu können. Aus demselben Grnnde muß auch die Ansicht zurück¬
gewiesen werden, die vielfach von den Nützlichkeitsphilosophen ausgesprochen worden
ist, daß man die Jugend nur in dem unterrichten dürfe, was sie im spätern Leben
gebrauchen könne, und daß alles das als unnütze und schädliche Beschwerung
des Gehirns anzusehen sei, was später nicht wieder praktisch anzuwenden sei.


Das Verhältnis der philosophie?zum''praktischen Leben.

in der Schule erzogen und gebildet werden soll, noch von den Zielen und
Zwecken, welche die Schule überhaupt erreichen kann. Denn solche Phrasen,
daß man tüchtige, brauchbare und gute Menschen bilden will, sind doch gar zu
allgemein und verschwommen. Wir haben es oft erlebt, daß über die Vor¬
züge der logischen Bildung des Geistes und der Bildung durch sinnliche An¬
schauung gestritten wurde. Die Verteidiger der erstern waren für den Un¬
terricht in den alten Sprachen, namentlich der lateinischen, die Gegner rühmten
den naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterricht als das allein selig
machende und wollten die Köpfe der Jugend vor dem schädlichen Einfluß un¬
nützer Belastung mit toten Sprachen beschützen. Aber weder die einen noch
die andern wußten, daß logische Bildung des Verstandes ohne Anschauung,
wenn auch nicht immer die Anschauung dnrch die fünf Sinne, gar nicht möglich
sei, und daß sinnliche Anschauung ohne Thätigkeit des Verstandes gar nicht
vorkommen kann, mit andren Worten, daß zu allem, was der Mensch lernt,
Sinn und Verstand gehört.

Seitdem man die Analyse des Erkenntnisvermögens von Kant nicht mehr
zum Ausgangspunkte aller Philosophie gemacht hat — und das ist bekanntlich seit
Fichtes Zeit uicht mehr geschehen — seitdem unsre Philosophen wieder für jeden
unkritischen Dogmatismus zugänglich geworden sind, seitdem ist auch die Ansicht
ausgebildet worden, daß sich der Verstand nicht nur an und mit der sinnlichen
Anschauung übe und ausbilde, sondern daß er ganz und gar aus ihr entspringe
und sich aus ihr entwickle. Ist doch das Wort Entwicklung biegsam und ge¬
schmeidig genug, um scheinbar alle Lücken unsrer Erkenntnis da auszufüllen,
wo unsre klaren Begriffe aufhören. Wenn diese Theorie Recht hätte, so würde
man natürlich den Verstand ganz nach Belieben ausbilden können, je nachdem
man den Sinnen dieses oder jenes Anschauungsmaterial darböte. Es würde
nur die Thatsache dabei vollkommen rätselhaft bleiben, daß alle Menschen dieser
Erde, selbst die Blödsinnigen und Geisteskranken, soweit sie überhaupt denken,
ohne Ausnahme nach denselben logischen Gesetzen denken. Man kann zwar
gegen diese Gesetze verstoßen und irren, aber schließlich beruht jede Verständigung
durch die Sprache, jeder Vertrag und alle Kultur auf der stillschweigenden An¬
erkennung jener logischen Gesetze, die uns Aristoteles mit vieler Mühe zu¬
sammengestellt hat. Da also die Theorie, daß die Logik sich aus der An¬
schauung erst entwickele, im Widerspruch steht mit allem, was wir sonst im
allgemeinen von den logischen Gesetzen und Verstandskräftcn wissen, so werden
wir von ihr bei der Festsetzung der Prinzipien des Schulunterrichts keinen Ge¬
brauch machen zu können. Aus demselben Grnnde muß auch die Ansicht zurück¬
gewiesen werden, die vielfach von den Nützlichkeitsphilosophen ausgesprochen worden
ist, daß man die Jugend nur in dem unterrichten dürfe, was sie im spätern Leben
gebrauchen könne, und daß alles das als unnütze und schädliche Beschwerung
des Gehirns anzusehen sei, was später nicht wieder praktisch anzuwenden sei.


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[0323] Das Verhältnis der philosophie?zum''praktischen Leben. in der Schule erzogen und gebildet werden soll, noch von den Zielen und Zwecken, welche die Schule überhaupt erreichen kann. Denn solche Phrasen, daß man tüchtige, brauchbare und gute Menschen bilden will, sind doch gar zu allgemein und verschwommen. Wir haben es oft erlebt, daß über die Vor¬ züge der logischen Bildung des Geistes und der Bildung durch sinnliche An¬ schauung gestritten wurde. Die Verteidiger der erstern waren für den Un¬ terricht in den alten Sprachen, namentlich der lateinischen, die Gegner rühmten den naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterricht als das allein selig machende und wollten die Köpfe der Jugend vor dem schädlichen Einfluß un¬ nützer Belastung mit toten Sprachen beschützen. Aber weder die einen noch die andern wußten, daß logische Bildung des Verstandes ohne Anschauung, wenn auch nicht immer die Anschauung dnrch die fünf Sinne, gar nicht möglich sei, und daß sinnliche Anschauung ohne Thätigkeit des Verstandes gar nicht vorkommen kann, mit andren Worten, daß zu allem, was der Mensch lernt, Sinn und Verstand gehört. Seitdem man die Analyse des Erkenntnisvermögens von Kant nicht mehr zum Ausgangspunkte aller Philosophie gemacht hat — und das ist bekanntlich seit Fichtes Zeit uicht mehr geschehen — seitdem unsre Philosophen wieder für jeden unkritischen Dogmatismus zugänglich geworden sind, seitdem ist auch die Ansicht ausgebildet worden, daß sich der Verstand nicht nur an und mit der sinnlichen Anschauung übe und ausbilde, sondern daß er ganz und gar aus ihr entspringe und sich aus ihr entwickle. Ist doch das Wort Entwicklung biegsam und ge¬ schmeidig genug, um scheinbar alle Lücken unsrer Erkenntnis da auszufüllen, wo unsre klaren Begriffe aufhören. Wenn diese Theorie Recht hätte, so würde man natürlich den Verstand ganz nach Belieben ausbilden können, je nachdem man den Sinnen dieses oder jenes Anschauungsmaterial darböte. Es würde nur die Thatsache dabei vollkommen rätselhaft bleiben, daß alle Menschen dieser Erde, selbst die Blödsinnigen und Geisteskranken, soweit sie überhaupt denken, ohne Ausnahme nach denselben logischen Gesetzen denken. Man kann zwar gegen diese Gesetze verstoßen und irren, aber schließlich beruht jede Verständigung durch die Sprache, jeder Vertrag und alle Kultur auf der stillschweigenden An¬ erkennung jener logischen Gesetze, die uns Aristoteles mit vieler Mühe zu¬ sammengestellt hat. Da also die Theorie, daß die Logik sich aus der An¬ schauung erst entwickele, im Widerspruch steht mit allem, was wir sonst im allgemeinen von den logischen Gesetzen und Verstandskräftcn wissen, so werden wir von ihr bei der Festsetzung der Prinzipien des Schulunterrichts keinen Ge¬ brauch machen zu können. Aus demselben Grnnde muß auch die Ansicht zurück¬ gewiesen werden, die vielfach von den Nützlichkeitsphilosophen ausgesprochen worden ist, daß man die Jugend nur in dem unterrichten dürfe, was sie im spätern Leben gebrauchen könne, und daß alles das als unnütze und schädliche Beschwerung des Gehirns anzusehen sei, was später nicht wieder praktisch anzuwenden sei.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/323>, abgerufen am 25.08.2024.