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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Freihandelslehre in Geschichte und Wissenschaft.

Vereins gelungen. Dem wirtschaftlichen Protektionismus selbst aber erwuchs
ein Feind in den physiokratischen Ideen, die hauptsächlich von Frankreich aus¬
gingen, später von dem Schotten Adam Smith aufgenommen wurden und dann
ihren Siegeszug durch alle Kulturstaaten nahmen.

An Stelle des Schutzes der einheimischen Industrie durch möglichste Aus¬
schließung jeder ausländischen Konkurrenz, welche die Protektionisten oder Mer¬
kantilisten betrieben, lehrten die Physiokraten (Guesnay, Gonrnay, Turgot,
Mirabeau u. ni. in.) und Adam Smith natürliche Entfaltung aller wirtschaft¬
lichen Kräfte mittels absoluter Freiheit des Handels und Verkehrs und durch
Proklamirung des freien wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechtes aller ein¬
zelnen, von denen jeder durch sein wohl verstandeneseignes Interesse zur wirt¬
schaftlichsten Produktion angespornt und erzogen werde; sie betrachteten das
wirtschaftliche Leben unter den Gesichtspunkten unabänderlicher Naturgesetze, in
deren natürliches Walten menschliches Eingreifen zur Willkür werde und von
schädlichen Folgen begleitet sei. Die spätere sogenannte Freihandelsschule bildete
diese Lehre bis in ihre letzten und schärfsten Folgerungen aus.

Die Theorie der Physiokraten und Adam Smith sind indes kein selbst¬
ständiges Erzeugnis der Begründer dieser neuen wirtschaftspolitischen Richtung.
Sie sind nur eine Übertragung des Rationalismus auf das wirtschaftliche
Gebiet, jener Naturlehre, welche im vorigen Jahrhundert auf die überkommenen
religiösen und politischen Ansichten eine so zersetzende Wirkung ausgeübt hat.
Auf wirtschaftlichem Gebiete drängten die Irrtümer und Fehler des herrschenden
merkantilistischen Systems zu einer durchgreifenden Umwälzung. Der wirtschaft¬
liche Polizeistaat, das eigennützige Interesse des Staates und bevorrechteter
Stände mußten den Zusammenbruch der bestehenden Verhältnisse unvermeidlich
herbeiführen.

Die Kritik der Physiokraten gegen den Merkantilismus war lediglich eine
rationalistische. Sie erklärte das Individuum als ein von Natur und ursprüng¬
lich freies, ungebundenes und unbeschränktes Wesen, welches, wenn seinen
"natürlichen" Eigenschaften kein Zwang angethan werde, alle Kräfte und Fähig¬
keiten entfalte, die ihm von der Natur verlieben seien, woraus der natürlichste
und glücklichste Zustand aller menschlichen Lebensverhältnisse hervorgehe. Eine
derartige soziale Ordnung beruhe auf der natürlichen, von Gott vorgeschrie¬
benen Ordnung. Sie vertraten damit gegenüber der Beschränktheit des dama¬
ligen Erwerbslebens mit Entschiedenheit die Forderung, daß jeder frei und
ungehindert seinem Vorteile nachgehen könne; das persönliche Interesse werde
dabei nicht nur als Anreger der Produktion wirken -- und zwar der wirt¬
schaftlichsten, d. i. möglichst großer Erfolg mit möglichst kleinem Aufwands von
Kapital und Arbeit --, sondern anch als Bestimmungsgrund der Einschränkung
der Produktiv!,, wenn sie nicht mehr lohne, so daß jede obrigkeitliche Einwir¬
kung auf sie hinfällig würde, weil sie durch das Interesse des einzelnen am


Die Freihandelslehre in Geschichte und Wissenschaft.

Vereins gelungen. Dem wirtschaftlichen Protektionismus selbst aber erwuchs
ein Feind in den physiokratischen Ideen, die hauptsächlich von Frankreich aus¬
gingen, später von dem Schotten Adam Smith aufgenommen wurden und dann
ihren Siegeszug durch alle Kulturstaaten nahmen.

An Stelle des Schutzes der einheimischen Industrie durch möglichste Aus¬
schließung jeder ausländischen Konkurrenz, welche die Protektionisten oder Mer¬
kantilisten betrieben, lehrten die Physiokraten (Guesnay, Gonrnay, Turgot,
Mirabeau u. ni. in.) und Adam Smith natürliche Entfaltung aller wirtschaft¬
lichen Kräfte mittels absoluter Freiheit des Handels und Verkehrs und durch
Proklamirung des freien wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechtes aller ein¬
zelnen, von denen jeder durch sein wohl verstandeneseignes Interesse zur wirt¬
schaftlichsten Produktion angespornt und erzogen werde; sie betrachteten das
wirtschaftliche Leben unter den Gesichtspunkten unabänderlicher Naturgesetze, in
deren natürliches Walten menschliches Eingreifen zur Willkür werde und von
schädlichen Folgen begleitet sei. Die spätere sogenannte Freihandelsschule bildete
diese Lehre bis in ihre letzten und schärfsten Folgerungen aus.

Die Theorie der Physiokraten und Adam Smith sind indes kein selbst¬
ständiges Erzeugnis der Begründer dieser neuen wirtschaftspolitischen Richtung.
Sie sind nur eine Übertragung des Rationalismus auf das wirtschaftliche
Gebiet, jener Naturlehre, welche im vorigen Jahrhundert auf die überkommenen
religiösen und politischen Ansichten eine so zersetzende Wirkung ausgeübt hat.
Auf wirtschaftlichem Gebiete drängten die Irrtümer und Fehler des herrschenden
merkantilistischen Systems zu einer durchgreifenden Umwälzung. Der wirtschaft¬
liche Polizeistaat, das eigennützige Interesse des Staates und bevorrechteter
Stände mußten den Zusammenbruch der bestehenden Verhältnisse unvermeidlich
herbeiführen.

Die Kritik der Physiokraten gegen den Merkantilismus war lediglich eine
rationalistische. Sie erklärte das Individuum als ein von Natur und ursprüng¬
lich freies, ungebundenes und unbeschränktes Wesen, welches, wenn seinen
„natürlichen" Eigenschaften kein Zwang angethan werde, alle Kräfte und Fähig¬
keiten entfalte, die ihm von der Natur verlieben seien, woraus der natürlichste
und glücklichste Zustand aller menschlichen Lebensverhältnisse hervorgehe. Eine
derartige soziale Ordnung beruhe auf der natürlichen, von Gott vorgeschrie¬
benen Ordnung. Sie vertraten damit gegenüber der Beschränktheit des dama¬
ligen Erwerbslebens mit Entschiedenheit die Forderung, daß jeder frei und
ungehindert seinem Vorteile nachgehen könne; das persönliche Interesse werde
dabei nicht nur als Anreger der Produktion wirken — und zwar der wirt¬
schaftlichsten, d. i. möglichst großer Erfolg mit möglichst kleinem Aufwands von
Kapital und Arbeit —, sondern anch als Bestimmungsgrund der Einschränkung
der Produktiv!,, wenn sie nicht mehr lohne, so daß jede obrigkeitliche Einwir¬
kung auf sie hinfällig würde, weil sie durch das Interesse des einzelnen am


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[0215] Die Freihandelslehre in Geschichte und Wissenschaft. Vereins gelungen. Dem wirtschaftlichen Protektionismus selbst aber erwuchs ein Feind in den physiokratischen Ideen, die hauptsächlich von Frankreich aus¬ gingen, später von dem Schotten Adam Smith aufgenommen wurden und dann ihren Siegeszug durch alle Kulturstaaten nahmen. An Stelle des Schutzes der einheimischen Industrie durch möglichste Aus¬ schließung jeder ausländischen Konkurrenz, welche die Protektionisten oder Mer¬ kantilisten betrieben, lehrten die Physiokraten (Guesnay, Gonrnay, Turgot, Mirabeau u. ni. in.) und Adam Smith natürliche Entfaltung aller wirtschaft¬ lichen Kräfte mittels absoluter Freiheit des Handels und Verkehrs und durch Proklamirung des freien wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechtes aller ein¬ zelnen, von denen jeder durch sein wohl verstandeneseignes Interesse zur wirt¬ schaftlichsten Produktion angespornt und erzogen werde; sie betrachteten das wirtschaftliche Leben unter den Gesichtspunkten unabänderlicher Naturgesetze, in deren natürliches Walten menschliches Eingreifen zur Willkür werde und von schädlichen Folgen begleitet sei. Die spätere sogenannte Freihandelsschule bildete diese Lehre bis in ihre letzten und schärfsten Folgerungen aus. Die Theorie der Physiokraten und Adam Smith sind indes kein selbst¬ ständiges Erzeugnis der Begründer dieser neuen wirtschaftspolitischen Richtung. Sie sind nur eine Übertragung des Rationalismus auf das wirtschaftliche Gebiet, jener Naturlehre, welche im vorigen Jahrhundert auf die überkommenen religiösen und politischen Ansichten eine so zersetzende Wirkung ausgeübt hat. Auf wirtschaftlichem Gebiete drängten die Irrtümer und Fehler des herrschenden merkantilistischen Systems zu einer durchgreifenden Umwälzung. Der wirtschaft¬ liche Polizeistaat, das eigennützige Interesse des Staates und bevorrechteter Stände mußten den Zusammenbruch der bestehenden Verhältnisse unvermeidlich herbeiführen. Die Kritik der Physiokraten gegen den Merkantilismus war lediglich eine rationalistische. Sie erklärte das Individuum als ein von Natur und ursprüng¬ lich freies, ungebundenes und unbeschränktes Wesen, welches, wenn seinen „natürlichen" Eigenschaften kein Zwang angethan werde, alle Kräfte und Fähig¬ keiten entfalte, die ihm von der Natur verlieben seien, woraus der natürlichste und glücklichste Zustand aller menschlichen Lebensverhältnisse hervorgehe. Eine derartige soziale Ordnung beruhe auf der natürlichen, von Gott vorgeschrie¬ benen Ordnung. Sie vertraten damit gegenüber der Beschränktheit des dama¬ ligen Erwerbslebens mit Entschiedenheit die Forderung, daß jeder frei und ungehindert seinem Vorteile nachgehen könne; das persönliche Interesse werde dabei nicht nur als Anreger der Produktion wirken — und zwar der wirt¬ schaftlichsten, d. i. möglichst großer Erfolg mit möglichst kleinem Aufwands von Kapital und Arbeit —, sondern anch als Bestimmungsgrund der Einschränkung der Produktiv!,, wenn sie nicht mehr lohne, so daß jede obrigkeitliche Einwir¬ kung auf sie hinfällig würde, weil sie durch das Interesse des einzelnen am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/215>, abgerufen am 25.08.2024.