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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Lrkennens.

dem Mikroskop und mit dem anatomischen Messer den Geist und seine Bethä¬
tigung sucht, wird das nie finden, was nur in den Tiefen des eignen Innern
gefunden werden kann, da aber auch ganz sicher gefunden wird, wenn einer es
sucht, mag das ein Gelehrter oder Ungelehrter, ein hochgebildeter oder ein
schlichter Verstand sein. Denn hier, wo sichs um den ewigen Wert der Men¬
schenseele handelt, sind wir alle gleich geschickt, zu finden und zu erhalten; in
seinem Innern begegnet jeder den Thatsachen einer sittlichen Welt, deren
erste das Vermögen der Freiheit ist. Lotze sagt einmal (im Mikrokosmos I,
288), unter allen Verirrungen des menschlichen Geistes sei ihm diese immer als
die seltsamste erschienen, "daß es dahin kommen konnte, sein eignes Wesen,
welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln, oder es sich als Erzeugnis
einer äußern Natur wieder schenken zu lassen, die wir nur aus zweiter Hand,
nur durch das vermittelnde Wissen eben des Geistes kennen, den wir leugneten."
Es kommt darauf an, was man unter des Menschen "eignem Wesen" versteht.
Wer das Vermögen der Freiheit als das eigenste Wesen des Menschen aus¬
sagt, wird sich über das Leugnen der Unsterblichkeit -- denn das ist es
doch im Grunde, was Lotze hier meint -- nicht verwundern. Vielmehr müßte
man sich wundern, wenn das Bewußtsein der Unsterblichkeit bei dem Mangel
des Gebrauches unsers Freiheitsvermögens vorhanden wäre. Wie aber das
Innewerden unsers unsterblichen Wesens nicht abhängt von irgend einem höhern
oder tiefern Grade unsers Wissens, so ist auch das Wissen selbst für die Gabe
der Unsterblichkeit nicht von Einfluß. Selbst das Leugnen derselben ist bei vielen
nur ein Bekenntnis, daß sie sich das Problem nicht logisch zurecht legen können.
Wer ein solches logisches Zurechtlegen verlangt, der verlangt überhaupt etwas
Unmögliches. An keinem Punkte unsers Forschens zeigt es sich mehr, daß die
Logik nicht vor Irrtum schützt, als bei diesen Fragen nach der Freiheit und
der Unsterblichkeit. Das ist auch sehr erklärlich. Unser logisches Denken hat
immer seine Voraussetzungen in Grundanschauungen; irren wir in den Prin¬
zipien, so müssen wir bei aller Logik auch in den Folgen irren. Einer der
schwersten Irrtümer ist aber der, von dem wir in diesem Aufsatze gesprochen
haben, keine Grenzen für das naturwissenschaftliche Erkennen anzunehmen, dieses
vielmehr als ein letztes, absolutes anzusehen. Erkenntnis der Grenzen heißt Er¬
kenntnis der Unterschiede, hier des Unterschiedes einer natürlich-materiellen Welt
von einer Welt des Geistes und der Freiheit.

Wir schließen diese Betrachtung mit einem schönen Worte I. G. Fichtes
(Bestimmung des Menschen, Werke II. 319): "Es ist gar kein möglicher Ge¬
danke, daß die Natur ein Leben vernichten sollte, das aus ihr nicht stammt,
die Natur, um deren willen nicht ich, sondern die um meinetwillen lebt."




Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Lrkennens.

dem Mikroskop und mit dem anatomischen Messer den Geist und seine Bethä¬
tigung sucht, wird das nie finden, was nur in den Tiefen des eignen Innern
gefunden werden kann, da aber auch ganz sicher gefunden wird, wenn einer es
sucht, mag das ein Gelehrter oder Ungelehrter, ein hochgebildeter oder ein
schlichter Verstand sein. Denn hier, wo sichs um den ewigen Wert der Men¬
schenseele handelt, sind wir alle gleich geschickt, zu finden und zu erhalten; in
seinem Innern begegnet jeder den Thatsachen einer sittlichen Welt, deren
erste das Vermögen der Freiheit ist. Lotze sagt einmal (im Mikrokosmos I,
288), unter allen Verirrungen des menschlichen Geistes sei ihm diese immer als
die seltsamste erschienen, „daß es dahin kommen konnte, sein eignes Wesen,
welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln, oder es sich als Erzeugnis
einer äußern Natur wieder schenken zu lassen, die wir nur aus zweiter Hand,
nur durch das vermittelnde Wissen eben des Geistes kennen, den wir leugneten."
Es kommt darauf an, was man unter des Menschen „eignem Wesen" versteht.
Wer das Vermögen der Freiheit als das eigenste Wesen des Menschen aus¬
sagt, wird sich über das Leugnen der Unsterblichkeit — denn das ist es
doch im Grunde, was Lotze hier meint — nicht verwundern. Vielmehr müßte
man sich wundern, wenn das Bewußtsein der Unsterblichkeit bei dem Mangel
des Gebrauches unsers Freiheitsvermögens vorhanden wäre. Wie aber das
Innewerden unsers unsterblichen Wesens nicht abhängt von irgend einem höhern
oder tiefern Grade unsers Wissens, so ist auch das Wissen selbst für die Gabe
der Unsterblichkeit nicht von Einfluß. Selbst das Leugnen derselben ist bei vielen
nur ein Bekenntnis, daß sie sich das Problem nicht logisch zurecht legen können.
Wer ein solches logisches Zurechtlegen verlangt, der verlangt überhaupt etwas
Unmögliches. An keinem Punkte unsers Forschens zeigt es sich mehr, daß die
Logik nicht vor Irrtum schützt, als bei diesen Fragen nach der Freiheit und
der Unsterblichkeit. Das ist auch sehr erklärlich. Unser logisches Denken hat
immer seine Voraussetzungen in Grundanschauungen; irren wir in den Prin¬
zipien, so müssen wir bei aller Logik auch in den Folgen irren. Einer der
schwersten Irrtümer ist aber der, von dem wir in diesem Aufsatze gesprochen
haben, keine Grenzen für das naturwissenschaftliche Erkennen anzunehmen, dieses
vielmehr als ein letztes, absolutes anzusehen. Erkenntnis der Grenzen heißt Er¬
kenntnis der Unterschiede, hier des Unterschiedes einer natürlich-materiellen Welt
von einer Welt des Geistes und der Freiheit.

Wir schließen diese Betrachtung mit einem schönen Worte I. G. Fichtes
(Bestimmung des Menschen, Werke II. 319): „Es ist gar kein möglicher Ge¬
danke, daß die Natur ein Leben vernichten sollte, das aus ihr nicht stammt,
die Natur, um deren willen nicht ich, sondern die um meinetwillen lebt."




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[0171] Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Lrkennens. dem Mikroskop und mit dem anatomischen Messer den Geist und seine Bethä¬ tigung sucht, wird das nie finden, was nur in den Tiefen des eignen Innern gefunden werden kann, da aber auch ganz sicher gefunden wird, wenn einer es sucht, mag das ein Gelehrter oder Ungelehrter, ein hochgebildeter oder ein schlichter Verstand sein. Denn hier, wo sichs um den ewigen Wert der Men¬ schenseele handelt, sind wir alle gleich geschickt, zu finden und zu erhalten; in seinem Innern begegnet jeder den Thatsachen einer sittlichen Welt, deren erste das Vermögen der Freiheit ist. Lotze sagt einmal (im Mikrokosmos I, 288), unter allen Verirrungen des menschlichen Geistes sei ihm diese immer als die seltsamste erschienen, „daß es dahin kommen konnte, sein eignes Wesen, welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln, oder es sich als Erzeugnis einer äußern Natur wieder schenken zu lassen, die wir nur aus zweiter Hand, nur durch das vermittelnde Wissen eben des Geistes kennen, den wir leugneten." Es kommt darauf an, was man unter des Menschen „eignem Wesen" versteht. Wer das Vermögen der Freiheit als das eigenste Wesen des Menschen aus¬ sagt, wird sich über das Leugnen der Unsterblichkeit — denn das ist es doch im Grunde, was Lotze hier meint — nicht verwundern. Vielmehr müßte man sich wundern, wenn das Bewußtsein der Unsterblichkeit bei dem Mangel des Gebrauches unsers Freiheitsvermögens vorhanden wäre. Wie aber das Innewerden unsers unsterblichen Wesens nicht abhängt von irgend einem höhern oder tiefern Grade unsers Wissens, so ist auch das Wissen selbst für die Gabe der Unsterblichkeit nicht von Einfluß. Selbst das Leugnen derselben ist bei vielen nur ein Bekenntnis, daß sie sich das Problem nicht logisch zurecht legen können. Wer ein solches logisches Zurechtlegen verlangt, der verlangt überhaupt etwas Unmögliches. An keinem Punkte unsers Forschens zeigt es sich mehr, daß die Logik nicht vor Irrtum schützt, als bei diesen Fragen nach der Freiheit und der Unsterblichkeit. Das ist auch sehr erklärlich. Unser logisches Denken hat immer seine Voraussetzungen in Grundanschauungen; irren wir in den Prin¬ zipien, so müssen wir bei aller Logik auch in den Folgen irren. Einer der schwersten Irrtümer ist aber der, von dem wir in diesem Aufsatze gesprochen haben, keine Grenzen für das naturwissenschaftliche Erkennen anzunehmen, dieses vielmehr als ein letztes, absolutes anzusehen. Erkenntnis der Grenzen heißt Er¬ kenntnis der Unterschiede, hier des Unterschiedes einer natürlich-materiellen Welt von einer Welt des Geistes und der Freiheit. Wir schließen diese Betrachtung mit einem schönen Worte I. G. Fichtes (Bestimmung des Menschen, Werke II. 319): „Es ist gar kein möglicher Ge¬ danke, daß die Natur ein Leben vernichten sollte, das aus ihr nicht stammt, die Natur, um deren willen nicht ich, sondern die um meinetwillen lebt."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/171>, abgerufen am 22.07.2024.