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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Munckers Rlopstockbiographie.

diesem Teile seiner Aufgabe mit besondrer Feinheit gerecht geworden. Liebevoll
liest er aus dem überschwä'uglichen, abstrakt pathetischen Tone der Oden die
Laute wahren, einfacheren Gefühls heraus, feinsinnig unterscheidet er die aus
lebendiger Anschauung und unmittelbarer Begeisterung erwachsenden Züge der
Klopstockscher Lyrik von den künstlicheren und refleltirteren, mit sicherem Umblick
ermißt er an der Wirkung berühmter Klopstockscher Gedichte auf die Zeitgenossen,
wie weit der Dichter, der uns Heutigen so überwiegend unsinnlich, rhetorisch
dünkt, seinen Zeitgenossen in der Aussprache natürlicher Regungen und wahrer
Empfindungen voraus war, und vergißt die Anfechtungen nicht, welche Klopstock
deshalb zu bestehen hatte. Mit gleicher verständnisvoller Feinheit ist die Unter¬
suchung über die Schwierigkeiten, mit denen Klopstock beim EntWurfe seines
großen Gedichtes kämpfte, und der Nachweis geführt, welche Summe von Er¬
findungskraft, trotz der rein lyrischen Haltung, der "Messiade" innewohnt. Voll¬
kommen richtig hebt Muncker hervor, daß der poetische Wert des Gedichtes vor
allem in den zahlreichen Episoden und Nebenfiguren liegt, daß in ihnen sich die
Beziehungen auf das eigne Leben und Wesen des Verfassers wie auf die geistigen
Strömungen des Jahrhunderts finden. Daraus folgt, daß man sich entweder
in das ganze Gedicht hineinlesen oder auf Kenntnisnahme mit Bedacht ausge¬
wählter schöner Stellen beschränken muß, daß es aber unmöglich ist, etwa durch
Ausscheidung der Episoden, durch Zurückführung der Empfindung auf die ein¬
fache biblische Handlung (die bekanntlich bei Klopstock oft genug in den Hinter¬
grund tritt) das Gedicht neu zu beleben. Auch dieser Versuch ist in jüngster
Zeit einmal,*) voraussichtlich fruchtlos, gemacht worden.

Wird die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung für die Gegenwart die
Erscheinung eines Dichters wie Klopstock noch haben könne und warum wir
unser Leben mit der Kenntnis und Erkenntnis so nichtiger, wesenloser Dinge
beschweren sollen, so lautet die Autwort einfach, daß keiner, welcher das für unsre
Sprache geleistet hat, was Klopstock zu leisten vergönnt war, keiner, welcher ein
Führer zu deu Höhen unsrer Kultur gewesen ist wie Klopstock, für eine höhere
Betrachtung der Dinge und für den warmen, wahrhaft lebendigen Anteil am
Schicksal unsrer Sprache und unsers Volkes je "nichtig" und "wesenlos" werden
kann. Mit den Verfechtern der brutalen Lehre, daß niemand Recht habe als
der Lebende, und daß uns die Leiden und Entzückungen unsrer Urgroßväter
nichts angehen, kann weder der Historiker noch derjenige rechten, dessen Bildung
und Sinnesweise an Entwicklungen und Menschengestalten teilnimmt, welche
nicht von heute und gestern sind. Für heute liegt in einer Erscheinung wie
der Klopstocks immerhin eine still mahnende Kraft. Es ist wahr, daß diese das
erste Morgenrot unsrer heutigen Kunst, unsrer Lebensempfindung heraufführeuden



*) Der Messias von Friedrich Gottlieb Klopstock im Auszuge. Bearbeitet vou M. Ehren-
hauß. Wittenberg, P, Wunschmmni, 1884.
Munckers Rlopstockbiographie.

diesem Teile seiner Aufgabe mit besondrer Feinheit gerecht geworden. Liebevoll
liest er aus dem überschwä'uglichen, abstrakt pathetischen Tone der Oden die
Laute wahren, einfacheren Gefühls heraus, feinsinnig unterscheidet er die aus
lebendiger Anschauung und unmittelbarer Begeisterung erwachsenden Züge der
Klopstockscher Lyrik von den künstlicheren und refleltirteren, mit sicherem Umblick
ermißt er an der Wirkung berühmter Klopstockscher Gedichte auf die Zeitgenossen,
wie weit der Dichter, der uns Heutigen so überwiegend unsinnlich, rhetorisch
dünkt, seinen Zeitgenossen in der Aussprache natürlicher Regungen und wahrer
Empfindungen voraus war, und vergißt die Anfechtungen nicht, welche Klopstock
deshalb zu bestehen hatte. Mit gleicher verständnisvoller Feinheit ist die Unter¬
suchung über die Schwierigkeiten, mit denen Klopstock beim EntWurfe seines
großen Gedichtes kämpfte, und der Nachweis geführt, welche Summe von Er¬
findungskraft, trotz der rein lyrischen Haltung, der „Messiade" innewohnt. Voll¬
kommen richtig hebt Muncker hervor, daß der poetische Wert des Gedichtes vor
allem in den zahlreichen Episoden und Nebenfiguren liegt, daß in ihnen sich die
Beziehungen auf das eigne Leben und Wesen des Verfassers wie auf die geistigen
Strömungen des Jahrhunderts finden. Daraus folgt, daß man sich entweder
in das ganze Gedicht hineinlesen oder auf Kenntnisnahme mit Bedacht ausge¬
wählter schöner Stellen beschränken muß, daß es aber unmöglich ist, etwa durch
Ausscheidung der Episoden, durch Zurückführung der Empfindung auf die ein¬
fache biblische Handlung (die bekanntlich bei Klopstock oft genug in den Hinter¬
grund tritt) das Gedicht neu zu beleben. Auch dieser Versuch ist in jüngster
Zeit einmal,*) voraussichtlich fruchtlos, gemacht worden.

Wird die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung für die Gegenwart die
Erscheinung eines Dichters wie Klopstock noch haben könne und warum wir
unser Leben mit der Kenntnis und Erkenntnis so nichtiger, wesenloser Dinge
beschweren sollen, so lautet die Autwort einfach, daß keiner, welcher das für unsre
Sprache geleistet hat, was Klopstock zu leisten vergönnt war, keiner, welcher ein
Führer zu deu Höhen unsrer Kultur gewesen ist wie Klopstock, für eine höhere
Betrachtung der Dinge und für den warmen, wahrhaft lebendigen Anteil am
Schicksal unsrer Sprache und unsers Volkes je „nichtig" und „wesenlos" werden
kann. Mit den Verfechtern der brutalen Lehre, daß niemand Recht habe als
der Lebende, und daß uns die Leiden und Entzückungen unsrer Urgroßväter
nichts angehen, kann weder der Historiker noch derjenige rechten, dessen Bildung
und Sinnesweise an Entwicklungen und Menschengestalten teilnimmt, welche
nicht von heute und gestern sind. Für heute liegt in einer Erscheinung wie
der Klopstocks immerhin eine still mahnende Kraft. Es ist wahr, daß diese das
erste Morgenrot unsrer heutigen Kunst, unsrer Lebensempfindung heraufführeuden



*) Der Messias von Friedrich Gottlieb Klopstock im Auszuge. Bearbeitet vou M. Ehren-
hauß. Wittenberg, P, Wunschmmni, 1884.
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[0536] Munckers Rlopstockbiographie. diesem Teile seiner Aufgabe mit besondrer Feinheit gerecht geworden. Liebevoll liest er aus dem überschwä'uglichen, abstrakt pathetischen Tone der Oden die Laute wahren, einfacheren Gefühls heraus, feinsinnig unterscheidet er die aus lebendiger Anschauung und unmittelbarer Begeisterung erwachsenden Züge der Klopstockscher Lyrik von den künstlicheren und refleltirteren, mit sicherem Umblick ermißt er an der Wirkung berühmter Klopstockscher Gedichte auf die Zeitgenossen, wie weit der Dichter, der uns Heutigen so überwiegend unsinnlich, rhetorisch dünkt, seinen Zeitgenossen in der Aussprache natürlicher Regungen und wahrer Empfindungen voraus war, und vergißt die Anfechtungen nicht, welche Klopstock deshalb zu bestehen hatte. Mit gleicher verständnisvoller Feinheit ist die Unter¬ suchung über die Schwierigkeiten, mit denen Klopstock beim EntWurfe seines großen Gedichtes kämpfte, und der Nachweis geführt, welche Summe von Er¬ findungskraft, trotz der rein lyrischen Haltung, der „Messiade" innewohnt. Voll¬ kommen richtig hebt Muncker hervor, daß der poetische Wert des Gedichtes vor allem in den zahlreichen Episoden und Nebenfiguren liegt, daß in ihnen sich die Beziehungen auf das eigne Leben und Wesen des Verfassers wie auf die geistigen Strömungen des Jahrhunderts finden. Daraus folgt, daß man sich entweder in das ganze Gedicht hineinlesen oder auf Kenntnisnahme mit Bedacht ausge¬ wählter schöner Stellen beschränken muß, daß es aber unmöglich ist, etwa durch Ausscheidung der Episoden, durch Zurückführung der Empfindung auf die ein¬ fache biblische Handlung (die bekanntlich bei Klopstock oft genug in den Hinter¬ grund tritt) das Gedicht neu zu beleben. Auch dieser Versuch ist in jüngster Zeit einmal,*) voraussichtlich fruchtlos, gemacht worden. Wird die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung für die Gegenwart die Erscheinung eines Dichters wie Klopstock noch haben könne und warum wir unser Leben mit der Kenntnis und Erkenntnis so nichtiger, wesenloser Dinge beschweren sollen, so lautet die Autwort einfach, daß keiner, welcher das für unsre Sprache geleistet hat, was Klopstock zu leisten vergönnt war, keiner, welcher ein Führer zu deu Höhen unsrer Kultur gewesen ist wie Klopstock, für eine höhere Betrachtung der Dinge und für den warmen, wahrhaft lebendigen Anteil am Schicksal unsrer Sprache und unsers Volkes je „nichtig" und „wesenlos" werden kann. Mit den Verfechtern der brutalen Lehre, daß niemand Recht habe als der Lebende, und daß uns die Leiden und Entzückungen unsrer Urgroßväter nichts angehen, kann weder der Historiker noch derjenige rechten, dessen Bildung und Sinnesweise an Entwicklungen und Menschengestalten teilnimmt, welche nicht von heute und gestern sind. Für heute liegt in einer Erscheinung wie der Klopstocks immerhin eine still mahnende Kraft. Es ist wahr, daß diese das erste Morgenrot unsrer heutigen Kunst, unsrer Lebensempfindung heraufführeuden *) Der Messias von Friedrich Gottlieb Klopstock im Auszuge. Bearbeitet vou M. Ehren- hauß. Wittenberg, P, Wunschmmni, 1884.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/536>, abgerufen am 27.07.2024.