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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Wiener Litteratur.

man ihn unter den gegenwärtig schreibenden vielleicht in ganz Deutschland
nicht findet. Er erinnert mit dieser Fähigkeit an den Engländer Thackeray,
und anch noch in andrer Beziehung. Denn merkwürdigerweise ist Schwarz¬
kopfs hellseherischer Spürsinn fast ausschließlich nach einer einzigen Richtung
hin entwickelt, nach der Richtung des Bösen in der Welt. Was er anblickt,
sei es ein Kleid oder ein Mädchcngesicht, eine Zimmereinrichtung oder ein
schwankender Menschenwille, eine gesellschaftliche Einrichtung oder ein verliebtes
Pärchen: immer und überall hat er auf den ersten Blick wie mit Scheidewasser
nicht das Gold, sondern die Schlacke aus den Dingen herausgefordert, die
Lächerlichkeit, die Rohheit, die Selbstsucht, die Schwäche, das Unglück, niemals
aber die Zufriedenheit, die Schönheit, die Freude der Menschen an sich selbst
oder an der Welt. Und wenn man näher zusieht und erkennt, daß Schwarz¬
kopfs scharfe kritische Beobachtung bei ihm selbst den Anfang gemacht hat, daß
er auch sich selbst keineswegs schont und sich so gut mephistophelisch irvnisirt
wie die andern, dann erhält man einen ganz merkwürdig traurigen Eindruck
von diesem litterarischen Original, welches er ohne Zweifel so gut ist, wie Bo-
gumil Goltz eines in seiner Art war. Ein Mann nach dem Herzen der Frau
Rat Goethe und ihres Sohnes Wolfgang, welche die Freudigkeit am Leben, das
gesunde Maß von Selbstachtung als Grundbedingung einer erfreulichen Mcmnes-
erschcinung hinstellten, wäre dieser Gustav Schwarzkopf keineswegs. Denn gerade
diese Lebensfreudigkeit, die seinen ungewöhnlichen Gaben die rechte Kraft ver¬
leihen könnte, fehlt ihm fast ganz. Er liebt nichts, er liebt nicht sich selbst,
er liebt nicht die Weiber, nicht die Männer, nicht die Wissenschaft, nicht die
Natur. Man findet in seinem ganzen Buche nicht ein einziges Landschafts¬
bildchen, und fast könnte man vermuten, Schwarzkopf habe nie einen schönen
Sonnenuntergang oder eine berauschende Alpengegend gesehen. Seine zuweilen
erstaunlich richtigen Beobachtungen teilt er alle so eintönig, so formlos, so
müde mit, daß man ihnen nur selten ein Gefühl von eigentlichem Zorn oder
von teilnehmenden Mitgefühl an den Dingen, die er bespricht, anmerkt. Und
weil ihm die Liebe fehlt, fehlt ihm auch die Poesie. Denn um künstlerisch
wirken zu können, muß der Künstler in gewissem Sinne auch seinen satirischen
Helden lieben, er muß sich in seine Seele versetzen und mit ihm genießen und
leiden, damit er Leben annehme. Schwarzkopf aber kaun nie seine Nüchternheit
überwinden, er vergißt sich niemals, er bleibt immerfort auf dem strengen
Moralistenstandpuukt, darum kennt er nicht die Süßigkeit der Selbstvergessenheit,
nicht die Schönheit selbst der Sünde, die doch sonst nicht verführerisch werden
könnte, nicht den Taumel im Laster, dessen häßliche Seiten er mit pedantischer
Genauigkeit darstellt. Sein Buch ist vielfach im Geiste des Naturalismus
gehalten, aber weil es so ganz Verstandesarbeit ist und so aller Sinnlichkeit
bar, ist es nicht bloß nicht gefährlich, sondern auch langweilig, trotz der vielen
richtigen, neuen Beobachtungen, tiefgrüblerischen psychologischen Analysen und


Wiener Litteratur.

man ihn unter den gegenwärtig schreibenden vielleicht in ganz Deutschland
nicht findet. Er erinnert mit dieser Fähigkeit an den Engländer Thackeray,
und anch noch in andrer Beziehung. Denn merkwürdigerweise ist Schwarz¬
kopfs hellseherischer Spürsinn fast ausschließlich nach einer einzigen Richtung
hin entwickelt, nach der Richtung des Bösen in der Welt. Was er anblickt,
sei es ein Kleid oder ein Mädchcngesicht, eine Zimmereinrichtung oder ein
schwankender Menschenwille, eine gesellschaftliche Einrichtung oder ein verliebtes
Pärchen: immer und überall hat er auf den ersten Blick wie mit Scheidewasser
nicht das Gold, sondern die Schlacke aus den Dingen herausgefordert, die
Lächerlichkeit, die Rohheit, die Selbstsucht, die Schwäche, das Unglück, niemals
aber die Zufriedenheit, die Schönheit, die Freude der Menschen an sich selbst
oder an der Welt. Und wenn man näher zusieht und erkennt, daß Schwarz¬
kopfs scharfe kritische Beobachtung bei ihm selbst den Anfang gemacht hat, daß
er auch sich selbst keineswegs schont und sich so gut mephistophelisch irvnisirt
wie die andern, dann erhält man einen ganz merkwürdig traurigen Eindruck
von diesem litterarischen Original, welches er ohne Zweifel so gut ist, wie Bo-
gumil Goltz eines in seiner Art war. Ein Mann nach dem Herzen der Frau
Rat Goethe und ihres Sohnes Wolfgang, welche die Freudigkeit am Leben, das
gesunde Maß von Selbstachtung als Grundbedingung einer erfreulichen Mcmnes-
erschcinung hinstellten, wäre dieser Gustav Schwarzkopf keineswegs. Denn gerade
diese Lebensfreudigkeit, die seinen ungewöhnlichen Gaben die rechte Kraft ver¬
leihen könnte, fehlt ihm fast ganz. Er liebt nichts, er liebt nicht sich selbst,
er liebt nicht die Weiber, nicht die Männer, nicht die Wissenschaft, nicht die
Natur. Man findet in seinem ganzen Buche nicht ein einziges Landschafts¬
bildchen, und fast könnte man vermuten, Schwarzkopf habe nie einen schönen
Sonnenuntergang oder eine berauschende Alpengegend gesehen. Seine zuweilen
erstaunlich richtigen Beobachtungen teilt er alle so eintönig, so formlos, so
müde mit, daß man ihnen nur selten ein Gefühl von eigentlichem Zorn oder
von teilnehmenden Mitgefühl an den Dingen, die er bespricht, anmerkt. Und
weil ihm die Liebe fehlt, fehlt ihm auch die Poesie. Denn um künstlerisch
wirken zu können, muß der Künstler in gewissem Sinne auch seinen satirischen
Helden lieben, er muß sich in seine Seele versetzen und mit ihm genießen und
leiden, damit er Leben annehme. Schwarzkopf aber kaun nie seine Nüchternheit
überwinden, er vergißt sich niemals, er bleibt immerfort auf dem strengen
Moralistenstandpuukt, darum kennt er nicht die Süßigkeit der Selbstvergessenheit,
nicht die Schönheit selbst der Sünde, die doch sonst nicht verführerisch werden
könnte, nicht den Taumel im Laster, dessen häßliche Seiten er mit pedantischer
Genauigkeit darstellt. Sein Buch ist vielfach im Geiste des Naturalismus
gehalten, aber weil es so ganz Verstandesarbeit ist und so aller Sinnlichkeit
bar, ist es nicht bloß nicht gefährlich, sondern auch langweilig, trotz der vielen
richtigen, neuen Beobachtungen, tiefgrüblerischen psychologischen Analysen und


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[0493] Wiener Litteratur. man ihn unter den gegenwärtig schreibenden vielleicht in ganz Deutschland nicht findet. Er erinnert mit dieser Fähigkeit an den Engländer Thackeray, und anch noch in andrer Beziehung. Denn merkwürdigerweise ist Schwarz¬ kopfs hellseherischer Spürsinn fast ausschließlich nach einer einzigen Richtung hin entwickelt, nach der Richtung des Bösen in der Welt. Was er anblickt, sei es ein Kleid oder ein Mädchcngesicht, eine Zimmereinrichtung oder ein schwankender Menschenwille, eine gesellschaftliche Einrichtung oder ein verliebtes Pärchen: immer und überall hat er auf den ersten Blick wie mit Scheidewasser nicht das Gold, sondern die Schlacke aus den Dingen herausgefordert, die Lächerlichkeit, die Rohheit, die Selbstsucht, die Schwäche, das Unglück, niemals aber die Zufriedenheit, die Schönheit, die Freude der Menschen an sich selbst oder an der Welt. Und wenn man näher zusieht und erkennt, daß Schwarz¬ kopfs scharfe kritische Beobachtung bei ihm selbst den Anfang gemacht hat, daß er auch sich selbst keineswegs schont und sich so gut mephistophelisch irvnisirt wie die andern, dann erhält man einen ganz merkwürdig traurigen Eindruck von diesem litterarischen Original, welches er ohne Zweifel so gut ist, wie Bo- gumil Goltz eines in seiner Art war. Ein Mann nach dem Herzen der Frau Rat Goethe und ihres Sohnes Wolfgang, welche die Freudigkeit am Leben, das gesunde Maß von Selbstachtung als Grundbedingung einer erfreulichen Mcmnes- erschcinung hinstellten, wäre dieser Gustav Schwarzkopf keineswegs. Denn gerade diese Lebensfreudigkeit, die seinen ungewöhnlichen Gaben die rechte Kraft ver¬ leihen könnte, fehlt ihm fast ganz. Er liebt nichts, er liebt nicht sich selbst, er liebt nicht die Weiber, nicht die Männer, nicht die Wissenschaft, nicht die Natur. Man findet in seinem ganzen Buche nicht ein einziges Landschafts¬ bildchen, und fast könnte man vermuten, Schwarzkopf habe nie einen schönen Sonnenuntergang oder eine berauschende Alpengegend gesehen. Seine zuweilen erstaunlich richtigen Beobachtungen teilt er alle so eintönig, so formlos, so müde mit, daß man ihnen nur selten ein Gefühl von eigentlichem Zorn oder von teilnehmenden Mitgefühl an den Dingen, die er bespricht, anmerkt. Und weil ihm die Liebe fehlt, fehlt ihm auch die Poesie. Denn um künstlerisch wirken zu können, muß der Künstler in gewissem Sinne auch seinen satirischen Helden lieben, er muß sich in seine Seele versetzen und mit ihm genießen und leiden, damit er Leben annehme. Schwarzkopf aber kaun nie seine Nüchternheit überwinden, er vergißt sich niemals, er bleibt immerfort auf dem strengen Moralistenstandpuukt, darum kennt er nicht die Süßigkeit der Selbstvergessenheit, nicht die Schönheit selbst der Sünde, die doch sonst nicht verführerisch werden könnte, nicht den Taumel im Laster, dessen häßliche Seiten er mit pedantischer Genauigkeit darstellt. Sein Buch ist vielfach im Geiste des Naturalismus gehalten, aber weil es so ganz Verstandesarbeit ist und so aller Sinnlichkeit bar, ist es nicht bloß nicht gefährlich, sondern auch langweilig, trotz der vielen richtigen, neuen Beobachtungen, tiefgrüblerischen psychologischen Analysen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/493>, abgerufen am 01.09.2024.