Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.Wiener Litteratur. in der sittlichen Auffassung, der nicht wegzuleugnen ist, der sich vor unsern So weit Leonie, die als Weib nicht besser sein will als die Männer ihrer Wiener Litteratur. in der sittlichen Auffassung, der nicht wegzuleugnen ist, der sich vor unsern So weit Leonie, die als Weib nicht besser sein will als die Männer ihrer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0491" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203268"/> <fw type="header" place="top"> Wiener Litteratur.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1530" prev="#ID_1529"> in der sittlichen Auffassung, der nicht wegzuleugnen ist, der sich vor unsern<lb/> Angen vollzieht. Mit jedem Tage wird diese Strömung mächtiger, reißt immer<lb/> mehr Leute in ihrem Wirbel fort, und ich gestehe es, auch ich bin zu schwach,<lb/> ihr Widerstand zu leisten."</p><lb/> <p xml:id="ID_1531" next="#ID_1532"> So weit Leonie, die als Weib nicht besser sein will als die Männer ihrer<lb/> Gesellschaft, die auch mit der „Anständigkeit" sich begnügt und einen Vorteil<lb/> nicht unbenutzt lassen kann, wenn auch andre die Kosten tragen. Sie ist die<lb/> Tochter eines reichen „Gründers," der aber von dem Sturme des großen<lb/> Börsenkrachs im Jahre 1873 vernichtet wurde, und seit sieben Jahren die<lb/> Gattin eines braven, tüchtigen Mannes, des vielbeschäftigten Arztes Eder in<lb/> Wien. Sie hat ihren Mann ans romantischer Neigung geheiratet, obgleich er<lb/> damals ein armer Hauslehrer war und sie weit vorteilhaftere Partien hätte<lb/> machen können. Der nüchterne Ernst ihres bescheidenen Gatten befriedigt aber<lb/> ihren genußsüchtigen Sinn nicht. Sie will glänzen, sie will von sich reden<lb/> machen, sie will in allen Dingen als die erste ihres Geschlechts gelten, sie ist<lb/> eine geborne Theaterprinzessin, die ihren Beruf verfehlt hat, sie ist unglücklich<lb/> darüber, nicht als die geistreiche Dame gelten zu können, die sie ist. Noch<lb/> steht sie im vollen Glänze ihrer Schönheit, und damit spekulirt sie. Sie wirft<lb/> ihre Netze um einen jungen Millionär, den Herrn von Walther, um ihn zu<lb/> erobern und, nach der Trennung vom Gatten, zu heiraten und um mit Hilfe<lb/> seines Reichtums auch eine glänzende gesellschaftliche Rolle zu spielen. Walther<lb/> ist ein Kauz ganz eigner Art. Er ist fünfunddreißig Jahre alt geworden und<lb/> hat nie geliebt; trotz seines Reichtums und seiner Stellung ein schüchterner<lb/> Gelehrter, ein selbstquälerischer Grübler, der die Gesellschaft lieber flieht, um<lb/> einsam zu reisen oder in schöner Landschaft zu schwelgen. Dem berechneten<lb/> Entgegenkommen der Circe Leonie erliegt er wie ein Knabe. Aus dem Taumel<lb/> rettet ihn im rechten Augenblicke sein Freund Holberg, der auch der Freund des<lb/> Dr. Eder ist. Holberg will ihn mit der jungen, schönen und liebenswerten<lb/> Schwester Helene des Arztes verbinden. Walther verlobt sich auch in der<lb/> That mit Helene. Da läßt Leonie die letzten Schranken fallen, als Ehebrecherin<lb/> verführt sie den schwachen Walther, der nunmehr die Braut zu verlassen und<lb/> sie zu heiraten gezwungen ist. Die Ehe aber, so deutet Erwin Balder zum<lb/> Schlüsse an, bringt weder für Leonie noch für Walther Glück. Sie können<lb/> sich auf die Dauer, wie vorauszusehen war, nicht vertragen. Sie zieht daher<lb/> nach Paris, um dort in bunter Gesellschaft ein bewegtes Leben zu führen,<lb/> Walther bleibt auf seinem Landgute in menschenscheuer Abgeschiedenheit. Neben<lb/> diesen zwei Gestalten ist Holberg der interessantere Charakter. Er ist der Typus<lb/> jener Art von Börsenspielern, die nach Balder ironisch als die „wissenschaft¬<lb/> lichen" bezeichnet werden. Holberg will nicht dem launischen Wechsel der Börsen-<lb/> stimmnng besinnungslos preisgegeben sein, er will nicht schlechtweg spielen,<lb/> sondern gesetzmäßig, mit Berechnung. Darum steht er mit Korrespondenten</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0491]
Wiener Litteratur.
in der sittlichen Auffassung, der nicht wegzuleugnen ist, der sich vor unsern
Angen vollzieht. Mit jedem Tage wird diese Strömung mächtiger, reißt immer
mehr Leute in ihrem Wirbel fort, und ich gestehe es, auch ich bin zu schwach,
ihr Widerstand zu leisten."
So weit Leonie, die als Weib nicht besser sein will als die Männer ihrer
Gesellschaft, die auch mit der „Anständigkeit" sich begnügt und einen Vorteil
nicht unbenutzt lassen kann, wenn auch andre die Kosten tragen. Sie ist die
Tochter eines reichen „Gründers," der aber von dem Sturme des großen
Börsenkrachs im Jahre 1873 vernichtet wurde, und seit sieben Jahren die
Gattin eines braven, tüchtigen Mannes, des vielbeschäftigten Arztes Eder in
Wien. Sie hat ihren Mann ans romantischer Neigung geheiratet, obgleich er
damals ein armer Hauslehrer war und sie weit vorteilhaftere Partien hätte
machen können. Der nüchterne Ernst ihres bescheidenen Gatten befriedigt aber
ihren genußsüchtigen Sinn nicht. Sie will glänzen, sie will von sich reden
machen, sie will in allen Dingen als die erste ihres Geschlechts gelten, sie ist
eine geborne Theaterprinzessin, die ihren Beruf verfehlt hat, sie ist unglücklich
darüber, nicht als die geistreiche Dame gelten zu können, die sie ist. Noch
steht sie im vollen Glänze ihrer Schönheit, und damit spekulirt sie. Sie wirft
ihre Netze um einen jungen Millionär, den Herrn von Walther, um ihn zu
erobern und, nach der Trennung vom Gatten, zu heiraten und um mit Hilfe
seines Reichtums auch eine glänzende gesellschaftliche Rolle zu spielen. Walther
ist ein Kauz ganz eigner Art. Er ist fünfunddreißig Jahre alt geworden und
hat nie geliebt; trotz seines Reichtums und seiner Stellung ein schüchterner
Gelehrter, ein selbstquälerischer Grübler, der die Gesellschaft lieber flieht, um
einsam zu reisen oder in schöner Landschaft zu schwelgen. Dem berechneten
Entgegenkommen der Circe Leonie erliegt er wie ein Knabe. Aus dem Taumel
rettet ihn im rechten Augenblicke sein Freund Holberg, der auch der Freund des
Dr. Eder ist. Holberg will ihn mit der jungen, schönen und liebenswerten
Schwester Helene des Arztes verbinden. Walther verlobt sich auch in der
That mit Helene. Da läßt Leonie die letzten Schranken fallen, als Ehebrecherin
verführt sie den schwachen Walther, der nunmehr die Braut zu verlassen und
sie zu heiraten gezwungen ist. Die Ehe aber, so deutet Erwin Balder zum
Schlüsse an, bringt weder für Leonie noch für Walther Glück. Sie können
sich auf die Dauer, wie vorauszusehen war, nicht vertragen. Sie zieht daher
nach Paris, um dort in bunter Gesellschaft ein bewegtes Leben zu führen,
Walther bleibt auf seinem Landgute in menschenscheuer Abgeschiedenheit. Neben
diesen zwei Gestalten ist Holberg der interessantere Charakter. Er ist der Typus
jener Art von Börsenspielern, die nach Balder ironisch als die „wissenschaft¬
lichen" bezeichnet werden. Holberg will nicht dem launischen Wechsel der Börsen-
stimmnng besinnungslos preisgegeben sein, er will nicht schlechtweg spielen,
sondern gesetzmäßig, mit Berechnung. Darum steht er mit Korrespondenten
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