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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Wiener Litteratur.

ausposaunt, wozu auch? aber es wird umsomehr im stille" zugestanden. In
Wien gedeihen selbst die vorhandenen hervorragenden Talente nicht, sie lassen
ihre Bücher im Reich verlegen und müssen dort die Anerkennung suchen, die
sie hier nicht finden. Die Zeitungsstadt, die Stadt der elegantesten und künst¬
lerisch gebildetsten Feuilletonisten, der witzigsten Plauderer, der geschicktesten
Zeitungsmacher, der flinksten Reporter -- ja, das ist Wien geblieben. Aber
das Feuilleton hat die Bücher verdrängt, und alle Litteratur geht in der Jour¬
nalistik auf. Die Zeitungen haben systematisch die Wiener Gesellschaft zur
Gleichgiltigkeit gegen alle höhere litterarische Schöpfung erzogen, die über das
vorübergehende Tagesinteresse und den Prickeluden Reiz der Neuigkeit hinaus¬
geht. Eine Überlieferung, gegen die nicht mehr anzukämpfen ist, hat das
Wiener Volk daran gewöhnt, alle Weisheit in den Zeitungen zu suchen, weil
diese in früheren Jahrzehnten in der That überaus reichhaltig waren und
mancherlei Befriedigung gewährten. Inzwischen aber haben die Tagesblätter
ihr eignes Niveau immer tiefer gelegt. Ihre zahlreichen Sünden, welche das Mi߬
trauen des Publikums weckten, zwangen sie, diesem zu schmeicheln, ihm durch
unterhaltende Lektüre entgegenzukommen, es entstand ein Wetteifer nach "sensatio¬
neller" Darstellung, der immer tiefer nach abwärts führte, und wie tief man
noch sinken wird, ist gar nicht abzusehen. So nimmt mit der Verderbnis der
Zeitungen auch der litterarische Geist in Wien ab. Heutzutage ist für den
Wiener gebildeten Mittelstand das Erscheinen eines Speidelschen Feuilletons
über das Burgtheater, einer Musikkritik von Hanslick noch ein litterarisches
Ereignis, von Büchern wird in Wiener Salons nicht mehr gesprochen, und
selbst dieser letzte Nest litterarischen Interesses nimmt zusehends ab. Viel
Schuld darau tragen die Rezensenten der Wiener Tagesblätter selbst. Sie
haben sich so eng in ihr kliquenhaftes Parteigetriebe eingeschnürt, sie haben sich
nach dem Muster der politischen und nationalökonomischen Journalisten den
Trieb nach Wahrheit so sehr abgewöhnt, daß die Wahrheit auch auf dem
litterarischen Markte nicht geduldet wird. Sie haben sich in engherziger Selbst¬
sucht eine Zensur im eignen Hause geschaffen, die noch weit mehr die Öffent¬
lichkeit bevormundet und auf die Schaffenden noch drückender lasten muß, als
es je die Zensur im Vormärz gethan. Denn auch die litterarische Kritik wird
in Wien vom Geschäftsstandpunkte betrachtet, auch sie ist zum Mittel geworden,
Einkommen zu fördern oder Einkommen zu hemmen, und darum ist sie auch
abgeschmackt geworden. Denn auf keinem Gebiete des öffentlichen Lebens kommt
das Lächerliche dieser Bevormundung selbst dem großen Publikum so rasch und
so unmittelbar zum Bewußtsein, als hier im Gebiete der freiesten Subjektivität,
des mächtigsten Freiheitstriebes: in dem des litterarischen Geschmacks. Man
verzeiht einer Zeitung weit eher die Befürwortung einer neuen Aktie oder die
Unterstützung eines unwillkommenen Gesetzentwurfs, als das falsche Lob einer
offenbar langweiligen Operette, das darauf berechnet ist, für einige Abende das


Wiener Litteratur.

ausposaunt, wozu auch? aber es wird umsomehr im stille» zugestanden. In
Wien gedeihen selbst die vorhandenen hervorragenden Talente nicht, sie lassen
ihre Bücher im Reich verlegen und müssen dort die Anerkennung suchen, die
sie hier nicht finden. Die Zeitungsstadt, die Stadt der elegantesten und künst¬
lerisch gebildetsten Feuilletonisten, der witzigsten Plauderer, der geschicktesten
Zeitungsmacher, der flinksten Reporter — ja, das ist Wien geblieben. Aber
das Feuilleton hat die Bücher verdrängt, und alle Litteratur geht in der Jour¬
nalistik auf. Die Zeitungen haben systematisch die Wiener Gesellschaft zur
Gleichgiltigkeit gegen alle höhere litterarische Schöpfung erzogen, die über das
vorübergehende Tagesinteresse und den Prickeluden Reiz der Neuigkeit hinaus¬
geht. Eine Überlieferung, gegen die nicht mehr anzukämpfen ist, hat das
Wiener Volk daran gewöhnt, alle Weisheit in den Zeitungen zu suchen, weil
diese in früheren Jahrzehnten in der That überaus reichhaltig waren und
mancherlei Befriedigung gewährten. Inzwischen aber haben die Tagesblätter
ihr eignes Niveau immer tiefer gelegt. Ihre zahlreichen Sünden, welche das Mi߬
trauen des Publikums weckten, zwangen sie, diesem zu schmeicheln, ihm durch
unterhaltende Lektüre entgegenzukommen, es entstand ein Wetteifer nach „sensatio¬
neller" Darstellung, der immer tiefer nach abwärts führte, und wie tief man
noch sinken wird, ist gar nicht abzusehen. So nimmt mit der Verderbnis der
Zeitungen auch der litterarische Geist in Wien ab. Heutzutage ist für den
Wiener gebildeten Mittelstand das Erscheinen eines Speidelschen Feuilletons
über das Burgtheater, einer Musikkritik von Hanslick noch ein litterarisches
Ereignis, von Büchern wird in Wiener Salons nicht mehr gesprochen, und
selbst dieser letzte Nest litterarischen Interesses nimmt zusehends ab. Viel
Schuld darau tragen die Rezensenten der Wiener Tagesblätter selbst. Sie
haben sich so eng in ihr kliquenhaftes Parteigetriebe eingeschnürt, sie haben sich
nach dem Muster der politischen und nationalökonomischen Journalisten den
Trieb nach Wahrheit so sehr abgewöhnt, daß die Wahrheit auch auf dem
litterarischen Markte nicht geduldet wird. Sie haben sich in engherziger Selbst¬
sucht eine Zensur im eignen Hause geschaffen, die noch weit mehr die Öffent¬
lichkeit bevormundet und auf die Schaffenden noch drückender lasten muß, als
es je die Zensur im Vormärz gethan. Denn auch die litterarische Kritik wird
in Wien vom Geschäftsstandpunkte betrachtet, auch sie ist zum Mittel geworden,
Einkommen zu fördern oder Einkommen zu hemmen, und darum ist sie auch
abgeschmackt geworden. Denn auf keinem Gebiete des öffentlichen Lebens kommt
das Lächerliche dieser Bevormundung selbst dem großen Publikum so rasch und
so unmittelbar zum Bewußtsein, als hier im Gebiete der freiesten Subjektivität,
des mächtigsten Freiheitstriebes: in dem des litterarischen Geschmacks. Man
verzeiht einer Zeitung weit eher die Befürwortung einer neuen Aktie oder die
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[0487] Wiener Litteratur. ausposaunt, wozu auch? aber es wird umsomehr im stille» zugestanden. In Wien gedeihen selbst die vorhandenen hervorragenden Talente nicht, sie lassen ihre Bücher im Reich verlegen und müssen dort die Anerkennung suchen, die sie hier nicht finden. Die Zeitungsstadt, die Stadt der elegantesten und künst¬ lerisch gebildetsten Feuilletonisten, der witzigsten Plauderer, der geschicktesten Zeitungsmacher, der flinksten Reporter — ja, das ist Wien geblieben. Aber das Feuilleton hat die Bücher verdrängt, und alle Litteratur geht in der Jour¬ nalistik auf. Die Zeitungen haben systematisch die Wiener Gesellschaft zur Gleichgiltigkeit gegen alle höhere litterarische Schöpfung erzogen, die über das vorübergehende Tagesinteresse und den Prickeluden Reiz der Neuigkeit hinaus¬ geht. Eine Überlieferung, gegen die nicht mehr anzukämpfen ist, hat das Wiener Volk daran gewöhnt, alle Weisheit in den Zeitungen zu suchen, weil diese in früheren Jahrzehnten in der That überaus reichhaltig waren und mancherlei Befriedigung gewährten. Inzwischen aber haben die Tagesblätter ihr eignes Niveau immer tiefer gelegt. Ihre zahlreichen Sünden, welche das Mi߬ trauen des Publikums weckten, zwangen sie, diesem zu schmeicheln, ihm durch unterhaltende Lektüre entgegenzukommen, es entstand ein Wetteifer nach „sensatio¬ neller" Darstellung, der immer tiefer nach abwärts führte, und wie tief man noch sinken wird, ist gar nicht abzusehen. So nimmt mit der Verderbnis der Zeitungen auch der litterarische Geist in Wien ab. Heutzutage ist für den Wiener gebildeten Mittelstand das Erscheinen eines Speidelschen Feuilletons über das Burgtheater, einer Musikkritik von Hanslick noch ein litterarisches Ereignis, von Büchern wird in Wiener Salons nicht mehr gesprochen, und selbst dieser letzte Nest litterarischen Interesses nimmt zusehends ab. Viel Schuld darau tragen die Rezensenten der Wiener Tagesblätter selbst. Sie haben sich so eng in ihr kliquenhaftes Parteigetriebe eingeschnürt, sie haben sich nach dem Muster der politischen und nationalökonomischen Journalisten den Trieb nach Wahrheit so sehr abgewöhnt, daß die Wahrheit auch auf dem litterarischen Markte nicht geduldet wird. Sie haben sich in engherziger Selbst¬ sucht eine Zensur im eignen Hause geschaffen, die noch weit mehr die Öffent¬ lichkeit bevormundet und auf die Schaffenden noch drückender lasten muß, als es je die Zensur im Vormärz gethan. Denn auch die litterarische Kritik wird in Wien vom Geschäftsstandpunkte betrachtet, auch sie ist zum Mittel geworden, Einkommen zu fördern oder Einkommen zu hemmen, und darum ist sie auch abgeschmackt geworden. Denn auf keinem Gebiete des öffentlichen Lebens kommt das Lächerliche dieser Bevormundung selbst dem großen Publikum so rasch und so unmittelbar zum Bewußtsein, als hier im Gebiete der freiesten Subjektivität, des mächtigsten Freiheitstriebes: in dem des litterarischen Geschmacks. Man verzeiht einer Zeitung weit eher die Befürwortung einer neuen Aktie oder die Unterstützung eines unwillkommenen Gesetzentwurfs, als das falsche Lob einer offenbar langweiligen Operette, das darauf berechnet ist, für einige Abende das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/487>, abgerufen am 01.09.2024.