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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Amerikanisches Eisenbahnwesen.

Berechnungen werden jedoch meist ohne den Wirt gemacht. Statt um sechs Uhr
trafen wir erst gegen zehn Uhr abends in Colorado springs ein; mit der
Abendpromenade war es also vorbei, und ich mußte mein Programm auf den
folgenden Tag zusammenpressen. Selbstverständlich ließ sich dies ohne Stra¬
pazen nicht gut erledigen, und als ich gegen sechs Uhr dem Bahnhofe wieder
zueilte, war es mein fester Vorsatz, in Denver, wo wir um neun Uhr abends
eintreffen sollten, einen langen Schlaf zu thun, um neu gestärkt mit dem
Morgenzuge die große Tour nach Se. Louis anzutreten. Wer beschreibt aber
mein Erstaunen, als ich am Bahnhofe weit und breit keinen Zug, auch keinerlei
Empfangsvorbereitungeu dazu erspähen konnte. Auf meine Frage erhielt ich
den erbaulichen Bescheid: Einige Stunden Verspätung! und den wohlmeinenden
Rat, um zehn Uhr wieder vorzusprechen. Der Grund der Verspätung war,
wie schon öfters, starker Güterverkehr mit Früchten auf der Zentral-Pacificbahn,
und da der Gütertransport mehr einbringt als die Personenbeförderung, so
mußte unser Schnellzug natürlich zurückstehen. Inzwischen war es bereits
dunkel geworden, und so suchte ich wieder mein Hotel auf, um die Zeit so gut
es ging dort hinzubringen. Als ich nach vier langen Stunden zum Bahn,
Hofe, einer elenden Bretterbaracke, zurückkehrte, fand ich das einzige sogenannte
Wartezimmer von einer buntscheckigen Gesellschaft bereits stark besetzt, darunter
einer größern Familie, die mit einer Menge kleiner und kleinster Kinder.schon
seit sechs Uhr auf den unbequemen Holzbauten kampirte. Die Atmosphäre war
nicht die beste, die Beleuchtung jammervoll und der Ofen trotz der empfind¬
lichen Nachtkälte nicht einmal angezündet, obwohl die am andern Ende der
Bude gelegene "Amtsstube" ganz behaglich erwärmt war. Trotzdem hörte ich
keinerlei Klage, sondern alles wartete mit Gleichmut des Zuges, der da
kommen sollte. Erst gegen Mitternacht wurden die Harrenden erlöst. Um
drei Uhr morgens endlich kamen wir bei wenig Graden über Null in Denver
an, gänzlich durchfroren, und die meisten hungrig und durstig. Da der Bahnhof
und die Wartesäle noch in unheimlicher Dunkelheit dalagen, wandte ich mich
an den Bahnhofsvorsteher mit der bescheidenen Frage, ob man nicht eine
Kleinigkeit zu essen oder wenigstens eine Tasse warmen Kaffee bekommen
könnte. Ich erhielt jedoch eine Antwort, die ich nicht im entferntesten geahnt
hatte und die ungefähr dahin lautete, das Reisepublikum könnte nicht ver¬
langen, daß seinetwegen die Restauration nachtsüber offen bliebe; wenn die
Reisenden nicht fahrplanmäßig eintrafen, so wäre das ihre Sache, das Bahn¬
hofspersonal ginge das nichts an! Dieser Standpunkt war mir so verblüffend
neu, daß mir jede Entgegnung im Munde stecken blieb. Erst verspätet sich
der Zug durch die Schuld der Bahnverwaltung, man wird zu einem viel-
stündigen Warten in elendem Raume, darauf zu einem abermals dreistündigen
Aufenthalt verurteilt, die ganze Nachtruhe ist zum Teufel, und dann darf man
nicht einmal Anspruch auf eine Taste Kaffee machen, die bei uns auch die


Amerikanisches Eisenbahnwesen.

Berechnungen werden jedoch meist ohne den Wirt gemacht. Statt um sechs Uhr
trafen wir erst gegen zehn Uhr abends in Colorado springs ein; mit der
Abendpromenade war es also vorbei, und ich mußte mein Programm auf den
folgenden Tag zusammenpressen. Selbstverständlich ließ sich dies ohne Stra¬
pazen nicht gut erledigen, und als ich gegen sechs Uhr dem Bahnhofe wieder
zueilte, war es mein fester Vorsatz, in Denver, wo wir um neun Uhr abends
eintreffen sollten, einen langen Schlaf zu thun, um neu gestärkt mit dem
Morgenzuge die große Tour nach Se. Louis anzutreten. Wer beschreibt aber
mein Erstaunen, als ich am Bahnhofe weit und breit keinen Zug, auch keinerlei
Empfangsvorbereitungeu dazu erspähen konnte. Auf meine Frage erhielt ich
den erbaulichen Bescheid: Einige Stunden Verspätung! und den wohlmeinenden
Rat, um zehn Uhr wieder vorzusprechen. Der Grund der Verspätung war,
wie schon öfters, starker Güterverkehr mit Früchten auf der Zentral-Pacificbahn,
und da der Gütertransport mehr einbringt als die Personenbeförderung, so
mußte unser Schnellzug natürlich zurückstehen. Inzwischen war es bereits
dunkel geworden, und so suchte ich wieder mein Hotel auf, um die Zeit so gut
es ging dort hinzubringen. Als ich nach vier langen Stunden zum Bahn,
Hofe, einer elenden Bretterbaracke, zurückkehrte, fand ich das einzige sogenannte
Wartezimmer von einer buntscheckigen Gesellschaft bereits stark besetzt, darunter
einer größern Familie, die mit einer Menge kleiner und kleinster Kinder.schon
seit sechs Uhr auf den unbequemen Holzbauten kampirte. Die Atmosphäre war
nicht die beste, die Beleuchtung jammervoll und der Ofen trotz der empfind¬
lichen Nachtkälte nicht einmal angezündet, obwohl die am andern Ende der
Bude gelegene „Amtsstube" ganz behaglich erwärmt war. Trotzdem hörte ich
keinerlei Klage, sondern alles wartete mit Gleichmut des Zuges, der da
kommen sollte. Erst gegen Mitternacht wurden die Harrenden erlöst. Um
drei Uhr morgens endlich kamen wir bei wenig Graden über Null in Denver
an, gänzlich durchfroren, und die meisten hungrig und durstig. Da der Bahnhof
und die Wartesäle noch in unheimlicher Dunkelheit dalagen, wandte ich mich
an den Bahnhofsvorsteher mit der bescheidenen Frage, ob man nicht eine
Kleinigkeit zu essen oder wenigstens eine Tasse warmen Kaffee bekommen
könnte. Ich erhielt jedoch eine Antwort, die ich nicht im entferntesten geahnt
hatte und die ungefähr dahin lautete, das Reisepublikum könnte nicht ver¬
langen, daß seinetwegen die Restauration nachtsüber offen bliebe; wenn die
Reisenden nicht fahrplanmäßig eintrafen, so wäre das ihre Sache, das Bahn¬
hofspersonal ginge das nichts an! Dieser Standpunkt war mir so verblüffend
neu, daß mir jede Entgegnung im Munde stecken blieb. Erst verspätet sich
der Zug durch die Schuld der Bahnverwaltung, man wird zu einem viel-
stündigen Warten in elendem Raume, darauf zu einem abermals dreistündigen
Aufenthalt verurteilt, die ganze Nachtruhe ist zum Teufel, und dann darf man
nicht einmal Anspruch auf eine Taste Kaffee machen, die bei uns auch die


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[0469] Amerikanisches Eisenbahnwesen. Berechnungen werden jedoch meist ohne den Wirt gemacht. Statt um sechs Uhr trafen wir erst gegen zehn Uhr abends in Colorado springs ein; mit der Abendpromenade war es also vorbei, und ich mußte mein Programm auf den folgenden Tag zusammenpressen. Selbstverständlich ließ sich dies ohne Stra¬ pazen nicht gut erledigen, und als ich gegen sechs Uhr dem Bahnhofe wieder zueilte, war es mein fester Vorsatz, in Denver, wo wir um neun Uhr abends eintreffen sollten, einen langen Schlaf zu thun, um neu gestärkt mit dem Morgenzuge die große Tour nach Se. Louis anzutreten. Wer beschreibt aber mein Erstaunen, als ich am Bahnhofe weit und breit keinen Zug, auch keinerlei Empfangsvorbereitungeu dazu erspähen konnte. Auf meine Frage erhielt ich den erbaulichen Bescheid: Einige Stunden Verspätung! und den wohlmeinenden Rat, um zehn Uhr wieder vorzusprechen. Der Grund der Verspätung war, wie schon öfters, starker Güterverkehr mit Früchten auf der Zentral-Pacificbahn, und da der Gütertransport mehr einbringt als die Personenbeförderung, so mußte unser Schnellzug natürlich zurückstehen. Inzwischen war es bereits dunkel geworden, und so suchte ich wieder mein Hotel auf, um die Zeit so gut es ging dort hinzubringen. Als ich nach vier langen Stunden zum Bahn, Hofe, einer elenden Bretterbaracke, zurückkehrte, fand ich das einzige sogenannte Wartezimmer von einer buntscheckigen Gesellschaft bereits stark besetzt, darunter einer größern Familie, die mit einer Menge kleiner und kleinster Kinder.schon seit sechs Uhr auf den unbequemen Holzbauten kampirte. Die Atmosphäre war nicht die beste, die Beleuchtung jammervoll und der Ofen trotz der empfind¬ lichen Nachtkälte nicht einmal angezündet, obwohl die am andern Ende der Bude gelegene „Amtsstube" ganz behaglich erwärmt war. Trotzdem hörte ich keinerlei Klage, sondern alles wartete mit Gleichmut des Zuges, der da kommen sollte. Erst gegen Mitternacht wurden die Harrenden erlöst. Um drei Uhr morgens endlich kamen wir bei wenig Graden über Null in Denver an, gänzlich durchfroren, und die meisten hungrig und durstig. Da der Bahnhof und die Wartesäle noch in unheimlicher Dunkelheit dalagen, wandte ich mich an den Bahnhofsvorsteher mit der bescheidenen Frage, ob man nicht eine Kleinigkeit zu essen oder wenigstens eine Tasse warmen Kaffee bekommen könnte. Ich erhielt jedoch eine Antwort, die ich nicht im entferntesten geahnt hatte und die ungefähr dahin lautete, das Reisepublikum könnte nicht ver¬ langen, daß seinetwegen die Restauration nachtsüber offen bliebe; wenn die Reisenden nicht fahrplanmäßig eintrafen, so wäre das ihre Sache, das Bahn¬ hofspersonal ginge das nichts an! Dieser Standpunkt war mir so verblüffend neu, daß mir jede Entgegnung im Munde stecken blieb. Erst verspätet sich der Zug durch die Schuld der Bahnverwaltung, man wird zu einem viel- stündigen Warten in elendem Raume, darauf zu einem abermals dreistündigen Aufenthalt verurteilt, die ganze Nachtruhe ist zum Teufel, und dann darf man nicht einmal Anspruch auf eine Taste Kaffee machen, die bei uns auch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/469>, abgerufen am 28.07.2024.