Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.England in Angst. der öffentlichen Meinung des Landes und seiner Vertretung so sehr an Boden, England in Angst. der öffentlichen Meinung des Landes und seiner Vertretung so sehr an Boden, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0463" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203240"/> <fw type="header" place="top"> England in Angst.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1471" prev="#ID_1470" next="#ID_1472"> der öffentlichen Meinung des Landes und seiner Vertretung so sehr an Boden,<lb/> daß noch nie eine Stimme laut geworden ist, die etwas der Art ernstlich zu<lb/> empfehlen gewagt hätte. Es wäre geradezu etwas ungeheuerliches, etwas gegen<lb/> alles Denken und Empfinden der Nation verstoßendes gewesen, die dem mili¬<lb/> tärischen Wesen überhaupt abhold ist und die Armee nur als notwendiges Übel<lb/> ansieht, mit dem man sich notdürftig abzufinden hat. Alles, was in dieser Be¬<lb/> ziehung jetzt gewünscht und befürwortet wird, trägt einen laienhaften Charakter.<lb/> Man begreift nicht den hohen moralischen Wert, den ein nach richtigen Grund¬<lb/> sätzen eingerichtetes Volksheer hat. Man hat keine Ahnung davon, daß es eine<lb/> Schule des Gehorsams, der höchsten militärischen Tugend ist. Man hat aus<lb/> der angeblichen „Schlacht bei Dorking," so viel Aufsehen sie machte, und aus<lb/> den wirklichen Niederlagen der amerikanischen Milizen im Sezessionskriege nicht<lb/> gelernt, daß diese Truppen regulären Soldaten niemals gewachsen sein, niemals<lb/> die Übung und den Halt von solchen haben können. Und wo man das ahnt,<lb/> sträubt man sich gegen die Wahrheit und redet sich in Hitze gegen den „Mili¬<lb/> tarismus," der die Freiheit des Landes bedrohen soll. Daran würde allerdings<lb/> etwas Wahres sein, wenn der Parlamentarismus, die Herrschaft der Parteien,<lb/> von denen heute die eine, morgen die andre obenauf ist und das Staatsruder<lb/> dreht, gleichbedeutend mit der wahren Freiheit wäre. Das Militär soll eine<lb/> Einrichtung sein, welche jederzeit von den Bewilligungen der Volksvertretung<lb/> abhängt, und es ist das seit zwei Jahrhunderten auch so gehalten worden und<lb/> sogar in der Mutiny Bill gesetzlich ausgeprägt. Die Regierung soll im Heere<lb/> kein starkes und stehendes Werkzeug zur Ausführung ihres Willens haben; denn<lb/> sie könnte es einmal zur Schmälerung der Macht des Parlaments benutzen.<lb/> Das letztere muß sein Steuerbewilligungsrecht auch auf dieses Gebiet erstrecken;<lb/> denn es hält damit die Regierung, die auch in England von dem herrschenden<lb/> Liberalismus als ein gefährliches, möglichst einzuschränkendes und kurzzuhaltendes<lb/> Wesen angesehen und behandelt wird, weil — je nun, weil sie eben regiert, an<lb/> der Kette, und es kann sich damit beim Volke durch Sparsamkeit empfehlen<lb/> und, was der nächste Gedanke ist, davon Erneuerung seiner Mandate hoffen.<lb/> Die allgemeine Wehrpflicht würde den Geist strammen Gehorsams über weite<lb/> Kreise des Volkes verbreiten, sie würde Einrichtungen im Gefolge haben, die<lb/> sich nicht wohl mit den bisherigen Gewohnheiten und Befugnissen des Engländers<lb/> vertragen und noch weniger mit seinen Einbildungen und Vorurteilen. Man<lb/> wird daher ihre Einführung so lange verzögern, als es gehen will. Sehr lange<lb/> wird das freilich nicht mehr gehen, und das Volk und seine Führer werden sich<lb/> bald allen Ernstes vor die Frage gestellt sehen, ob das, worin sie die Freiheit<lb/> im Innern erblicken, mehr wert ist als die Freiheit gegenüber ausländischen<lb/> Mächten und. was John Bull Wohl noch höher schätzen wird, der mit dieser<lb/> Freiheit und Unabhängigkeit verbundene materielle Besitz. England hat auf dem<lb/> europäischen Festlande infolge seiner selbstsüchtigen Politik wenig Freunde und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0463]
England in Angst.
der öffentlichen Meinung des Landes und seiner Vertretung so sehr an Boden,
daß noch nie eine Stimme laut geworden ist, die etwas der Art ernstlich zu
empfehlen gewagt hätte. Es wäre geradezu etwas ungeheuerliches, etwas gegen
alles Denken und Empfinden der Nation verstoßendes gewesen, die dem mili¬
tärischen Wesen überhaupt abhold ist und die Armee nur als notwendiges Übel
ansieht, mit dem man sich notdürftig abzufinden hat. Alles, was in dieser Be¬
ziehung jetzt gewünscht und befürwortet wird, trägt einen laienhaften Charakter.
Man begreift nicht den hohen moralischen Wert, den ein nach richtigen Grund¬
sätzen eingerichtetes Volksheer hat. Man hat keine Ahnung davon, daß es eine
Schule des Gehorsams, der höchsten militärischen Tugend ist. Man hat aus
der angeblichen „Schlacht bei Dorking," so viel Aufsehen sie machte, und aus
den wirklichen Niederlagen der amerikanischen Milizen im Sezessionskriege nicht
gelernt, daß diese Truppen regulären Soldaten niemals gewachsen sein, niemals
die Übung und den Halt von solchen haben können. Und wo man das ahnt,
sträubt man sich gegen die Wahrheit und redet sich in Hitze gegen den „Mili¬
tarismus," der die Freiheit des Landes bedrohen soll. Daran würde allerdings
etwas Wahres sein, wenn der Parlamentarismus, die Herrschaft der Parteien,
von denen heute die eine, morgen die andre obenauf ist und das Staatsruder
dreht, gleichbedeutend mit der wahren Freiheit wäre. Das Militär soll eine
Einrichtung sein, welche jederzeit von den Bewilligungen der Volksvertretung
abhängt, und es ist das seit zwei Jahrhunderten auch so gehalten worden und
sogar in der Mutiny Bill gesetzlich ausgeprägt. Die Regierung soll im Heere
kein starkes und stehendes Werkzeug zur Ausführung ihres Willens haben; denn
sie könnte es einmal zur Schmälerung der Macht des Parlaments benutzen.
Das letztere muß sein Steuerbewilligungsrecht auch auf dieses Gebiet erstrecken;
denn es hält damit die Regierung, die auch in England von dem herrschenden
Liberalismus als ein gefährliches, möglichst einzuschränkendes und kurzzuhaltendes
Wesen angesehen und behandelt wird, weil — je nun, weil sie eben regiert, an
der Kette, und es kann sich damit beim Volke durch Sparsamkeit empfehlen
und, was der nächste Gedanke ist, davon Erneuerung seiner Mandate hoffen.
Die allgemeine Wehrpflicht würde den Geist strammen Gehorsams über weite
Kreise des Volkes verbreiten, sie würde Einrichtungen im Gefolge haben, die
sich nicht wohl mit den bisherigen Gewohnheiten und Befugnissen des Engländers
vertragen und noch weniger mit seinen Einbildungen und Vorurteilen. Man
wird daher ihre Einführung so lange verzögern, als es gehen will. Sehr lange
wird das freilich nicht mehr gehen, und das Volk und seine Führer werden sich
bald allen Ernstes vor die Frage gestellt sehen, ob das, worin sie die Freiheit
im Innern erblicken, mehr wert ist als die Freiheit gegenüber ausländischen
Mächten und. was John Bull Wohl noch höher schätzen wird, der mit dieser
Freiheit und Unabhängigkeit verbundene materielle Besitz. England hat auf dem
europäischen Festlande infolge seiner selbstsüchtigen Politik wenig Freunde und
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